Die Auseinandersetzung mit dem übergriffigen Kuss, den der spanische Verbandspräsident Luis Rubiales der Fußballerin Jennifer Hermoso nach dem WM-Sieg der Spanierinnen aufgezwungen hatte, erfuhr am Montag eine weitere, eher bizarre Umdrehung: Die Mutter des Verbandschefs hatte sich in eine Kirche eingeschlossen und angekündigt, in einen Hungerstreik zu treten, aus Protest gegen die, wie sie es bezeichnet, Jagd auf ihren Sohn.
Selbst als oder gerade weil die wichtigsten europäischen Tageszeitungen nun auch über diese Entwicklung berichten, ist in sozialen Netzwerken zu vernehmen, dass die Zwangsbeschmatzung durch Rubiales aufgebauscht werde, das Presseecho in keinem Verhältnis stünde zu dem, was vorgefallen war. Vor allem, wenn jetzt jede kuriose Entwicklung zu einer neuen Meldung werde. Auch von prominenten Stimmen hörte man im Laufe der Woche die augenrollende Kritik, ob es denn keine wichtigeren Themen gäbe.
„Hund beißt Mann“ - oder die Frage der Nachrichtenfaktoren
Nun, wir können das ja ganz handwerklich betrachten: Bei der Einschätzung, ob ein Ereignis publizistisch relevant ist, bewertet man unter anderem die Nachrichtenfaktoren. Also Eigenschaften von Ereignissen, die bei der Beantwortung der Frage "Hat das einen berichterstatterischen Wert?" helfen.
Manche Nachrichtenfaktoren sind universell gültig, wie zum Beispiel die Eindeutigkeit einer Information, die Wichtigkeit, die Identifikationsmöglichkeit, die emotionale und geografische Nähe, die Überraschung. Andere funktionieren in westlichen Nachrichtenlandschaften stärker, wie beispielsweise Personalisierung und Negativismus. „Hund beißt Mann“ hat kaum Nachrichtenwert, „Mann beißt Hund“ schon eher, „Trump beißt Hund“ wäre eine Meldung, „Habeck beißt Hund tot“ ein Skandal. Je mehr solcher Faktoren, desto wahrscheinlicher die Vermeldung.
Nun ist bei diesem Zwangskuss alles da: Ein in einer sehr populären Sportart mächtiger Mann überschreitet vor etlichen Kameras die körperliche Grenze einer Sportlerin unmittelbar nach ihrem Sieg. Es ist eindeutig, negativ, es kam unerwartet, es ist mit den beiden Akteuren personalisiert und hat Identifikationspotenzial. Und dennoch scheint das Ganze manchen zu trivial, um so viel Medienaufmerksamkeit zu legitimieren, weil ihnen die Handlung an sich trivial erscheint, ein Kuss, und jede weitere Umdrehung dementsprechend unnötig in der Abbildung.
Es geht um das Recht auf körperliche Souveränität
Aber das ist genau der Punkt, es ist eben viel mehr als das: Es ist die Demonstration dessen, was Männer in Machtpositionen aus Gewohnheit glauben machen zu können, eben, weil sie es, wie manche im Publikum auch, nicht als das Problem wahrnehmen, das es ist. Solange dieses Bewusstsein nicht da ist, scheinen mir die weiteren Meldungen legitim. Die Intensität der Berichterstattung bildet nicht den unaufgeforderten Kuss ab, sondern die Selbstverständlichkeit, mit der hier soziale Normen verletzt wurden, wie z.B. Gleichberechtigung oder das Recht auf körperliche Souveränität.
Eine neue Information ist nach dem Philosophen Gregory Bateson ein “Unterschied, der einen Unterschied macht“. Übertragen auf Medienlogik könnte man sagen, dass Meldungen Informationen oder Ereignisse sind, die einen Unterschied machen – und deshalb zur Nachricht werden. Dieser aufgedrängte Kuss ist auf traurige Art ein Unterschied, der einen Unterschied macht. Denn er verdeutlicht, dass das Recht einer Frau, nicht gegen ihren Willen angefasst zu werden, immer noch derart wenig ernst genommen wird, dass man es tatsächlich verteidigen muss, wenn darüber angeblich zu viel berichtet wird.