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Roger Willemsen: "Musik! Über ein Lebensgefühl"
Musikerkundungen eines Kettenhörers

Der 2016 verstorbene Roger Willemsen war ein Intellektueller und zugleich ein Unterhalter. Seine Leidenschaft galt der Musik: Er konnte Hörerlebnisse zum Sprechen bringen wie kaum ein zweiter. Seine gesammelten Texte vor allem zum Jazz vereint nun der Band "Musik! Über ein Lebensgefühl".

Von Ulrich Rüdenauer |
Der Schriftsteller Roger Willemsen schaut im Jahr 2012 aus einem Fenster
Roger Willemsen sagte einst: "Musik höre ich wehrlos." (Jens Kalaene/ dpa)
Kettenhörer - ein Begriff, den der Schriftsteller Andreas Neumeister in seinem Roman "Gut laut" verwendet, Kettenhörer also sind artverwandt mit vielen anderen Suchtkranken. Sie schaffen es kaum, den Platten- oder CD-Spieler auszuschalten, können an keinem Musikgeschäft vorbeigehen, ohne dort ihre letzten Euro in Musik einzutauschen, und müssen ihrer meist raumfüllenden Sammlung immer neue Trophäen hinzufügen. Sie schwärmen, schwelgen und schweifen zweckfrei in der Musikhistorie umher, mit funkelnden Augen und offenen Ohren.
Ein Song hat für sie immer eine Geschichte, und die Musiker sind geliebte Familienmitglieder, über die man Anekdoten zu erzählen weiß. Jedes Stück, das ihnen auf den Plattenteller kommt, wird in seiner Eigenart genossen – und weckt den Appetit aufs nächste. Überall gibt es Querverbindungen, Stammbäume oder rhizomatisch wuchernde Zusammenhänge – Musiker, die in den verschiedensten Formationen für Furore gesorgt haben, die einmal als Solisten, dann als Begleiter glänzten; Songs, die vom einen Interpreten ganz klassisch elegant aufgenommen, von einem anderen gegen den Strich gebürstet oder in seine Einzelteile zerlegt wurden.
Wenn jemand einen Lieblingsmusiker nennt, rufen Kettenhörer begeistert zehn andere auf, die ganz ähnlich, aber doch anders und viel besser seien. Die schlimmste Strafe für einen Musiksüchtigen: ein tonloser Tag. Das Methadon-Programm für den Soundabhängigen ist noch nicht erfunden. Die Nebenwirkungen beim Kettenhören sind allerdings meist harmlos und zuweilen sogar für Passivhörer von Nutzen: Kettenhörer sind begeisterungsfähige und begeisternde Menschen; sie wollen ästhetisch Gutes tun.
Ein begnadeter Musikübersetzer
Wo wir bei Roger Willemsen wären, dessen Verehrung der Literatur galt, dessen Liebe aber der Musik vorbehalten war, insbesondere dem Jazz. Musik höre er wehrlos, sagte der 2016 verstorbene Autor einmal. Für kaum etwas sei er so dankbar wie für die Entdeckung neuer, unbekannter, sprechender Musik. Diese erweckenden Hörerlebnisse wiederum zu übersetzen, zum Sprechen zu bringen – dafür schien Roger Willemsen ein Talent zu besitzen wie kaum ein zweiter. Man höre sich nur einmal an, wie er etwa über Stimmen im Jazz spricht:
"Große Stimmen allein machen noch keine großen Sänger, und starke Gefühle noch keinen ausdrucksstarken Gesang. Es ist immer etwas Rätselhaftes im Raum, wenn ein Song stimmig, wenn er auf seine Art evident ist, und manche Stimmen haben mehr Charakter als Technik, hinterlassen aber dennoch den tieferen Eindruck. Es müssen schon viele Dinge zusammenkommen, damit eine Stimme in einem Song geradezu geboren wird und sich in ihm zur Vollkommenheit entfalten kann."
Ein intensives Lebensgefühl
Man konnte Roger Willemsens emphatischen und empathischen Musikerkundungen zu seinen Lebzeiten in diversen Radiosendungen lauschen oder auf Bühnen, wenn er Schallplatten auflegte und selbst über die gespielten Lieder mit einer beeindruckenden Leichtigkeit und Vielschichtigkeit improvisierte. Nun kann man zumindest Ausschnitte aus seinen Programmen auf der gerade erschienenen CD "Musik" nachhören. Und einen großen Teil seiner schriftlich hinterlassenen Beiträge über seine Leidenschaft versammelt der ebenfalls "Musik!" betitelte Band, den Roger Willemsens Nachlass-Verwalterin Insa Wilke herausgegeben hat. Der Untertitel des Buches lautet "Über ein Lebensgefühl", und das ist wichtig. Gibt das doch einen Hinweis auf Willemsens Herangehensweise an seinen Gegenstand: Dieser Autor ist nämlich weder Musikwissenschaftler noch Soziologe. Er ist zuallererst ein schwärmender Hörer, allerdings einer der genauesten und originellsten Zuhörer, die sich ein Musiker nur wünschen kann. Ihn treibt Sehnsucht, nicht das Bedürfnis nach Analyse.
Wie klingt Liebeskummer?
In einem seiner Texte beschreibt er das sehr schön: Ihm gehe es darum, so Willemsen, die Musik namens Jazz einmal nicht nach Zeiten, Chronologien, Stilen, Instrumentengruppen, Regionen zu betrachten, sondern nach ihrem Ausdrucksverhalten, nach den Gefühlen, die in ihr frei werden und die die Musik auf ihre eigene Weise organisiert. Nicht die Geheimsprache der Musikwissenschaft und das Jägerlatein der Eingeweihten sollten gesprochen werden, sondern er möchte lieber fragen – Zitat –, "wie Liebeskummer klingt, wie man Heimweh komponiert oder Abschiedsschmerz". Willemsen ist dem Lyrischen des Jazz auf der Spur, den Geschichten hinter den Stücken, den kleinen Episoden eines Musikerlebens, in denen etwas aufscheint, was in die Seele des Künstlers oder zum Wesenskern eines Liedes, einer Schallplatte führt. Chet Baker, den großen Trompeter und Sänger des West Coast Jazz, würdigt er beispielsweise so:
"Chet Baker – das ist einer jener seltenen Namen der Musikgeschichte, bei dessen Nennung jedes Gegenüber eine Spur weicher wird. Chet Baker steht für die erlaubte Sentimentalität des Mannes, dessen Gefühle in einem Gestus der Coolness vor der Rührseligkeit geschützt sind. Er steht für eine Leidensgeschichte, für den Herzensbrecher mit dem gebrochenen Herzen, umgeben vom Nimbus eines James Dean des Trompetenspiels. Er steht für einen, der seine nicht große, aber unendlich sanftmütige Stimme erhebt, weil er muss, und sei es, dass er nur flüstert, stammelt oder radebrechend von Gefühlen spricht, die unter mehr Festigkeit oder Nachdruck nicht leben könnten."
Eine Autodiskografie
Man erkennt an diesem kurzen Abschnitt zweierlei: Roger Willemsen verfügt über Einfühlungsvermögen, das ein Leben aufzuschlüsseln vermag – nicht ohne Grund galt er als begnadeter Interviewer. Und er erzählt von Musik wie es vielleicht ein Musiker tun würde, hätte er statt Noten Buchstaben zur Verfügung. Es ist eine schöne Beiläufigkeit und zugleich große Ernsthaftigkeit, Charme und Wissenslust, die Willemsens Sprechen und Schreiben auszeichnen. Ob er in einem langen Essay seinem Hausheiligen John Coltrane huldigt oder über afghanische, äthiopische und malische Musik referiert; ob er die geheimen Verbindungslinien zwischen klassischer komponierter Musik und Jazz aufdeckt oder sich satirische Exkurse an den Abgrund der Unterhaltungsindustrie erlaubt – immer ist eine Nähe zu den Objekten seiner Aufmerksamkeit zu spüren.
Wie Fragmente des intensiven Lebens, das Roger Willemsen in der Musik suchte, wirkten diese Texte – schreibt Insa Wilke in ihrem Nachwort, das auch aufschlüsselt, wie akribisch und zugleich spielerisch sie entstanden sind. Viele der im Buch enthaltenen Beiträge lagen bislang in Schriftform nicht vor. Manch andere sind etwa als Booklet-Texte oder Kolumnen an verschiedenen Orten bereits erschienen gewesen. Aber auf diese Weise zusammengebracht, bringen sie eine wichtige, eher vernachlässigte Facette im vielseitigen, immer der Öffentlichkeit zugewandten Werk Roger Willemsens zum Vorschein; und sie liefern nicht zuletzt eine Autodiskografie dieses Kettenhörers. Einer der grundlegenden Essays in diesem Band hat den wegweisenden Titel "An die Musik". Auf der zeitgleich zum Buch bei Roof erscheinenden CD spricht Willemsens Freund und gelegentlicher Auftrittspartner Matthias Brandt diesen Text ein. In ihm ist noch einmal zusammengefasst, welche Leidenschaft in Willemsen wirkte und was ihn zuallererst am Jazz faszinierte:
"Man kann sagen, Jazz sei die klassische Musik des 20. Jahrhunderts. Man kann sagen, er sei Ausdruck der Emanzipation von Diskriminierung und politischer Unterdrückung. Man kann auch sagen, er enthalte die schönsten Formen existentieller Freiheit, er sei Klima, Atem, Luft von vorn, er synchronisiere das Innenleben des modernen Menschen mit der Großstadt, dem Tempo der Bewegungen, den zerstückten Wahrnehmungen, dem Kino, der Erotik. Das alles kann man sagen, und doch wird das Erste, was den empfängt, der in den Jazz eintritt, etwas Grundsätzlicheres sein: Das Lebensgefühl, das Jazz heißt, entwickelt sich in einem Klima der Wahrhaftigkeit, der Geradlinigkeit, der Evidenz. Es ist künstlerisch zugleich so komplex, und andererseits ist es einschüchternd unverblümt, ansteckend 'live' – am Leben."
Roger Willemsen: "Musik! Über ein Lebensgefühl."
Herausgegeben von Insa Wilke.
S. Fischer Verlag. Frankfurt am Main.
512 Seiten. 24 Euro.
Roger Willemsen: "Musik! Gelesen von Matthias Brandt."
Mit zahlreichen Original-Aufnahmen von Roger Willemsen.
Roof Music. 2018. 2 CDs.