"Und ich muss ganz ehrlich sagen, wenn wir jetzt anfangen uns noch entschuldigen müssen dafür, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen, dann ist das nicht mein Land."
Mit diesen Worten reagierte Bundeskanzlerin Angela Merkel vor wenigen Tagen auf die Kritik einiger EU Länder, Deutschland, so hörte man, würde mit seiner Willkommenskultur für Flüchtlinge ein falsches Signal setzen.
"Wenn wir ein Nationalstaat wären, dann wäre das ganz selbstverständlich, dass einheitlich entschieden werden muss gegenüber den Flüchtlingen. Aber wir sind es eben nicht."
"Von Anfang an unfair"
Kommentiert der Völker- und Europarechtler Professor Christian Tomuschat von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Die Dublin-Regelung, wonach Menschen, die Asyl begehren, sich im Ersteinreiseland registrieren lassen müssen, war von vorn herein problematisch, sagt er.
"Das war etwa für ein Land wie Deutschland eine ganz feine Sache. Damit wurde die Verantwortung auf die Grenzländer Italien, Griechenland, Malta abgeschoben. Also das war von Anfang an irgendwie unfair."
In der Europäischen Union müssen unterschiedliche Kulturen einen Konsens miteinander finden. Aber jeder Nationalstaat hat seine ganz eigene Geschichte. Zum Beispiel Ungarn, dessen Einreisepolitik in Deutschland mit Befremden betrachtet wird.
"Mein Eindruck ist, dass sich Ungarn als ein relativ armes Land noch empfindet, das gar nicht in der Lage ist zunächst auch nur wirtschaftlich, die Fürsorge für Zehntausende oder Hunderttausende von Menschen zu übernehmen. Und das Zweite ist wohl auch die Vergangenheit eines Ungarn, wo ein christliches Ungarn im Kampf stand gegen die türkischen Eroberungszüge."
Nicht überall herrscht Solidarität
Also gegen die Muslime. Weshalb die Ungarn nur Christen ins Land lassen wollen. Und sich damit die Empörung anderer EU Staaten einhandeln.
"Gerade so nach Osten hin, da fehlt es an diesen Kommunikationsbrücken, die ja ganz wesentlich sind für das Gefühl und die Tatsache einer echten Zusammengehörigkeit."
Wo wenig Zusammengehörigkeit da fehlt es auch Solidarität. Und an Verständnis. Das betrifft nicht nur Ost und West. Sondern auch Nord und Süd, behauptet Professor Martin Baumeister, Direktor des Deutschen Historischen Instituts Rom.
"Der Süden als ne absolute Sehnsuchtsregion mit enorm großer Attraktivität und einer fast erotischen Aufladung. So landschaftlich, kulinarisch und ich weiß nicht was. Auf der anderen Seite eben der Süden, der in jeder Hinsicht versagt. Politisch, ökonomisch, moralisch."
"Die Deutschen schlussfolgern aus Schulden Schuld", kommentierte unlängst der italienische "Corriere della Sierra". Und, so der Historiker, bis heute gehen Schuldzuschreibungen sogar mit Konfessionsstereotypen einher.
"Also die verlotterten Katholiken, die es nicht so genau nehmen im Vergleich zu den pflichtbewussten, unkorrupten Protestanten. Das sind also beliebte Klischees, die sehr, sehr tief zurückweisen, bis in die frühe Neuzeit."
Beten, beichten, dolce vita – so sehen die Nordeuropäer den Süden, sagt Martin Baumeister. Dabei übersehen sie geflissentlich, wie viel z.B. Italien schon für Flüchtlinge getan hat.
"Etwa Mare Nostrum, wo man Zehntausende von Flüchtlingen gerettet hat. Und diese Aktion wurde nicht umsonst etwa von Leuten wie Ruppert Neudeck sehr gelobt. Und ob die Europäische Union das jetzt in ihrer Regie besser macht, will ich sehr bezweifeln."
Was die Länder der EU eint, sei das gemeinsame Bekenntnis zur Demokratie, so die Politikwissenschaftlerin Dr. Ulrike Borchardt von der Uni Hamburg. In Bezug auf die Flüchtlinge gibt es da allerdings einen Haken.
Ein Dilemma für die EU
"Diese Selbstdefinition Demokratie zu der natürlich auch das Bekenntnis zu Menschenrechten zählt, gerät natürlich also total ins Schleudern, wenn man sieht, was an den Außengrenzen der Europäische Union passiert und wie die Europäische Union sozusagen die Flüchtlingspolitik bisher gemanaged hat. Also wenn man sich die Zahl der Toten im Mittelmeer ankuckt. Das sind im Prinzip alles Menschenleben, die auf Kosten der Europäischen Union-Politik gehen."
Ein ziemliches Dilemma in dem Europa steckt. Einerseits ziehen die Staaten bei der Abwehr von Flüchtlingen alle an einem Strang. Andrerseits kocht jeder sein eigenes Süppchen, sagt Ulrike Borchardt.
"Die Europäische Union, die behauptet ja schon seit mindestens 20 Jahren, es gebe eine gemeinsame europäische Asyl- und Flüchtlingspolitik. Auf dem Papier gibt es die auch. Nur es sind nach wie vor die Nationalstaaten, die darüber entscheiden, wie wird diese Richtlinie umgesetzt. Die Europäische Union ist kein Staat. Und trotzdem tut sie so, gerade was diese Europäische Asyl- und Flüchtlingspolitik betrifft, als sie sei ein Staat."
In anderen Kontinenten, beispielsweise den USA, kommt das Konstrukt Vereintes Europa derzeit gar nicht vor, weiß der Soziologe Professor Torsten Heinemann von der Universität Hamburg. Er lehrt gerade als Marie Curie Fellow an der University of California in Berkeley.
"Wenn sie also beispielsweise die 'New York Times' aufschlagen, dann finden sie kaum Berichterstattung über die Europäische Union. Sehr viel aber zu den einzelnen Nationalstaaten. Also beispielsweise dazu wie Deutschland in ner positiven Weise mit der Flüchtlingskrise umgeht. Wenn wir noch mal an die Idee des Europäischen Gedankens denken, an das Zusammenwachsen, an die Integration. Dann ist es schon erschreckend zu sehen, dass gerade das so wenig wahrgenommen wird. Und dass vor allem die Konfliktlinien wahrgenommen werden."
An der Grenze der Handlungsfähigkeit
Europa scheint derzeit an Grenzen der Handlungsfähigkeit zu kommen. Eigeninteressen und populistische Strömungen werfen die Frage auf, was will die Europäische Union sein? Und wohin soll sie sich entwickeln? Im negativen Fall, so Torsten Heinemann, könnte sie sich wieder aufspalten in einen östlichen Rest und das Kerneuropa. Sozusagen eine Europäische Union plus.
"Wo man sich stärker abstimmt und auch wegkommt von diesem Prinzip der einstimmigen Entscheidungen hin zu einem Prinzip von Mehrheitsentscheidungen, wo dann auch mal Kompromisse durchgesetzt werden gegen den Willen von bestimmten Nationen oder Staaten."
Aber, so der Soziologe, man müsse auch sehen, dass die kulturellen und politischen Konflikte schon innerhalb der Landesgrenzen anfingen.
"Wenn sie an Bayern beispielsweise denken, wo es zum Teil eben gerade auf der politischen Ebene doch deutlich unterschiedliche Stimmen bezüglich der Flüchtlingskrise gibt im Vergleich zur Regierung in Berlin."
Die Europäische Union ist eigentlich etwas Großartiges, sagt Martin Baumeister aus Rom. Aber die Öffentlichkeit, die Parlamente und die Menschen in den Ländern sind immer noch national ausgerichtet.
"Man interessiert sich höchstens, wenn man in Deutschland lebt, gestärkt für Großbritannien, Frankreich vielleicht und dann vielleicht viel mehr für die USA. Man kann nicht überall hinschauen. Aber man sollte doch meinen, wir stehen mittlerweile auf einem Niveau, wo es so etwas wie eine europäische Öffentlichkeit geben sollte.