"Der Traum ist aus, der Traum ist aus, aber ich werde alles geben, dass er Wirklichkeit wird."
Es war so etwas wie Rio Reisers Lebensmotto: der Traum von einer gerechten Welt. Als er am 20. August 1996 völlig überraschend mit gerade 46 Jahren nach einer kräftezehrenden Solotour an Herzversagen starb, verlor die deutsche Rockmusik ihre prägende Figur.
"… in jeder Stadt und in jedem Land schreibt die Parole an jede Wand"
Seine verwaschene, rotzig-raue Stimme, seine barfüßigen, ekstatischen Bühnenshows und seine frechen Texte hatten ihn seit Beginn der 1970er-Jahre neben Udo Lindenberg zum Vorreiter deutschsprachigen Rocks und zur musikalischen Identifikationsfigur der linken Szene gemacht.
"… Keine Macht für Niemand, keine Macht für Niemand!"
"Ton Steine Scherben" waren schlagartig in aller Munde
Rio Reiser wurde als Ralph Christian Möbius am 9. Januar 1950 in Berlin geboren, lehnte schon früh jede Form von Autorität ab, schmiss die Schule und lernte lieber als Autodidakt Klavier, Cello und Gitarre. Mit 17 zog er zu seinen älteren Brüdern in eine Berliner WG, um in einem Anfall von naiver Selbstüberschätzung mit ihnen eine Rockoper zu komponieren:
"Ich wundere mich auch manchmal, was für eine Frechheit ich da hatte, auch Journalisten gegenüber und so. Aber einfach so ein gesunder Schuss Größenwahn und mit dem 'For Fun' war dabei, dass es uns auch scheißegal war, wenn es in die Hose geht."
Es ging gehörig in die Hose. Nach elf Tagen wurde die Oper im Theater des Westens abgesetzt. Doch für den jungen Ralph war fortan klar, wohin die Reise geht. Nach einer Romanfigur des 18. Jahrhunderts taufte er sich in Rio Reiser um und gründete 1970 mit ein paar Freunden die Band Ton Steine Scherben. Noch im selben Jahr traten sie bei einem total verregneten Open-Air-Festival auf der Insel Fehmarn auf: Zugkräftige Stars hatten abgesagt, die Veranstalter waren mit der Tageskasse getürmt, Besucher versanken im Schlamm und die Helfer warteten vergeblich auf Entlohnung. Deren ganze Wut und Frust entluden sich während Ton Steine Scherben als letzte Band auf der Bühne standen:
"Macht kaputt was euch kaputt macht"
Bald darauf gingen Organisationsbüro und Bühne in Flammen auf. Das Festival endete abrupt im Chaos und "Ton Steine Scherben" waren schlagartig in aller Munde. Mit ihren authentischen Politsongs lieferten sie von nun an den passenden Soundtrack zu den antiautoritären Gründerjahren der Republik und ihren ersten Hausbesetzungen.
1982 stieß Claudia Roth als Managerin zu der Gruppe
"Und wir schreien's laut: Ihr kriegt uns hier nicht raus! Das ist unser Haus, schmeißt doch endlich Schmidt und Press und Mosch aus Kreuzberg raus."
Von der linken Szene massiv vereinnahmt und von erfolgreichen aber finanziell desaströsen Tourneen gezeichnet - das Publikum sah die Konzerte am liebsten umsonst - zog sich die Band Mitte der 70er-Jahre auf eine Bauernhof-Kommune in Nordfriesland zurück. An der Tür zu Rio Reiser Zimmer stand "Autonome Republik Tutti Frutti":
"Ich bin mein eigener Außenminister, mein eigener Kanzler, mein eigener König und so weiter. Ich finde eigentlich, dass jeder seine eigene Republik machen müsste. Dann müsste man nämlich seine Außenpolitik auch besser überdenken. Die Innenpolitik natürlich auch."
Reiser debütierte als Schauspieler, schrieb Texte für Theatergruppen, engagierte sich für das Schwulen-Theater "Brühwarm"und ließ sich aus Geldmangel auch zu Wahlkampf-Songs für die SPD hinreißen, was ihm viele seiner Fans verübelten. Und er wollte mehr als nur Politsongs schreiben. 1982 stieß die spätere Grünen-Vorsitzende Claudia Roth als Managerin zu der Gruppe:
"Das habe ich von Rio auch gelernt: Dass es gar nicht darum geht, platt Agitprop zu machen, sondern dass das Private in der Tat politisch ist. Also so, wie ich lebe, wie ich liebe – das hat ganz viel mit Politik zu tun und mit Gesellschaftspolitik zu tun."
"Es ist vorbei, bye bye."
1985 waren "Ton Steine Scherben" pleite, ihre Schulden auf eine halbe Million Mark angewachsen. Doch den Wechsel zur kommerziellen Plattenindustrie lehnten sie weiterhin ab. Die Band zerbrach. Im Kampf gegen die Schulden startete Rio Reiser eine Solokarriere, die er in seiner Autobiografie als "Auf den Strich gehen" bezeichnete.
König von Deutschland landete auf Anhieb in den Hitparaden. Es folgten erfolgreiche Rocksongs wie "Alles Lüge" und gefühlvolle Lieder wie "Für immer und dich" oder "Junimond", die Rio Reiser als begnadeten Songschreiber auswiesen.
"Ich bin hier oben auf meiner Wolke"
Sein Traum, die "Scherben" eines Tages wieder zusammenzubringen, erfüllte sich nicht mehr.
"Es ist vorbei, bye bye."