Der Giftanschlag auf den russischen Oppositionellen Alexej Nawalny hat die Diskussion um das Projekt der Gaspipeline Nord Stream 2 und mögliche Sanktionen gegen Russland seit Herbst 2020 erneut in den Mittelpunkt der politischen Diskussion gerückt. Sowohl Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD) als auch CDU-Außenpolitiker Norbert Röttgen plädieren schon seit längerer Zeit für ein härteres Vorgehen gegen Russland – im Zweifel auch mit Sanktionen. Gleichzeitig steckt die Bundesregierung mit ihrem Festhalten an der umstrittenen Gas-Pipeline Nord Stream 2 in einem außenpolitischen Dilemma.
Jetzt hat Norbert Röttgen einen neuen Weg aufgezeigt. Im Deutschlandfunk schlug er statt Sanktionen ein Moratorium bei der Arbeit an Nord Stream 2 vor. Diese "Pause" soll aus Sicht Röttgens genutzt werden, damit die EU und die USA mit Russland in Verhandlungen treten können. Wenn durch eine internationale Vereinbarung ausgeschlossen werden könne, dass die Pipeline als geopolitische Waffe gegen osteuropäische Staaten eingesetzt werde, dann könne man energiepolitisch mit Russland kooperieren, sagte Röttgen im Dlf.
Das Interview im Wortlaut:
Jörg Münchenberg: Herr Röttgen, hat das harte russische Vorgehen gegen die Opposition im Land Ihrer Meinung nach eine neue Dimension erreicht?
Norbert Röttgen: Ich glaube, dass dieses harte Vorgehen dafür spricht, dass die Opposition gegen das System Putin und gegen die Korruption im Land eine neue Dimension und Qualität erreicht hat. Alexej Nawalny ist zu einem Helden geworden. Ich glaube, dass der Taktiker Putin ihn sogar mit dazu gemacht hat und immer weiter dazu macht. Er ist in einem Dilemma. Wenn er ihn ins Straflager steckt wie nun, macht er ihn noch mehr zum Helden. Wenn er ihn wieder auf die Straße frei gelassen hätte, dann wäre er ein weiter aktiver Oppositioneller gewesen. Er ist in einem Dilemma. Das hat die russische Gesellschaft verändert, hat breiten Protest erzeugt. Ich glaube, Putin hat die junge Generation bereits verloren, und darum ist Putin in Nawalny die bislang ernsteste Gefahr seiner Macht erwachsen. Das ist die neue Dimension, die entstanden ist.
"Menschenrechte sind keine innere Angelegenheit"
Münchenberg: Muss sich da Europa positionieren? Die russische Regierung sagt ja, das ist eine Einmischung in innere Angelegenheiten.
Röttgen: Ja, das sagen die autoritären Staaten, die die Menschenrechte verletzen, immer. Aber die Menschenrechte sind keine innere Angelegenheit, sondern sie sind universelles Recht. Sie sind Teil der Charta der Vereinten Nationen. Und im besonderen Falle von Russland: Russland ist Mitglied des Europarates, ist gebunden an die Europäische Menschenrechtskonvention und die Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Russland verletzt geltendes internationales Recht, zu dem es sich verpflichtet hat, und darum ist es ein internationales Thema, wenn dieses Recht, das Menschenrecht und die Menschenrechte, durch den russischen Staat verletzt werden, und das müssen die europäischen Staaten und alle anderen Staaten, die sich den Menschenrechten verbunden fühlen, auch klar so benennen.
"Die Nachkriegsordnung liegt hinter uns"
Münchenberg: Es wird klar benannt. Inakzeptables Verhalten heißt es von der Bundesregierung. Außenminister Maas spricht von einem herben Schlag gegen die Rechtsstaatlichkeit. Alles deutliche Worte. Aber zum Beispiel sind die gegenüber China ja eher selten zu hören.
Röttgen: Und das ist auch unangemessen, wenn es gegenüber China in schweren Fällen nicht benannt wird. Ich selber tue das und ich glaube, dass das wichtig ist für die Menschenrechte und die Menschen. Ich glaube aber auch, dass es als außenpolitische Strategie wichtig ist. Wir sind in einer ganz neuen Phase des außenpolitischen Wettbewerbs, des geopolitischen Wettbewerbs, der Neuordnung. Die Nachkriegsordnung liegt hinter uns und es geht darum, wie das Gesicht der neuen Ordnung aussieht. Wenn der Westen, wenn die Demokratien, die Rechtsstaaten nicht für das eintreten, was sie ausmachen, dann werden sie schwächer werden. Wir werden auch nicht den Respekt Chinas dadurch erwerben, dass wir uns nicht mal mehr trauen, für das einzutreten was wir sind, Demokratien und Rechtsstaaten. Das heißt, wir machen uns selber kleiner und schwächer, weil wir Angst signalisieren wegen möglicher einzelner wirtschaftlicher Interessen. Das schadet uns selber.
Sinn der Sanktionen gegen Russland
Münchenberg: Herr Röttgen, Sie sagen, man muss letztlich klare Kante zeigen. Noch mal auf Russland geschaut: Sind da neuerliche Sanktionen der einzig richtige Weg?
Röttgen: Es ist immer ganz schwer, wie man im Einzelnen damit umgeht. Ich glaube, dass Sanktionen unser Instrument sind auszudrücken, dass etwas absolut nicht zu akzeptieren ist. Das ist ja auch der Sinn der Sanktionen gegen die Annexion der Krim. Es war niemals die Vorstellung, dass wir dadurch die Annexion der Krim rückgängig machen können, aber es ist der Ausdruck des Nicht-Akzeptierens. Es ist unser politischer Einsatz, dass etwas nicht Schule macht.
Zweitens drückt sich in der Sanktion auch Gemeinsamkeit aus, dass es nicht nur einzelne Stimmen sind, sondern dass es ein gemeinsamer Wille ist, dass er zu Konsequenzen führt. Möglicherweise nimmt man sogar selber Nachteile in Kauf, weil es so wichtig ist, dass das nicht unwidersprochen bleibt. Das drückt die Sanktion aus.
Ein Moratorium als "Pause"
Münchenberg: Sie sagen, gemeinsamer Wille. Machen wir es mal konkret. Die umstrittene Nord Stream 2 Gas-Pipeline, da ist die Lage ja ziemlich verfahren. Deutschland hält offiziell daran fest. Aus vielen EU-Ländern kommt Kritik, zuletzt auch aus Frankreich. Wie könnte da ein Kompromiss aussehen, bei dem alle ihr Gesicht wahren können, am Ende auch die Bundesregierung?
Röttgen: Zunächst mal hat Herr Remme in dem Bericht das, glaube ich, absolut zutreffend geschildert. Die Lage ist inzwischen völlig verfahren und sie ruft nach einer Auflösung. Vielleicht könnte sie so aussehen, dass die EU, Russland, die USA ein Moratorium vereinbaren über den Bau, aber diesmal nicht als Sanktion, sondern als eine Pause, um in Verhandlungen einzutreten – darüber, dass die größte Sorge des Westens ausgeräumt wird, nämlich, dass diese Pipeline als geopolitische Waffe gegen osteuropäische Staaten eingesetzt wird. Das ist der entscheidende Punkt. Das ist ja auch der Kern der Außenpolitik Russlands in Europa, eine Zone zu schaffen von seinen westlichen Nachbarstaaten, denen es die komplette Selbstbestimmung versagt und über die es bestimmen will. Wenn das ausgeschlossen werden könnte durch effektive Regelungen, durch eine Vereinbarung internationaler Art, dann, glaube ich, könnte man auch energiepolitisch kooperieren. Das könnte ein Vorstoß sein, der die geopolitischen Bedenken ausräumt, der aber auch Russlands Interessen entgegenkommt, nämlich einen verlässlichen Rahmen für Energieversorgung zu liefern.
Möglichkeit dauerhafter Kooperation
Münchenberg: Sie sagen, Verzicht bei Nord Stream 2 als geopolitische Waffe. Da ist ja schon die Frage: Wenn es einen solchen Ansatz überhaupt gäbe, wie kann das sichergestellt werden? Es müsste ja dann auch über Sanktionen geredet werden, falls Nichteinhaltung. Das wäre ja schon ein sehr aufwendiger langwieriger Prozess.
Röttgen: Ja! Aber Energieversorgung ist ja auch selber ihrer Natur nach langfristig, auf Dauerhaftigkeit, aber auch für beide Seiten, für den Lieferanten wie für den Empfänger von Energie auf Verlässlichkeit angewiesen. Im Moment gibt es die auf beiden Seiten nicht. Ich selber habe auch immer dafür plädiert, dass wir nicht so tun können, jetzt auch nach dem innenpolitischen Verhalten Russlands, dass wir die außenpolitische Fortsetzung, nämlich Energie-Pipelines, die objektiv die Möglichkeit beinhalten, Länder wie die Ukraine und andere, auch die baltischen Staaten von der Energieversorgung abzuschneiden, dass wir das einfach hinnehmen. Wenn man hier zu einem Moratorium käme, um darüber zu verhandeln, über das Verbot von Energie als politischer Waffe, dann würde man gleichzeitig die Möglichkeit eines dauerhaften kooperativen Rahmens mit der EU, aber übrigens auch mit den USA, die ja Schweröl aus Russland importiert, schaffen können.
"Wir wollen diese Kooperation mit Russland"
Münchenberg: Auf der anderen Seite, wir haben ja vorhin schon darüber gesprochen: Es gibt die innenpolitischen Zustände in Russland, das harte Vorgehen gegen die Opposition. Es gibt auch neuerliche Sanktionsdrohungen aus dem Westen. Wie kann man das sauber trennen, dass man bei Nord Stream 2 sich tatsächlich annähern könnte? Kann man das alles so sauber voneinander trennen?
Röttgen: Man kann es einerseits und andererseits nicht. Es wäre ein weiterer Versuch – so würde ich diese Initiative verstehen – des Westens, mit Russland in Beziehungen zu treten, die von Regeln gestaltet sind, die natürlich effektiv sein müssen, die auch einen Versicherungsschutz haben müssen, wenn gegen die Regel verstoßen wird (zunächst gemeinsame Einrichtungen, die darüber befinden, aber dann am Ende auch Maßnahmen, um es durchzusetzen). Auch meine Kritik an Putins Vorgehen, innenpolitisch, wie aber auch an der Energiepolitik, die ist immer parallel auch erfolgt mit einer ausgestreckten Hand. Wir wollen diese Kooperation mit Russland. Ich bin nur der Überzeugung: Indem wir am Ende immer wirkungslos alles durchgehen lassen, motivieren wir Putin nicht, seine Politik zu verändern. Es wäre ein weiterer Vorstoß, der ja mit einer Leistung Putins beginnt, nämlich Moratorium, dann zu kooperativen Regelungen zu kommen. Das muss eigentlich unser Ziel bleiben und es wäre, wenn beide Seiten diese Leistung erbringen, Moratorium, keine politische Waffe, dafür Kooperation, im allseitigen Interesse und es wäre, glaube ich, gar nicht so schlecht für Deutschland, eine solche Initiative zu prüfen.
"Projekt Nord Stream 2 spaltet"
Münchenberg: Ganz kurz noch, Herr Röttgen. Letzte Frage mit Bitte um kurze Antwort. – Trotzdem hat man den Eindruck, die Bundesregierung bewegt sich da eigentlich keinen Millimeter.
Röttgen: Das hat der Bericht eben deutlich gemacht. Die Bundesregierung muss zunehmend sehen, dass dieses Projekt spaltet, innerhalb Europas, nicht nur von Polen, den Balten, sondern auch gegenüber Frankreich und im transatlantischen Verhältnis, und wir gewinnen dafür nichts, denn mit unserer Energieversorgung hat das ganze Projekt ja gar nichts zu tun.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.