"Für alle menschlichen Kulturen ist das Opfer zentral, auch wenn es heute im säkularen Westen ganz und gar nicht danach aussieht. Man muss sich vor Augen halten, worin der Sinn des Opfers besteht – nämlich darin, mit dem Unsichtbaren in Verbindung zu treten, mit dem Unbekannten, kurz: mit Mächten, die jenseits der sozialen Ordnung wirksam sind, mit Geistern und Göttern. Die Logik des Opfers beruht auf einem Tauschverhältnis – und das haben wir bis heute beispielsweise im Zahlungsverkehr, wo es von Politikerseite gern heißt, dass der Bürger "Opfer" bringen müsse. Noch in diesen Worten drückt sich aus, dass wir ahnen, dass die Welt auf einem Austausch von Energien beruht. Grund eines jeden Lebens ist das Opfer, auch wenn das Leben selbst nichts davon weiß, dass es Opfer ist. Opfer ist heute durch Konsum ersetzt – und die Praktiken des "opferns" sind verschwunden, aber seine Semantik ist noch allgegenwärtig. Der heilige Ort jeder Kultur ist immer der Opferplatz gewesen - und ist es auch heute noch, wirft man einen Blick aus dem Fenster auf die Banktürme.
"Nicht nur hoch gelegen soll dieser Platz sein, sondern auch eben; und nicht nur eben soll er sein, sondern auch fest; und nicht nur fest soll er sein, sondern auch nach Osten abfallend, denn der Osten ist die Richtung der Götter; andernfalls sollte er nach Norden geneigt sein, denn der Norden ist die Richtung der Menschen. Nach Süden muss er leicht erhöht sein, denn dies ist die Richtung der Vorfahren. Wenn er nach Süden abfiele, würde der Opferherr sich bald in die Welt drüben begeben; so aber lebt der Opferherr lange: Darum sei der Platz leicht nach Süden erhöht."
Ein Zitat aus den Veden - Schriften, die in Hymnen, Mythen und Anweisungen um die einfache und geheimnisvolle Tatsache kreisen, dass der Mensch ein Bewusstsein hat.
Der italienische Verleger und Essayist Roberto Calasso beschäftigt sich in seinem jüngsten, im Original 2012 publizierten Werk mit dem Titel "Die Glut" mit der vedischen Kultur – einer rätselhaften Kultur, die keine Ruinen oder Kunstwerke hinterlassen hat, sondern lediglich schriftliche Zeugnisse ihres geistigen Kosmos. Darin sieht der Autor auch den Grund, weshalb das vedische Indien gegenüber den altägyptischen oder sumerischen Kulturen von den Kulturwissenschaften bislang vernachlässigt worden ist.
Der Titel "Die Glut" bezieht sich auf tapas, jener schöpferischen und asketische Hitze oder Glut, aus der gemäß den Veden das Universum entstanden sein soll und auf die sich die Rituale, die in den vedischen Schriften gesammelt sind, beziehen.
Vor 3.000 Jahren blühte die Kultur des vedischen Indien. Veda bedeutet wörtlich Wissen. Als Veden bezeichnet man die Sammlung zunächst mündlich überlieferter, später aufgezeichneter religiös-ritueller Texte, die im Hinduismus eine bedeutende Rolle spielen. Obwohl ein Abgrund die Gegenwart Indiens ebenso wie die des Westens von der vedischen Kultur trennt, werden deren Mantras heute immer noch aufgesagt und angestimmt, manchmal sogar an denselben Orten, an denen sie einst entstanden sind, obwohl man von ihren Ursprüngen kaum mehr etwas weiß. In der Tradition der vedischen Gesänge ist die exakte Rezitation von besonderer Wichtigkeit. Darin haben wir auch den Grund, dass sie mit größter Genauigkeit an uns überliefert sind. Im vedischen Indien war das Opfer wie das Atmen – Ausdruck eines kosmischen Stoffwechselprozesses, einer unaufhörlichen Zirkulation zwischen Himmel und Erde, die ihren Ausdruck findet im ...
"Atmen, Schlucken, Koitieren, Abschneiden, Töten, Ausscheiden, Sprechen, Verbrennen, Ausgießen, Denken, Träumen, Betrachten – und noch manch anderes."
Man muss das Opfer folglich als physiologischen Austausch interpretieren. Die vedische Kultur stand ganz im Bann des Opfers. In ihrer Welt geschah nichts ohne Opfer – selbst die Sonne wäre in den Augen der alten Inder nicht mehr aufgegangen, wenn man diese nicht im täglichen Opfer auferstehen gelassen hätte. Die Welt als allumfassende Opferwerkstatt.
Der Autor Calasso betrachtet seinen Essay "Die Glut" als Perspektivverschiebung, als ungeduldigen und ironischen Kommentar zur Gegenwart und ihrem Konsumismus, der all die intellektuellen und habituellen Routinen infrage stellt bei dem,
"... der nicht völlig im Bann dessen steht, was ihn umgibt."
Für einen durch und durch kultivierten und dem Deuten leidenschaftlich ergebenen Menschen wie Roberto Calasso ist das eine bemerkenswerte Aussage – womöglich eine persönliche Therapie gegenüber dem kulturellen Establishment, dem er als Leiter des Adelphi-Verlags, als Übersetzer und Essayist natürlich angehört. Calassos erste Essays galten Adorno, Karl Kraus und Nietzsche – lauter Vertretern einer hochreflektierten Schriftkultur. Doch nun, nach einem der Kultur und dem Kulturbetrieb gewidmeten Leben, scheint er der Wut des Verstehens und den Wegerklärern etwas entgegensetzen, das Schreiben unbedingt in ein Seinkönnen verwandeln zu wollen.
"Ya evam veda, 'der, der so weiß', ist eine im Veda stets wiederkehrende Formel. Vor allem anderem lag offenbar das Wissen – und zwar das Wissen in einer bestimmten Weise, so, im Unterschied zu jedem anderen Wissen, den vedischen Menschen am Herzen. Die Macht, die Eroberung, das Vergnügen erschienen als untergeordnete Elemente, die zum Wissen gehörten, es aber keinesfalls verdrängen konnten ... Sie praktizierten die Unterscheidungen der Geister – wie sich viele Jahrhunderte später ein westlicher Mystiker ausdrücken würde – mit einer Sicherheit und einem Scharfsinn, die verblüfften und jeden Übersetzungsversuch unbeholfen erscheinen lassen. Was bedeutet dhi? Intensiver Gedanke, Vision, Inspiration, Meditation, Gebet, Kontemplation? All dies, von Fall zu Fall. Stets aber bleib die Voraussetzung gleich: der Vorrang der Erkenntnis vor jedem anderen Heilsweg."
Calasso vergleicht die vedische Welt mit einem Fahnenmeer – einem Meer an Symbolen. Für das Satapatha Brahmana– das Geheimnis der hundert Pfade, eine Sammlung über die vedischen Rituale, die auf das achte Jahrhundert vor Christus zurückgeht und aus acht Büchern besteht, die in der englischen Übersetzung zweieinhalb Tausend Seiten umfassen – setzt sich die Welt ausschließlich aus Religiösem zusammen, aus Geistigem, das alles durchdringt, gewollte und zufällige, gewichtige und unscheinbare Handlungen. Überall entdecken die Texte Korrespondenzen, Analogien, ist das Sichtbare Abbild des Unsichtbaren, spiegelt sich das Oben im Unten und das Hinten im Vorne. Baudelaire hat die Korrespondenz als mystische Religion bezeichnet.
Gemäß der vedischen Anschauung muss die sichtbare Welt in all ihren Teilen als gegenüber dem kosmischen Stoffwechsel symbolhaft verstanden werden, als etwas, das nur aus Hinweisen auf das Gegenüber besteht, als ein Ort, in dem alles bloßer Teil ist eines gigantischen rituellen Kosmos. In unserer heutigen säkularen Gesellschaft haben wir keine Riten mehr. Sie sind zu Gewohnheiten verkommen, zu Verfahren geschrumpft.
Calasso schreibt: "Das Satapatha Brahmana ist ein starkes Gegengift zur heutigen Existenz. Es ist ein Traktat, der zeigt, wie man ein Leben führen kann, das allein darauf abzielt, in eine andere Ordnung der Dinge überzugehen, die der Text sich nicht scheut, Wahrheit zu nennen. Ein Leben, in dem es sich nicht leben lässt, denn es erschöpft sich fast ganz in der Anstrengung des Übergangs. Aber doch ein Leben, das einige Menschen in fernen Zeiten ausprobiert haben – und von dem sie Zeugnis ablegen wollten."
Calasso erzählt im Nachwort, dass "Die Glut" aus dem unbedachten Vorsatz entstanden sei, einen Kommentar zu eben diesem vedischen Traktat namens Satapatha Brahmana zu schreiben. Fünfzehn Jahre zuvor hatte er seinen Essay Ka– Geschichte von Indiens Göttern verfasst, in dem er schon einmal hinduistischen Motiven nachging und ihr Geheimnis zu lüften versuchte. Für den italienischen Verleger liegt die Glut und die vedische Kultur außerhalb jeder begrifflichen Systematik und Rationalität. Sein Essay ist der Versuch, in immer neuen, teils romanhaften Anläufen und Varianten die unlösbaren Schwierigkeiten, wie er selbst sagt, zu durchdenken. Für jeden Leser, der sich auf den Autor einlässt, ohne dessen Gedanken und Schlussfolgerungen sklavisch folgen zu müssen, ein geistiges Abenteuer.