"Der vormundschaftliche Staat bestimmt hier bis in die Lehrinhalte hinein das, was gesagt wird und das, was gedacht werden soll."
Unter den DDR-Oppositionellen wirkte Rolf Henrich wie ein Erwachsener unter Halbwüchsigen. Henrich maß in seinem Buch den DDR-Sozialismus an den Postulaten der Aufklärung und fand einen mickrigen Kretin vor, der vorgab, ein potenter Riese zu sein. Und der Autor gab sich selbstbewusst.
"Ich will auf keinen Fall die DDR verlassen, und ich bin für diese Verhältnisse durchaus mitverantwortlich."
Zwar wirkte Henrich noch maßgeblich am Gründungsaufruf des Neuen Forums mit, saß mit am Runden Tisch, zog sich aber dennoch bald aus der Politik zurück, um wieder als Anwalt zu arbeiten. Nun ist Rolf Henrich 75 Jahre alt und schaut auf sein Leben zurück.
"Dieses Buch erzählt die Geschichte einer politischen Desillusionierung. Wie ich mich in den Sechzigern als Student für eine Sache eingesetzt habe, die schon damals mausetot gewesen ist. Ich gehörte zu denen, die bis zu einem gewissen Zeitpunkt dennoch alles geben wollten und nichts dafür verlangten. Später änderte sich das, als ich sah, was auch mit meiner Hilfe angerichtet wurde. Die damit einhergehende 'Selbstpeinigung des reuigen Sünders' hat mir dunkle Stunden beschert."
Unverständnis über eigene frühere Haltung
Henrich ist ein selbstbewusster, starker und eitler Charakter. Und das ist gut für das Buch. Er muss sich nicht verstecken, auch nicht seine Irrtümer. Henrich schreibt mit Mitgefühl, aber immer ohne Sentimentalität über sein junges Ich, betrachtet sich mal nachsichtig, mal mit hochgezogenen Augenbrauen. Am liebsten aber mit dem Skalpell die Lebenslügen und ideologischen Geschwüre freilegend. Mit Staunen, fast Unglauben und leichtem Ekel berichtet Henrich von dem Revolutionär, der er gern gewesen wäre, von dem Stasi-Werkzeug für Aufträge im Westen, das er war, damals vor Stolz fast berstend ob seiner Bedeutung. Dazu passt, dass seine "Kundschaftertätigkeit" endete, als er sich weigerte, kleine Aufträge auszuführen oder Bekannte zu bespitzeln.
"Unheimlich an dem Geschehen war die Gleichgültigkeit gegenüber der vielerorts praktizierten Willkür. Jene Ungerührtheit, die einen Herrn Mustermann ruhig schlafen lässt, während im Polizeirevier nebenan Menschen verprügelt werden. Warum war unser Mitgefühl so vage, so unsäglich schwach? Wie konnten wir eine solche Ideologie und Praxis staatlichen Handelns überhaupt ertragen? Warum waren wir nicht voller Abscheu über die Menschenverachtung des Stalinismus, seine Brutalität bei der Umgestaltung der Welt? Was gab es da, wovon wir sentimental gestimmt nicht loskamen?"
Damit stellt Rolf Henrich quälende Fragen an sich, die viele im Osten heute lieber unterlassen und stattdessen auf ihre Lebensleistungen jenseits der Ideologie verweisen. Henrich studierte Jura. Mit beißendem Spott stellt er die Verrenkungen dar, die ein Recht anstellen muss, wenn es nicht der Gerechtigkeit, sondern einer "Sache", einer Klasse, einer Partei dienen soll.
"Stundenlang wurden wir mit Wörtern, Wendungen und Lehrsätzen traktiert, wenn sie uns auf die 'Parteilichkeit' zugunsten der 'Arbeiterklasse' einzuschwören versuchten. Nicht selten waren die dabei vermittelten Lehrinhalte unverhüllte Anklagen gegen jede rechtliche Formalität und jeglichen Eigensinn des juristischen Denkens, so dass ich mich häufig fragte, ob ich in die falsche Vorlesung geraten sei."
Das Doppelleben als DDR-Anwalt und Dissident
Dennoch: Henrich wurde Anwalt, war selbstverständlich SED-Mitglied. Er verdiente gut, besser als ein Minister, berichtet er, und hatte doch Gewissensbisse, wenn er sah, dass er in politischen Verfahren als Anwalt nichts ausrichten konnte und dass auch in Zivilverfahren der Staat diktatorisch durchgreifen konnte. Henrich zog sich ins Private zurück, aufs Land, umgab sich mit Künstlern und Bohemiens - und musste schließlich doch erkennen, dass es auch dort kein "richtiges Leben im falschen" gab. Rudolf Bahros Buch "Die Alternative. Zur Kritik des real existierenden Sozialismus" wurde 1977 für Henrich zum Erweckungserlebnis.
"Der undemokratische und unfreiheitliche Grundcharakter der DDR konnte danach nicht mehr länger als bloße Deformation einer im Prinzip gegenüber dem Kapitalismus höheren Qualität der Gesellschaftsentwicklung angesehen werden. Er war in erster Linie dem Export des Sowjetsystems durch die Rote Armee und der asiatischen Form der industriellen Mobilmachung geschuldet."
Fortan schrieb Henrich an seinem eigenen Buch, das ein ebensolcher Paukenschlag wie Bahros "Alternative" werden sollte, mit Kritik nicht nur an der Ökonomie, sondern auch an Staat und Recht. In diesen Jahren führte er ein Doppelleben - blieb Anwalt, SED-Genosse, gar Parteisekretär seines Kollegiums. Die dafür notwendige Heuchelei entschuldigt er weit wohlwollender als etwa später den Weg der Bärbel Bohleys, die 1988 die zeitweise Ausreise aus der DDR dem Gefängnis vorzog. Er beschreibt aber auch anschaulich die bleierne Langeweile, den Stillstand der 80er Jahre. Seiner Geringschätzung gegenüber den meist unter dem Dach der Kirche versammelten Oppositionellen, ihrer moralischen Attitüde lässt er immer wieder freien Lauf.
"Nichts von dem, was hier verhandelt wurde, war aus meiner Sicht dazu geeignet, die in ihrem Mündeldasein dahinlebenden DDR-Bürger politisch aufzustacheln, sie auf die Straße zu locken. 'Frieden schaffen ohne Waffen' - darüber lächelten die Arbeiter, denn sie hielten pazifistische Parolen schlicht für Pastorengeschwätz."
Im Frühjahr 1989 veröffentlichte Henrich sein Buch "Der vormundschaftliche Staat" im Westen. Ein Buch der klaren Sprache über die DDR. Im Osten, wo es nicht erscheinen konnte, reiste er daraufhin durchs Land und hielt in Kirchen Vorträge darüber. Zeit hatte er dank Berufsverbot. Im Herbst ´89 gründete er das Neue Forum mit. Seine Schilderungen dieser Zeit, auch die Psychogramme der Beteiligten setzen markante Schlaglichter.
Henrich wirft einen erfrischend unsentimentalen Blick auf die kurze Zeit der Anarchie zwischen Ende ´89 und Anfang ´90, in der die Oppositionellen versuchten, ihre individuellen Träume zu verwirklichen, was sie mit Politik verwechselten, und in der die großen Parteien des Westens, allen voran die CDU, klar auf Machtpolitik setzten, indem sie Gruppierungen und Parteien im Osten unterstützten und/oder vereinnahmten. Henrichs nüchterne, aber auch nicht uneitle Beschreibung ist sowohl für seine Zeitgenossen als auch für später Geborene oder Außenstehende ungemein lesenswert.
Rolf Henrich: "Ausbruch aus der Vormundschaft. Erinnerungen",
Ch. Links Verlag, 381 Seiten, 25 Euro.
Ch. Links Verlag, 381 Seiten, 25 Euro.