In einem Interview, das der Deutschlandfunk im Jahr 2011 zwei Tage nach der Nuklearkatastrophe in Japan mit dem damaligen Bundesumweltminister Norbert Röttgen führte, hatte sich dieser erschüttert von dem Nuklearunfall gezeigt. "Ich bitte Sie um Verständnis, dass ich es angesichts der extremen Unfassbarkeit für deplatziert halte, jetzt parteipolitische Debatten zu führen", sagte Norbert Röttgen damals dem Dlf.
Die parteipolitischen Debatten zum Thema Kernenergie waren damals in vollem Gang. Norbert Röttgen hatte sich als einer der wenigen im Kabinett für einen Ausstieg aus der Kernenergie in Deutschland stark gemacht - ohne Erfolg. Das Parlament entschied anders und winkte eine Laufzeitverlängerung der Kernkraftwerke in Deutschland durch.
Kurswechsel hin zu Atomausstieg
"Unmittelbar nach Beendigung dieser Diskussion und der Entscheidung für die Laufzeitverlängerung, die ich für falsch gehalten habe, kam dann dieser Unfall, der im Grunde dann alles wieder aufgeworfen hat und gesagt hat, Mensch, wir haben gerade in die falsche Richtung entschieden", sagte Röttgen nun mit Blick zurück. Erst danach habe man sich für einen Kurswechsel entschieden.
Um bis zum Jahr 2030 in Sachen Klimawandel voranzukommen, müsse man in Erneuerbare investieren. Global betrachtet würde allein China auch in neue Atomkraftwerke investieren,
Nach wie vor steht Röttgen zur Entscheidung von damals - auch wenn China, die USA und viele europäische Staaten weiterhin auf Atomkraft setzen. Es sei der richtige Weg, auf modernste Technolgien zu setzen, beispielsweise die Föderung von grünem Wasserstoff. China, das auf einen Mix aus Kernenergie und Kohle setze, befinde sich in einer Sackgasse, meint Röttgen. Atomkraft sei auch nicht mit dem Erreichen von Klimazielen zu rechtfertigen.
Das Interview im Wortlaut:
Christoph Heinemann: Herr Röttgen, die Katastrophe ereignete sich am 11. März. Das war ein Freitag. Am 12. Haben Sie uns das Interview gegeben, das wir gerade gehört haben. Das war der Samstag. Und am Montag, wenn ich es richtig gelesen habe, verkündete dann Angela Merkel die Energiewende. Wie kam es dazu?
Norbert Röttgen: Weil das ein schockierendes Erlebnis war, das eine der grundlegenden Schwächen – es gibt nach meiner Auffassung zwei -, eine der grundlegenden Schwächen der Kernenergie offengelegt hatte, nämlich die ganz minimale, in der Wahrscheinlichkeit minimalistisch kleine Wahrscheinlichkeit eines Unfalls, aber den Umstand, dass es nicht zu 100 Prozent ausgeschlossen werden kann. Und wenn es dann zu einem Unfall kommt, dann kann es eine gigantische Schadensdimension haben.
Das war die eine Schwäche. Die andere Schwäche bleibt die ungelöste Entsorgungsfrage. Aber diese eine hatte sich an diesem Tag, wie ich da auch gesagt habe, nicht irgendwo, sondern in dem Hochtechnologie-Land Japan ereignet. Das heißt, die Fehleranfälligkeit, die auch durch menschliche Fehler immer natürlich eröffnet wird – dort war es die Standortfrage dieses Kernkraftwerkes vor allem -, die hat sich dort gezeigt und die hat die Frage aufgeworfen, heißt das etwas für Deutschland, wenn in Japan etwas passiert, oder nicht. Diese Frage haben wir natürlich sehr schnell auch nicht sofort einheitlich analysiert, und meine Position war, jawohl, es hat auch Konsequenzen für uns. Aber das musste auch erst mal in der Regierung besprochen und diskutiert werden und dann zu einer Position gebracht werden.
"Ich war alleine im Kabinett mit der Position"
Heinemann: Kann man das an einem Wochenende entscheiden?
Röttgen: Die Diskussion war natürlich lange. Vor Fukushima war lange die Debatte um die Laufzeitverlängerungen. Ich war ja derjenige, der gesagt hat, es ist ein Fehler. Es war noch nicht entschieden; darum habe ich gesagt, es wäre ein Fehler, wenn wir stark und erneut auf Kernenergie setzen. Darum war diese Debatte ja voll im Gang. Sie ist dann gegen meine Position – ich war leider alleine im Kabinett mit dieser Position – ausgegangen, und praktisch unmittelbar nach Beendigung dieser Diskussion und der Entscheidung, die ich für falsch gehalten habe, für die Laufzeitverlängerung kam dann dieser Unfall, der im Grunde dann alles wieder aufgeworfen hat und gesagt hat, Mensch, wir haben gerade in die falsche Richtung entschieden. Da zeigte man auch, dann war dann auch sehr schnell, Anfang der Woche war dann auch ein breiter Konsens da, wir brauchen einen grundlegenden Kurswechsel.
Heinemann: Und dieser Kurswechsel kostet die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler 2,4 Milliarden Euro, wegen der zuvor erfolgten Verlängerung der Restlaufzeiten. Warum hat die Bundesregierung diese enormen Kosten in Kauf genommen?
Röttgen: Die Bundesregierung und das Parlament – es ist ja eine gesetzliche Entscheidung gewesen – hat sich für die Laufzeitverlängerung entschieden. Ich habe dagegen gekämpft, mit hohem Einsatz, und konnte mich nicht durchsetzen. Das Parlament hat so entschieden, für diesen energiepolitischen Kurs. Dann kam Fukushima, ein nuklearer Unfall, der allen noch mal vor Augen geführt hat die Möglichkeit eines Unfalls, die reale Möglichkeit in unserer Zeit in einem Hochtechnologie-Land, so dass es nicht auszuschließen ist. Das hat allen noch mal die Dimension von nuklearer Energie vor Augen geführt und hat dann auch in gewisser Weise die knappe Situation, die es vorher gab, die knappe gesellschaftliche Situation zu der anderen Seite dann ganz schnell geführt, dass wir einen Kurswechsel machen wollen.
"China hat einen enormen Energiehunger"
Heinemann: China, die USA, viele europäische Partnerländer setzen auf die Atomkraft, um die Klimaziele einhalten zu können. Deutschland ist neben Italien das einzige Industrieland, das aus Kernkraft und Kohle aussteigt. Wissen die Deutschen es besser?
Röttgen: Ich glaube, dass wir – und es sind ja auch keine einvernehmlichen Entscheidungen in diesen Ländern; in China wird darüber natürlich gar nicht diskutiert. China plant und baut auch weitere Kohlekraftwerke, hat einen enormen Energiehunger und ist auch machtpolitisch, politisch auf Wachstum angewiesen, koste es was es wolle. Ich glaube nicht, dass es eine Spezialerkenntnis der Deutschen ist, sondern es ist eine vorliegende allgemeine menschliche und auch wissenschaftliche Erkenntnis, dass die Schwächen der Kernenergie da sind, und auch nicht mit dem Ziel, ein anderes Menschheitsproblem damit lösen zu wollen, nämlich die Erderwärmung abzudämpfen, zu rechtfertigen sind. Erst mal ist der Bau eines Kernkraftwerkes mit einer enormen Menge Produktion von Schwefeldioxid verbunden.
Es bleiben die Schwächen, nämlich die ungeklärte Entsorgungsfrage. Es bleibt die Fehleranfälligkeit, die Unfallanfälligkeit. Übrigens wenn sie eintritt, wäre man dankbar, wenn sie mit Milliarden Euro abzugleichen wäre. Es geht dann um Leben und viel größere Schäden, die eintreten. Darum ist das oftmals eine Entscheidung, die getroffen wird, gar nicht so sehr aus klimapolitischen Gründen, sondern weil man glaubt, das sei immer noch der auch wirtschaftlich billigste Weg, Wachstum zu erreichen. Viele Länder sind auch auf diesem Kurs schon traditionell. Frankreich hat seine ganze Stromversorgung darauf gestellt. Darum ist ein Kurswechsel viel schwerer, als es bei dem Energiemix war, den wir in Deutschland haben. Das ist aus meiner Sicht eine energiepolitische Fehlentwicklung und die große Chance, die Deutschland jetzt mit anderen hat, ist, ganz konsequent auf neue Technologien zu setzen. Wir sehen übrigens gerade in diesen Tagen, dass die Finanzmärkte und die Finanzunternehmen, und zwar die größten der Welt, darauf setzen, auf klimaverträgliche und nachhaltige saubere Energie. Darum ist das ökologisch und ökonomisch-technologisch eine riesige Chance.
"Das ist eine Menschheitsfrage"
Heinemann: Selbst Greta Thunberg, die Gründerin von Fridays for Future, sagt unter Verweis auf den Weltklimarat der Vereinten Nationen, ein kleiner Teil Kernkraft könnte zu einer CO2-freien Lösung beitragen. – Ausgestiegen sind ja bisher, das wissen Sie, außer Deutschland Italien, Kasachstan und Litauen. Sind wir da in guter Gesellschaft?
Röttgen: Es geht nicht um die Gesellschaft, in der wir sind, sondern es geht um die Grundfrage, wie wir eine sichere und saubere Energieversorgung der Zukunft gewährleisten. Das ist eine Menschheitsfrage. Ich glaube, den Weg, den wir beschritten haben, auf die modernsten und innovativsten Technologien zu setzen, die gerade jetzt mit einer konsequenten Förderung von grünem Wasserstoff auch, glaube ich, ein neues Kapitel aufgeschlagen haben, das halte ich für die innovativste und technologisch anspruchsvollste, aber darum auch ertragreichste, klimapolitisch und ökonomisch ertragreichste Konzeption, und sie findet immer mehr Anhänger. Diese Technologien, die wir entwickeln, werden gebraucht werden. China wandelt in die Sackgasse mit seinem Mix aus Kohle und Kernenergie. Ich mache es gar nicht zum Vorwurf, aber das ist das Wachstumsmodell des Westens der 60er- und 70er-Jahre. China glaubt, Wachstum unbedingt zu brauchen. Es ist übrigens auch der unbedingte Wachstumsglaube der 60er- und 70er-Jahre. Ich glaube, dass das nicht auf der Höhe der Erkenntnis des 21. Jahrhunderts ist.
Problem radioaktiver Abfall
Heinemann: Stichwort Sackgasse. Im belgischen Tihange hangelt sich ein Reaktor von Störfall zu Störfall. Meistens bläst der Wind aus Westen. Inwiefern leben die Menschen in Ihrem Wahlkreis Rhein-Sieg durch den Atomausstieg in Deutschland sicherer?
Röttgen: Sie leben sicherer, weil eine Belastung der Zukunft eingestellt worden ist mit dem Atomausstieg, nach und nach. Das ist die Produktion von radioaktiven Abfällen, die für Menschen in für Menschen unvorstellbaren zeitlichen Dimensionen noch die Folgen unseres Handelns zeitigen, nämlich in zehntausenden von Jahren wird es noch die Folgen unserer Lebensweise geben, nämlich der der Kernenergie. Das haben wir jedenfalls eingestellt, dazu, zu diesem ungelösten Problem weitere ungelöste Mengen der Entsorgung radioaktiver Abfälle zu produzieren. Und wir haben das Unfallrisiko mit dem Einstellen von Kernkraftwerken beseitigt, zum Beispiel die Kernkraftwerke, die nicht gegen einen Flugzeugabsturz gesichert waren, der ja passieren kann, Der total unwahrscheinlich ist, aber es kann eine Verkettung von Umständen geben. Darum ist das nach meiner Einschätzung eine rationale, moralische und technologisch ambitionierte und, ich glaube, erfolgsträchtige Politik.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.