Zumindest von Reihe 29 aus muss man annehmen, dass Lou Reeds Körper alle natürlichen und auf Rauschsubstanzen rückführbaren Alterungsprozesse unbeschadet überstanden hat. So steht er auf der Bühne der Alten Oper in Frankfurt, vor etwa einem Jahr war das, muskelbepackt, konditionell voll auf der Höhe - und kann nicht anders. 64 ist Lou Reed inzwischen.
Sie wollen es halt alle noch einmal wissen, so kurz vorm Eintritt ins Rentenalter: Ob Lou Reed, John Cale, die Rolling Stones, Paul McCartney, Bob Dylan, The Who oder Brian Wilson - all jene, die Popgeschichte geschrieben und Pop sogar miterfunden haben, touren weiter und weiter und werden wohl auch freiwillig nicht abtreten. "Wanna die before get old" - was interessiert uns schon das Songgeschwätz von vorgestern. Das geriatrische Rockzeitalter hat längst begonnen.
Mit dem Alter kommt auch die Sorge um den Nachruhm. Bei manchen Vertretern des Genres geht es mit der Kanonisierung recht schnell: Bob Dylan gilt immer mal wieder als Anwärter auf den Literaturnobelpreis, und die Wissenschaft beschäftigt sich seit etlichen Jahren unermüdlich mit seiner Musik, vor allem aber mit seinen Texten. Die gibt es natürlich auch gedruckt; vor kurzem erschien eine Neuausgabe und Neuübersetzung der Dylanschen Lyrik. Selbst Paul McCartneys Songs sind als Gedichtband herausgekommen, aber "Obladi Oblada" wird auch dadurch nicht unbedingt zu großer Poesie.
Der Wechsel von einem Speichermedium zum andern ist einerseits ein Dienst am Fan: Er kann die Songtexte gebündelt nachlesen. Andererseits scheint das Buch immer noch eine gewisse Aura zu haben und einen Anspruch auf Ewigkeit einzulösen oder zumindest zu versprechen: Gedruckte Songs sind ja fast schon Lyrik, auch wenn ihnen das Wesentliche fehlt: die Musik.
Songs funktionieren vielleicht nicht auf tausend Plateaus, aber doch auf mehreren Ebenen. In der Konzentration auf den Liedtext allein werden alle Ambivalenzen ausgelöscht: Nicht nur fehlt die Musik, die die Bedeutung des Textes zu untermalen versucht. Es fehlt auch der Gestus des Sängers, seine Intonation, die der Intention der Lyrics manchmal zuwider laufen und sie dadurch auch zu etwas über sich Hinauswachsendem machen kann.
Nun ist ein weiteres popmusikalisches Oeuvre zwischen zwei Buchdeckel geraten, das von Lou Reed. Lou Reed versteht sich seit geraumer Zeit auch als Dichter; ein Literat unter Literaten, der mit Edgar Allan Poe auf Augenhöhe seine Lieder schreibt, Raymond Chandler als Bruder im Geiste sieht und in Vaclav Havel einen Dichterfreund gefunden hat. "Pass Thru Fire" heißt das Werk mit den gesammelten Songtexten, die von Manfred Allié ins Deutsche übertragen wurden.
Was Lou Reed mit drei, vier Akkorden angestellt hat, würden andere nicht nach einem lebenslangen Studium der Harmonik hinbekommen: In seinen Riffs finden Dringlichkeit und Sehnsucht, Aufbruch und Wehmut zusammen. Und die Texte, auch wenn man sie nicht versteht, steigern dieses Hin und Her zwischen Begehren und Erlösung.
Ich weiß nicht wohin ich gehe
Aber ich nehme gern das Paradies wenn ich kann
Denn da fühl ich mich wie ein Mann
Wenn ich die Nadel in die Vene steche
Glaub mir, das Gefühl, das ist was Echtes
Wenn ich dann so aufdrehn kann
Und ich fühle mich wie Jesus’ Sohn
Und ich glaub ich weiß einfach nicht
Und ich glaub ich weiß einfach nicht.
Diese Musik und diese Worte kamen scheinbar aus einem fernen Kosmos. So sangen und sprachen sie nicht 1966, die andern, John Lennon nicht und Bob Dylan auch nicht. "Dylan", schrieb Jean-Martin Büttner einmal, "überwand die formale Grenze des Rocktextes, die Beatles die des Rocksongs; Frank Zappa und die Velvet Underground überwanden den Song überhaupt."
Lou Reed war ein schmächtiger junger Mann, den es in die Factory von Andy Warhol verschlagen hatte. Seine von Dekadenz, Schein und schwindendem Bewusstsein handelnden Songs passten zum Warholschen Kunstbetrieb wie die Banane aufs Plattencover des ersten Albums von Velvet Underground. John Cale verstärkte mit seiner Viola das Unheimliche, das in dieser Musik und in diesen Lyrics schon angelegt war: eine wirklichkeitsnahe und zugleich schillernde Unbedingtheit, ein glühendes Pathos, das mit einer ganz arroganten Beiläufigkeit und manchmal Naivität vorgetragen wurde.
Wenn es den Begriff des Cool noch nicht im Jazz gegeben hätte, man hätte ihn für Velvet Underground erfinden müssen. Zugleich schien den wenigen zeitgenössischen, bohemistischen Rezipienten der Referenzrahmen sehr verlockend und vertraut, wenn der junge Reed von einem Sonntagmorgen singt, an dem man sich der verschwendeten Jahre bewusst wird oder die Lektüre Leopold von Sacher-Masochs direkt in einen Song Eingang findet: "Venus in Furs".
Lou Reeds Texte sind manchmal von einer subversiven Wahrhaftigkeit und einem urbanen Witz. New Yorker Szene-Talk verschwimmt da mit der sentenzhaften Wurstigkeit des Rock’n’Rollers. Alle Songs und alle Platten versammelt das Buch "Pass Thru Fire". Vor 15 Jahren waren bereits unter dem Titel "Between Thought and Expression" Essays und eine Auswahl der Lyrics bei Kiepenheuer & Witsch erschienen, damals übersetzt von Diedrich Diederichsen.
Übersetzungen von Songtexten sind meist kein geringes Problem: Wo das Englische aus dem Schnoddrigen eine gewisse poetische Kraft zieht, wirkt es im Deutschen nicht selten ein wenig umständlich und banal. Den richtigen Klang kann man im Deutschen kaum treffen. Manfred Allié versucht einen Mittelweg zwischen treuer Übersetzung und der Übertragung eines Rhythmus’, eines Tons. Das gelingt zuweilen, führt aber auch oft zu albern klingenden und sinnverstellenden Reimereien im Stile von:
"Doch sie war immer auf der Hut, sogar wenn die Zunge tat so gut."
"Walk on the Wild Side" stammt von der Platte "Transformer", dem Meisterwerk der siebziger Jahre. Transformation, Transgression, Konfusion, Regression, Suche nach Absolution - mit diesen Begriffen ließe sich das lyrische Schaffen Reeds umschreiben. Seine Texte spielen am Abgrund, in den düsteren Ecken, wo mit Drogen experimentiert und mit jeglichen Formen von Sex kommuniziert wird, wo Krankheiten lauern und das Schwert des Damokles über einem hängt, um Tod und Verderben anzudrohen; seine Texte handeln nicht davon, aus dem Gleichgewicht zu geraten, sie sind die Schwebe.
Das Leben steht hier auf des Messers Schneide, jedenfalls spielt es nicht in den sicheren Gefilden der ewigen Liebe und Harmonie. Selbst da, wo das Erzähler-Ich sich schon nahe ans Glück herantastet, traut es dem Gefühl nicht über den Weg: "Just a perfect day, problems all left alone", singt Reed, aber es ist doch zu schön, um wirklich wahr zu sein: "I thought I was someone else, someone good." Dass man sich fremd ist in der eigenen Haut, sich verwandeln muss und irgendwo auch ankommen will - das ist ein alter Topos etwa auch in der Blues-Musik, aber kaum jemand hat so viele Rollen durchgespielt, kaum jemand ist seinen Figuren so nahe gekommen wie Reed. Die Verwandlungen entstehen aus Anverwandlungen.
"Schließlich vertrauen Leute mir andauernd ihre Geheimnisse an",
schreibt Lou Reed im Vorwort des Buches,
"und ich mache dann oft Lieder daraus, als seien die Dinge, von denen sie handeln, mir selbst geschehen."
"When You’re growing up in a Small Town" entstand als Hommage an Andy Warhol, aber auch hier versetzt sich Reed in die besungene Figur. Natürlich wird eine Sehnsucht geschildert, die sowohl Warhol als auch Reed angetrieben hat: aus dem Profanen des Alltags in den Alltag der Kunst zu entfliehen, aus der Gleichförmigkeit in den Glamour. Beide formulieren diese Suche, die auch eine Sucht ist, im Glanze des schönen Scheins und mit den Mitteln des Pop. Aber zumindest Reed weiß um die Uneinlösbarkeit dieser Sehnsucht.
Lou Reeds Geschichten sind von einer schimmernden Uneindeutigkeit. Lässt man sich auf sie ein, hört man dem Sänger als Erzähler mit seiner oftmals mürrisch nüchternen Stimme zu, diesem wegwerfenden Gestus, dann gerät da etwas ins Schaukeln, upside down und ins Zwielicht. Wo bei anderen Musikern das Versprechen von Jugend und Schönheit aus den Texten herausbrüllt, ist man bei Lou Reed schon verloren. Und am Ende bleibt doch nur die Musik, und der Dichter ist mit seiner Dichtung am Ende.
"Set the Twilight Reeling" - "Lass das Zwielicht tanzen" ist der bezeichnende Titel eines Songs und einer Platte aus der späteren Werkphase. "Und das Ich beginnt zu tanzen", heißt es darin. Fassen lässt es sich so jedenfalls nicht, das Ich, schon gar nicht greifen.
Angesichts eines solcherart pulsierenden Werks, ließ sich auch der Verlag nicht lumpen: Die Buchgestalter durften sich an "Pass Thru Fire" austoben. Jede Platte, chronologisch geordnet, bekommt im Buch ein eigenes Layout. Bei "Transformer" verschwimmt nach und nach die Schrift als würde dem Glamrocker Mascara in die Augen laufen, bei der ersten Soloplatte "Lou Reed" schlagen die Sätze Wellen, bei "Coney Island Babe" geraten die Zeilen aus dem Takt, und bei "Street Hassle" kommen sich - Achtung Titel - die Strophen in die Quere. Das sind Spielereien, die zum Gesamtkunstwerk streben: Auf dem Papier Lyrik und Kunst, im Kopf die Melodie und im Herzen den Rock’n’Roll. Und der Rock’n’Roll kann, wie man von Lou Reed weiß, schließlich Leben retten.
Sie wollen es halt alle noch einmal wissen, so kurz vorm Eintritt ins Rentenalter: Ob Lou Reed, John Cale, die Rolling Stones, Paul McCartney, Bob Dylan, The Who oder Brian Wilson - all jene, die Popgeschichte geschrieben und Pop sogar miterfunden haben, touren weiter und weiter und werden wohl auch freiwillig nicht abtreten. "Wanna die before get old" - was interessiert uns schon das Songgeschwätz von vorgestern. Das geriatrische Rockzeitalter hat längst begonnen.
Mit dem Alter kommt auch die Sorge um den Nachruhm. Bei manchen Vertretern des Genres geht es mit der Kanonisierung recht schnell: Bob Dylan gilt immer mal wieder als Anwärter auf den Literaturnobelpreis, und die Wissenschaft beschäftigt sich seit etlichen Jahren unermüdlich mit seiner Musik, vor allem aber mit seinen Texten. Die gibt es natürlich auch gedruckt; vor kurzem erschien eine Neuausgabe und Neuübersetzung der Dylanschen Lyrik. Selbst Paul McCartneys Songs sind als Gedichtband herausgekommen, aber "Obladi Oblada" wird auch dadurch nicht unbedingt zu großer Poesie.
Der Wechsel von einem Speichermedium zum andern ist einerseits ein Dienst am Fan: Er kann die Songtexte gebündelt nachlesen. Andererseits scheint das Buch immer noch eine gewisse Aura zu haben und einen Anspruch auf Ewigkeit einzulösen oder zumindest zu versprechen: Gedruckte Songs sind ja fast schon Lyrik, auch wenn ihnen das Wesentliche fehlt: die Musik.
Songs funktionieren vielleicht nicht auf tausend Plateaus, aber doch auf mehreren Ebenen. In der Konzentration auf den Liedtext allein werden alle Ambivalenzen ausgelöscht: Nicht nur fehlt die Musik, die die Bedeutung des Textes zu untermalen versucht. Es fehlt auch der Gestus des Sängers, seine Intonation, die der Intention der Lyrics manchmal zuwider laufen und sie dadurch auch zu etwas über sich Hinauswachsendem machen kann.
Nun ist ein weiteres popmusikalisches Oeuvre zwischen zwei Buchdeckel geraten, das von Lou Reed. Lou Reed versteht sich seit geraumer Zeit auch als Dichter; ein Literat unter Literaten, der mit Edgar Allan Poe auf Augenhöhe seine Lieder schreibt, Raymond Chandler als Bruder im Geiste sieht und in Vaclav Havel einen Dichterfreund gefunden hat. "Pass Thru Fire" heißt das Werk mit den gesammelten Songtexten, die von Manfred Allié ins Deutsche übertragen wurden.
Was Lou Reed mit drei, vier Akkorden angestellt hat, würden andere nicht nach einem lebenslangen Studium der Harmonik hinbekommen: In seinen Riffs finden Dringlichkeit und Sehnsucht, Aufbruch und Wehmut zusammen. Und die Texte, auch wenn man sie nicht versteht, steigern dieses Hin und Her zwischen Begehren und Erlösung.
Ich weiß nicht wohin ich gehe
Aber ich nehme gern das Paradies wenn ich kann
Denn da fühl ich mich wie ein Mann
Wenn ich die Nadel in die Vene steche
Glaub mir, das Gefühl, das ist was Echtes
Wenn ich dann so aufdrehn kann
Und ich fühle mich wie Jesus’ Sohn
Und ich glaub ich weiß einfach nicht
Und ich glaub ich weiß einfach nicht.
Diese Musik und diese Worte kamen scheinbar aus einem fernen Kosmos. So sangen und sprachen sie nicht 1966, die andern, John Lennon nicht und Bob Dylan auch nicht. "Dylan", schrieb Jean-Martin Büttner einmal, "überwand die formale Grenze des Rocktextes, die Beatles die des Rocksongs; Frank Zappa und die Velvet Underground überwanden den Song überhaupt."
Lou Reed war ein schmächtiger junger Mann, den es in die Factory von Andy Warhol verschlagen hatte. Seine von Dekadenz, Schein und schwindendem Bewusstsein handelnden Songs passten zum Warholschen Kunstbetrieb wie die Banane aufs Plattencover des ersten Albums von Velvet Underground. John Cale verstärkte mit seiner Viola das Unheimliche, das in dieser Musik und in diesen Lyrics schon angelegt war: eine wirklichkeitsnahe und zugleich schillernde Unbedingtheit, ein glühendes Pathos, das mit einer ganz arroganten Beiläufigkeit und manchmal Naivität vorgetragen wurde.
Wenn es den Begriff des Cool noch nicht im Jazz gegeben hätte, man hätte ihn für Velvet Underground erfinden müssen. Zugleich schien den wenigen zeitgenössischen, bohemistischen Rezipienten der Referenzrahmen sehr verlockend und vertraut, wenn der junge Reed von einem Sonntagmorgen singt, an dem man sich der verschwendeten Jahre bewusst wird oder die Lektüre Leopold von Sacher-Masochs direkt in einen Song Eingang findet: "Venus in Furs".
Lou Reeds Texte sind manchmal von einer subversiven Wahrhaftigkeit und einem urbanen Witz. New Yorker Szene-Talk verschwimmt da mit der sentenzhaften Wurstigkeit des Rock’n’Rollers. Alle Songs und alle Platten versammelt das Buch "Pass Thru Fire". Vor 15 Jahren waren bereits unter dem Titel "Between Thought and Expression" Essays und eine Auswahl der Lyrics bei Kiepenheuer & Witsch erschienen, damals übersetzt von Diedrich Diederichsen.
Übersetzungen von Songtexten sind meist kein geringes Problem: Wo das Englische aus dem Schnoddrigen eine gewisse poetische Kraft zieht, wirkt es im Deutschen nicht selten ein wenig umständlich und banal. Den richtigen Klang kann man im Deutschen kaum treffen. Manfred Allié versucht einen Mittelweg zwischen treuer Übersetzung und der Übertragung eines Rhythmus’, eines Tons. Das gelingt zuweilen, führt aber auch oft zu albern klingenden und sinnverstellenden Reimereien im Stile von:
"Doch sie war immer auf der Hut, sogar wenn die Zunge tat so gut."
"Walk on the Wild Side" stammt von der Platte "Transformer", dem Meisterwerk der siebziger Jahre. Transformation, Transgression, Konfusion, Regression, Suche nach Absolution - mit diesen Begriffen ließe sich das lyrische Schaffen Reeds umschreiben. Seine Texte spielen am Abgrund, in den düsteren Ecken, wo mit Drogen experimentiert und mit jeglichen Formen von Sex kommuniziert wird, wo Krankheiten lauern und das Schwert des Damokles über einem hängt, um Tod und Verderben anzudrohen; seine Texte handeln nicht davon, aus dem Gleichgewicht zu geraten, sie sind die Schwebe.
Das Leben steht hier auf des Messers Schneide, jedenfalls spielt es nicht in den sicheren Gefilden der ewigen Liebe und Harmonie. Selbst da, wo das Erzähler-Ich sich schon nahe ans Glück herantastet, traut es dem Gefühl nicht über den Weg: "Just a perfect day, problems all left alone", singt Reed, aber es ist doch zu schön, um wirklich wahr zu sein: "I thought I was someone else, someone good." Dass man sich fremd ist in der eigenen Haut, sich verwandeln muss und irgendwo auch ankommen will - das ist ein alter Topos etwa auch in der Blues-Musik, aber kaum jemand hat so viele Rollen durchgespielt, kaum jemand ist seinen Figuren so nahe gekommen wie Reed. Die Verwandlungen entstehen aus Anverwandlungen.
"Schließlich vertrauen Leute mir andauernd ihre Geheimnisse an",
schreibt Lou Reed im Vorwort des Buches,
"und ich mache dann oft Lieder daraus, als seien die Dinge, von denen sie handeln, mir selbst geschehen."
"When You’re growing up in a Small Town" entstand als Hommage an Andy Warhol, aber auch hier versetzt sich Reed in die besungene Figur. Natürlich wird eine Sehnsucht geschildert, die sowohl Warhol als auch Reed angetrieben hat: aus dem Profanen des Alltags in den Alltag der Kunst zu entfliehen, aus der Gleichförmigkeit in den Glamour. Beide formulieren diese Suche, die auch eine Sucht ist, im Glanze des schönen Scheins und mit den Mitteln des Pop. Aber zumindest Reed weiß um die Uneinlösbarkeit dieser Sehnsucht.
Lou Reeds Geschichten sind von einer schimmernden Uneindeutigkeit. Lässt man sich auf sie ein, hört man dem Sänger als Erzähler mit seiner oftmals mürrisch nüchternen Stimme zu, diesem wegwerfenden Gestus, dann gerät da etwas ins Schaukeln, upside down und ins Zwielicht. Wo bei anderen Musikern das Versprechen von Jugend und Schönheit aus den Texten herausbrüllt, ist man bei Lou Reed schon verloren. Und am Ende bleibt doch nur die Musik, und der Dichter ist mit seiner Dichtung am Ende.
"Set the Twilight Reeling" - "Lass das Zwielicht tanzen" ist der bezeichnende Titel eines Songs und einer Platte aus der späteren Werkphase. "Und das Ich beginnt zu tanzen", heißt es darin. Fassen lässt es sich so jedenfalls nicht, das Ich, schon gar nicht greifen.
Angesichts eines solcherart pulsierenden Werks, ließ sich auch der Verlag nicht lumpen: Die Buchgestalter durften sich an "Pass Thru Fire" austoben. Jede Platte, chronologisch geordnet, bekommt im Buch ein eigenes Layout. Bei "Transformer" verschwimmt nach und nach die Schrift als würde dem Glamrocker Mascara in die Augen laufen, bei der ersten Soloplatte "Lou Reed" schlagen die Sätze Wellen, bei "Coney Island Babe" geraten die Zeilen aus dem Takt, und bei "Street Hassle" kommen sich - Achtung Titel - die Strophen in die Quere. Das sind Spielereien, die zum Gesamtkunstwerk streben: Auf dem Papier Lyrik und Kunst, im Kopf die Melodie und im Herzen den Rock’n’Roll. Und der Rock’n’Roll kann, wie man von Lou Reed weiß, schließlich Leben retten.