In den achtziger Jahren, als nach einer kurzen Phase der Entspannung die Konfrontation zwischen den Blöcken erneut zunahm, die beiden Supermächte auf beschleunigtes Wettrüsten setzten und die durchaus realistische Gefahr bestand, dass die Mitte Europas zum atomaren Gefechtsfeld werden könne, kam es zu einem intensiven Dialog zwischen Vertretern beider deutschen Staaten, bei dem sich vor allem die aus der Opposition heraus agierende SPD auf Neuland vorwagte. Zu den mittlerweile üblichen Gesprächen und Verhandlungen auf der staatlichen Ebene über den sog. Swing, über Kredite für die lahmende DDR-Wirtschaft, Transit- und Besucherfragen kamen Initiativen hinzu, die den Rahmen des Üblichen sprengten.
Die neue Dialogpolitik, die die SPD nach dem Verlust der Regierungsmacht 1982 einleitete, erschien geboten, weil die regierenden Unionsparteien zwar die im Zuge der Entspannungspolitik geschlossenen bilateralen Verträge respektierten, sich aber dennoch allzu unkritisch der Reaganschen Konfrontationspolitik unterwarfen, und sie erschien möglich, weil die spezielle deutsche Bedrohungslage auch bei der SED-Führung das Bedürfnis wachsen ließ, ihren politischen Spielraum gegenüber dem eigenen Großverbündeten zu erweitern. Die intensiven Kontakte zwischen SPD- und SED-Spitze und die in mehreren Arbeitsgruppen geführten Expertengespräche zwischen den beiden Parteien über Fragen der Abrüstung sowie die seit 1985 regelmäßig stattfindenden Diskussionen zwischen der Grundwerte-Kommission der SPD und der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED kulminierten schließlich in der Verabschiedung und Veröffentlichung des von SPD und SED gemeinsam verantworteten Papiers "Der Streit der Ideologien und die gemeinsame Sicherheit". Dieser Dialogprozess, seine historischen Bedingungen und das Verhalten der Akteure beider Seiten, vor allem aber das spektakuläre Ergebnis, das SPD-SED-Papier, seine Rezeption und Wirkung auf beiden Seiten der Mauer ist der Gegenstand des Reißigschen Buches. Reißig, selbst an den Diskussionen zwischen der Grundwerte-Kommission und der Akademie für Gesellschaftswissenschaften auf Seiten der SED beteiligt, hat aus Bergen von Akten und vielen Interviews mit Beteiligten den Ablauf, die Hintergründe und die Auswirkungen der Gespräche akribisch rekonstruiert.
Das eigentlich Neue des Dialogs bestand darin, dass zum ersten Mal seit der Spaltung der Arbeiterbewegung offen und hart über ideologische Grundfragen diskutiert wurde. Dass dabei grundsätzliche Differenzen zwischen SPD und SED, vor allem in Fragen der Demokratie und der Menschenrechte, deutlich wurden, verwundert nicht. Erstaunlich ist vielmehr, dass die SED sich zum ersten Mal zu Grundregeln eines ergebnisoffenen demokratischen Dialogs bekannte, die sie zuvor stets strikt abgelehnt hatte.
Für die SED kamen zentrale Implikationen des Papiers einer kaum verhüllten Revision fundamentaler Grundannahmen der marxistisch-leninistischen Parteiideologie gleich. Keine Rede mehr vom Feindbild 'Sozialdemokratismus’, vom 'aggressiven und absterbenden Imperialismus’, vom 'Konzept eines revolutionären Weltprozesses’, der 'Epoche des weltweiten Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus’ und von der 'historischen Überlegenheit und dem gesetzmäßigen Sieg des Sozialismus’.
Erstaunlich auch die im Klima von Glasnost und Perestroika auf der Seite der SED sichtbar werdenden Auffassungsunterschiede. Dies zeigte sich besonders in den ersten Wochen nach der Veröffentlichung des Papiers.
Was hier in der SED ablief, war die lebhafteste, interessanteste und auch strittigste Diskussion seit Jahren, wahrscheinlich sogar seit den in den sechziger Jahren geführten Diskussionen um das Neue Ökonomische System und um den Prager Frühling 1968.
Als das gemeinsame Papier erarbeitet und schließlich am 27. August 1987 in Ost und West gleichzeitig veröffentlicht wurde, war die DDR-Führung noch nicht explizit auf Gegenkurs zu Gorbatschow gegangen. Dass das Papier die außenpolitische Dimension der gemeinsamen Sicherheit mit der innenpolitischen Forderung nach Öffnung und Dialogfähigkeit verknüpfte und die SED mit ihrer Unterschrift zugleich die Grundsätze der pluralistischen Demokratie anerkannte, wurde damals weithin als Sensation und als Zeichen der Hoffnung empfunden. Nicht nur den kritischen Kräften in der SED, sondern auch vielen Aktivisten der Bürgerrechtsbewegung diente das Papier als Appelationsgrund. So erinnert sich Rainer Eppelmann, damals eine der Führungsfiguren in der Bürgerrechtsbewegung:
SPD und SED hatten ein gemeinsames Ideologiepapier verabschiedet, in dem die Einheitspartei sich unter anderem dazu verpflichtete, den Streit der Ideen in der DDR zuzulassen. Darauf konnten wir uns in der Folge berufen, wenn wir die Führung kritisierten.
Freilich zeigte sich bald, dass die SED-Führung nicht bereit war, praktisch einzulösen, was sie unterschrieben hatte, d.h. den offenen Dialog mit ihren Kritikern auch innerhalb der DDR zu führen. Oppositionelle in der SED und Bürgerrechtler, die sich auf das Papier beriefen, wurden alsbald in altbewährter Manier zur Ordnung gerufen. Auch in den Gesprächsrunden zwischen der Grundwerte-Kommission und der Akademie für Gesellschaftswissenschaften wurde das Klima frostiger, bis Erhard Eppler schließlich im Frühjahr 1989 für die Grundwerte-Kommission erklärte, dass er keinen Sinn mehr in der Fortsetzung des Dialogs sehe.
Nach 1989 ist das Papier vor allem von konservativer Seite als Dokument der "Anbiederung" (Volker Rühe) diffamiert worden. Wer aber das Buch von Rolf Reißig liest, findet dort nicht nur überzeugende Belege dafür, dass von "Kungelei", "Verbrüderung" und "Anbiederung" keine Rede sein kann, sondern erfährt auch, in welchem Maße das Papier innerhalb der SED zur Auflösung alter Feindbilder und zur ideologischen Differenzierung beigetragen hat, eine Wirkung, die womöglich neben der Politik Gorbatschows entscheidend dafür war, dass zwei Jahre später ein unblutiger Systemwechsel in Ostdeutschland möglich wurde.
Reißigs Buch beleuchtet ein spannendes Stück Zeitgeschichte und gibt Einblicke, die nur ein Insider zu geben vermag. Das eigene Engagement versteckt der
nicht, beweist aber, dass es durchaus mit Fairness und Objektivität des Urteils vereinbar ist. Am Ende seines Buches kommt er denn auch zu einer Bewertung, die sich angenehm von den parteipolitisch motivierten einseitigen Stellungnahmen anderer abhebt:
Die Politik des Dialogs hat trotz ihrer Fehlannahmen, Illusionen und Inkonsequenzen mehr zur Öffnung der geschlossenen Ost-West-Strukturen beigetragen, als es eine unnachgiebige Haltung des Abstandhaltens vermocht hätte.
Soweit Johano Strasser. Er besprach das Buch von Rolf Reißig: Dialog durch die Mauer. Die umstrittene Annäherung von SPD und SED. Mit einem Nachwort von Erhard Eppler. Campus Verlag 2002. 449 Seiten. Kostenpunkt: 29 Euro 90.