"Wie die gewöhnlichen Lichtstrahlen durch Glas gehen, so gehen die neu entdeckten Strahlen durch Holz- und auch Weichteile des menschlichen Körpers. Am überraschendsten ist die Abbildung von einer menschlichen Hand. Das Bild enthält die Knochen der Hand, um deren Finger die Ringe frei zu schweben scheinen."
Als erste berichtete Anfang 1896 die Wiener "Presse" über die mysteriösen, unsichtbaren Strahlen, die fast jede Materie durchdrangen. Über Telegraphenleitungen verbreitete sich die Nachricht von ihrer Entdeckung durch den deutschen Physiker Wilhelm Conrad Röntgen in ganz Europa und Amerika. Bei ihm sei "der Teufel los", schrieb Röntgen an seinen Schweizer Freund und Kollegen Ludwig Zehnder - obwohl er den Rummel hatte kommen sehen: "Ich hatte von meiner Arbeit niemand etwas gesagt: Meiner Frau teilte ich nur mit, dass ich etwas mache, von dem die Leute, wenn sie es erfahren, sagen würden: 'Der Röntgen ist wohl verrückt geworden'."
Am 8. November 1895 war Röntgen, damals Professor an der Universität Würzburg, durch Zufall auf die später nach ihm benannten Strahlen gestoßen. Er beschäftigte sich mit sogenannten "Gasentladungsröhren". Dazu sein Biograph Albrecht Fölsing: "Das waren filigrane gläserne Gebilde mit eingeschmolzenen Elektroden, die durch Quecksilberpumpen evakuiert wurden. Bei genügend hoher Spannung an den Elektroden begann das Restgas, in irisierenden Farben zu leuchten, was im späteren 19. Jahrhundert das Publikum der Varietés faszinierte. Und zugleich einigen Physikern ein ergiebiges Forschungsfeld erschloss."
Jeder hätte das entdecken können
"Diese Geräte, die man dazu benötigt, standen in jedem Physiklabor der Welt mindestens im Regal. Also jeder hätte die Chance gehabt", sagt Ulrich Hennig, ehemaliger Direktor des Deutschen Röntgenmuseums in Röntgens Geburtsort Remscheid-Lennep. "Nur - dem Röntgen fiel auf bei den Experimenten, dass ein Fluoreszenzschirm, der irgendwo auf dem Tisch rumlag, zu leuchten anfing. Und - jeder andere hätte den Schirm weggenommen, um das Experiment, also die eigentliche Beobachtung, in Ruhe fortzusetzen. Er nicht, er hat sich überlegt: Warum leuchtet der?"
Röntgen umwickelte das Glasgefäß mit schwarzem Packpapier. Trotzdem leuchtete der Fluoreszenz¬schirm weiter - was sich nur dadurch erklären ließ, dass die unter Hochspannung stehende 'Gasentladungsröhre' neben dem sichtbaren Licht noch eine unbekannte, unsichtbare Strahlung aussandte. "Und das ist eigentlich alles. Damit waren die Röntgenstrahlen entdeckt. Und unserem Röntgen muss es also wie Schuppen von den Augen gefallen sein. Denn er hat sicherlich sofort erkannt, dass das was Neues ist. Denn es gab kein physikalisches Phänomen, was dieses hätte erklären können. Also war's was Neues."
Fieberhaft versuchte der 50-Jährige, mehr über diese Strahlen in Erfahrung zu bringen, die er zunächst "X-Strahlen" nannte. "X" stand für das Unbekannte, noch heute heißen die Röntgenstrahlen im englischen Sprachraum "X-Rays". Röntgen hielt alle möglichen Dinge zwischen Röhre und Fluoreszenzschirm: Papier, ein Kartenspiel, Holzblöcke, Hartgummischeiben, schließlich die eigene Hand. Alles war transparent. "Beim allerersten Anblick eines durchleuchteten menschlichen Körperteils muss selbst einem so kontrollierten Charakter wie Röntgen ein Schauer über den Rücken gelaufen sein."
Röntgen hüllte sich in Schweigen
Mit Sicherheit, so Fölsing, habe Röntgen gewusst, dass auch andere jederzeit auf die "X-Strahlen" stoßen konnten. "Und während er es sonst mit Veröffentlichungen nie besonders eilig hatte, sie manchmal sogar ein Jahr lang liegen ließ, konnte es dieses Mal nicht schnell genug gehen."
Am 28. Dezember 1895 brachte Röntgen einen vorläufigen Bericht mit dem Titel "Ueber eine neue Art von Strahlen" in die Setzerei, um ihn am Neujahrstag an knapp hundert Kollegen in ganz Europa zu verschicken. Röntgen wurde als "Wohltäter der Menschheit" gefeiert. Allenthalben begannen Ärzte, ihre Patienten zu durchleuchten - während sich Röntgen in Schweigen hüllte. Nur einen Vortrag hat er im Januar 1896 in Würzburg noch gehalten, danach lehnte er alle öffentlichen Auftritte ab. Röntgen äußerte sich auch nicht, als die ersten Berichte über Strahlenschäden kursierten. Als ihm 1901 der erste Physiknobelpreis zuerkannt wurde, weigerte er sich, eine Dankesrede zu halten. So blieb Röntgen, der 1923 in München im Alter von 77 Jahren starb, vielen ein Rätsel.
"Nie hat er über die Geschichte oder die Hintergründe seiner Entdeckung berichtet. Aufzeichnungen und Laborbücher, die es mit Sicherheit gegeben hat, hat er zusammen mit vielen Briefen und anderem Material im Alter verbrannt oder nach seinem Tode von den Testamentsvollstreckern verbrennen lassen."