Marc Thörner: Frau Callamard, der türkische Geheimdienst hat mit Mikrophonen im Inneren des saudischen Generalkonsulats die Vorgänge rund um den Mord an Jamal Khashoggi mitgeschnitten. Wie konnten Sie Zugang zu diesem Material bekommen?
Agnès Callamard: Zunächst einmal hat es ziemlicher Verhandlungen bedurft, um Zugang zu diesem Audiomaterial zu erhalten. Ich habe der türkischen Regierung erklärt: Wenn ich nicht mindestens das Audiomaterial anhören kann, dann wird es für mich überaus schwierig sein, den Fall mit der gebotenen Sorgfalt zu untersuchen.
Während dieser Anhörung waren die Vertreter des türkischen Geheimdienstes anwesend. Sie sagten mir, dass ich keinerlei Notizen machen durfte. Und sie nahmen mir auch wieder das Transkript ab, das sie mir vorher von den Audios gegeben hatten.
Saudischer Kronprinz Salman übernimmt politische Verantwortung
Der saudische Kronprinz Salman sagte unterdessen gegenüber dem US-Sender CBS, er übernehme die Verantwortung für das Verbrechen, habe aber vor der Tat nichts davon gewusst. Er könne schließlich nicht wissen, was jeder einzelne der etwa drei Millionen saudischen Staatsbediensteten täglich tue und lasse.
Der saudische Kronprinz Salman sagte unterdessen gegenüber dem US-Sender CBS, er übernehme die Verantwortung für das Verbrechen, habe aber vor der Tat nichts davon gewusst. Er könne schließlich nicht wissen, was jeder einzelne der etwa drei Millionen saudischen Staatsbediensteten täglich tue und lasse.
"Wirklich grausig waren die Geräusche"
Thörner: Diese Mitschnitte anzuhören, muss manchmal ziemlich grauenvoll gewesen sein.
Callamard: Ja. Es war wahrscheinlich noch weitaus schlimmer anzuhören für alle, die Arabisch sprachen. Die Worte wurden mir von meinem Übersetzer übermittelt. Er bekam den Schock viel direkter ab als ich. Was wirklich grausig war, das waren die Geräusche, die wir hörten. Manchmal waren sie etwas schwer zu interpretieren, aber man konnte auf jeden Fall hören, dass sich ein Handgemenge abspielte und dass da jemand um sein Überleben kämpfte.
Thörner: Hätte der Journalist und politische Beobachter Jamal Khashoggi Grund haben müssen, vorsichtig zu sein?
Callamard: Ich glaube, er fürchtete nichts. Was er während der 10 bis 15 verhängnisvollen Minuten selber sagte, zeigt, dass er nicht glauben konnte, dass sein Leben in einem Konsulat gefährdet sein könnte.
Thörner: Dann wurde Khashoggi im Innern des Konsulats in ein Büro gebeten. Wer sprach dort mit ihm und was wurde er gefragt?
Callamard: Was mir bemerkenswert erscheint, ist, wie schnell das Ganze ging. Es dauerte maximal 20 Minuten, von dem Moment, an dem er das Konsulat betrat bis zu dem, an dem er offensichtlich tot war. In dieser Zeit gab es ein kurzes Gespräch darüber, dass er nach Saudi-Arabien zurückkehren sollte. Die saudischen Offiziellen im Raum forderten ihn wiederholt auf, nach Saudi-Arabien zurückzukommen. Sie wollten, dass er seinen Sohn kontaktiert. Und sie setzten ihn mehr und mehr unter Druck, damit er ihren Forderungen nachgab.
Stranguliert oder erstickt
Thörner: Wie spielte sich der Mord dann selber ab, was geht aus dem Audiomaterial hervor, das Sie hören konnten?
Callamard: Das Audiomaterial selber erzählt keine eindeutige Geschichte. Man muss es interpretieren. Dazu habe ich die Expertise von Experten eingeholt. Nach dem übereinstimmenden Urteil mehrerer von ihnen, wurde er stranguliert oder erstickt. Möglicherweise wurde ihm eine Plastiktüte über den Kopf gezogen.
Thörner: Ich glaube, man hört auf den Mitschnitten sogar das Geräusch von Plastikfolien?
Callamard: Ja, man hört das Geräusch von Plastik. Und das könnte mit dem nächsten Schritt zusammenhängen, in dem man von Mr. Khashoggis Körper die Gliedmaßen abtrennte. Ich sage: könnte. Denn wie gesagt, die Geräusche muss man interpretieren. Und die vorherrschende Interpretation läuft darauf hinaus, dass man Plastik auf dem Boden ausbreitete. Darauf legte man den Körper. Und dann nahm man ihn auseinander.
Thörner: Es gibt eine offizielle saudische Erklärung, es habe sich um eine Operation gehandelt, die aus dem Ruder lief. Aber selbst wenn sie aus dem Ruder lief, wäre dieser Plan dann kein Verbrechen gewesen?
Callamard: Der erste und wichtigste Punkt dabei ist dieser: Die 15 Personen, um die es dabei geht, hielten sich in offizieller Mission auf. Sie kamen mit einem Privatjet, der mit Diplomatenstatus unterwegs war. Zwei von ihnen hatten Diplomatenpässe. Sie begingen ihr Verbrechen in einem staatlichen Gebäude, einem Konsulat. Viele ihrer Auslagen bezahlte der saudische Staat. Und so weiter und so fort. Die Erklärung, dass diese einzelnen Personen sich verbrecherisch verhielten, wird durch die Fakten Lügen gestraft. Die Bänder, die ich angehört habe, umfassen viele Unterhaltungen, die sich im Vorfeld des Mordes abgespielt haben. Und diese Unterhaltungen deuten auf eine Planung der Tat, auf einen Tatvorsatz hin.
Ob das Hauptziel nun in einer Entführung oder in einem Mord bestand – beide Ziele wären ungesetzlich. Und bei beiden Zielen handelt es sich laut internationalem Recht um Verbrechen. Meine Schlussfolgerung ist: Mindestens 24 Stunden vor dem Mord wurde der Mord geplant. Das geht aus der Tatsache hervor, dass ein Gerichtsmediziner ins Team aufgenommen wurde, und zwar mindestens 24 Stunden vor der Tat.
Es geht auch daraus hervor, dass 15 bis 20 Minuten ehe Mr. Khashoggi das Konsulat betrat, derselbe Gerichtsmediziner darüber sprach, auf welche Art und Weise er Khashoggis Körper auseinandernehmen würde. Alle diese Punkte lassen nur zwei oder drei Schlussfolgerungen zu. Erstens: Es war ein organisiertes und geplantes Verbrechen. Zweitens: Der Mord war Teil der Planung und des Tatvorsatzes. Drittens: Saudi-Arabien ist als Staat unmittelbar beteiligt.
Weitreichende Verantwortlichkeit des Kronprinzen
Thörner: Wie weit lässt sich die Befehlskette nach oben verfolgen, wo hört sie auf: Beim Vizegeheimdienstchef Ahmed Asiri oder beim Berater des Kronprinzen, Saud al Qahtani?
Callamard: In meinem Report habe ich darauf hingewiesen, dass diese Art der Verantwortlichkeit dem Kronprinzen zugeschrieben werden kann und zwar aufgrund seiner sehr weitreichenden Verantwortlichkeit. Die Mehrheit der Personen in dem 15-köpfigen Team unterstand ihm direkt oder indirekt. Außerdem wird Mr. Saud al Qahtani vom saudischen Generalstaatsanwalt als einer derjenigen angegeben, die zu dem Verbrechen angestiftet, wenn nicht sogar das Verbrechen angeordnet haben.
Es ist bekannt, dass er das 15-köpfige Team vor der Abreise aufgefordert hat, Mr. Khashoggi zurückzubringen, weil er eine Bedrohung für die Nation sei. Nach diesem Stand des Wissens ist Mr. Saud al Qahtani für ein Verbrechen verantwortlich, ebenso wie für eine Menschenrechtsverletzung.
Mr. Saud al Qahtani ist ein sehr enger Berater des Kronprinzen. Deshalb kann das Verhältnis zwischen dem Kronprinzen und Mr. Saud al Qahtani Grund für die Annahme auf eine strafrechtliche Verantwortung des Kronprinzen liefern. Aufgrund all dieser Fakten gibt es für mich wenig Zweifel, dass dem Kronprinzen eine strafrechtliche Verantwortung zugewiesen werden kann, auch wenn ich nicht eindeutig feststellen kann, ob er den Mord anordnete, ob er ihn anstiftete oder ob er versäumte, das Verbrechen zu vereiteln.
Es handelt sich um einen staatlichen Mord. Es handelt sich nicht um eine Operation einzelner Krimineller. Es ist ein staatlich ausgeführter Mord. Deshalb müssen Verantwortliche des Staates dafür zur Rechenschaft gezogen werden. Was man dabei vielleicht noch erwähnen muss: Seit einigen Tagen sind Gerüchte aufgetreten, die besagen, dass Mr. Saud al Qahtani umgebracht wurde.
Verletzung einer internationalen Konvention
Thörner: Fordern Sie internationale Sanktionen gegen den Kronprinzen, gegen den Berater des Kronprinzen, Saud al Qahtani – vorausgesetzt er lebt noch – oder gegen den Staat Saudi Arabien?
Callamard: Ja. Es war ein Mord außerhalb des Staatsgebietes. Was schon allein eine Verletzung der UN-Charta darstellt. Der Mord ging einher mit einem Verschwinden. Hier haben wir es mit der Verletzung einer internationalen Konvention zu tun. Der Mord ging außerdem einher mit Folter, Verletzung einer anderen internationalen Konvention. Und er fand in einem Konsulat statt. Was ein weiterer Verstoß gegen eine internationale Konvention ist, der Wiener Konvention.
Aus diesem Grund handelt es sich aus meiner Sicht um ein internationales Verbrechen, demgegenüber die internationale Rechtsprechung anzuwenden ist. Und das bedeutet, dass jeder, der mit dem Mord zu tun haben kann, was den Kronprinzen von Saudi-Arabien höchstwahrscheinlich miteinschließt, der internationalen Strafverfolgung unterliegt, sobald sie sich außerhalb Saudi-Arabiens begeben, und zwar in Länder, die internationale Strafgerichtsbarkeit anerkennen.
Thörner: Früher oder später werden europäische und deutsche Politiker auf internationalen Foren dem Kronprinzen von Saudi-Arabien begegnen. Würden Sie einem deutschen Minister raten, ihm die Hand zu schütteln?
Callamard: Ich würde Ihnen sagen: Tut das nicht. Ist das so schwer? Schüttelt ihm nicht die Hand! Das ist das Minimum. Und ich würde Ihnen sagen: In euren Interviews und Statements weicht nicht davon ab, dass Deutschland und hoffentlich auch andere, dass der deutsche Außenminister keine Menschenrechtsverletzungen hinnehmen wird und kann, keine gezielten Morde und keine Straflosigkeit.
Das G-20-Treffen sollte das warnende Exempel sein, das letzte im Juni. Was haben wir da gesehen? Wir haben den Präsidenten der Vereinigten Staaten, Donald Trump gesehen, wie er den saudischen Kronprinzen freundschaftlich bei den Schultern nahm, wie er ihn bei den Händen hielt, um seine Freundschaft mit ihm zu demonstrieren. Die Botschaft war sehr klar. Es war eine politische Botschaft, die für die internationale Gemeinschaft gedacht war und die besagte: Egal, was über den Kronprinzen festgestellt und über ihn gesagt wird: Er gehört zu uns.
Solche Treffen werden von Persönlichkeiten wie dem US-Präsidenten instrumentalisiert. Und keiner stand gegen diese eindeutige Politisierung auf. Derartige G-20-Gipfel, Außenministertreffen, müssen stattdessen genutzt werden, um die Politisierung durch einige der anwesenden Akteure zu stoppen. Sie müssen genutzt werden, um die Bekundung des "business as usual" zu stoppen. Wenn bei solchen Treffen irgendjemand versucht sein sollte, in puncto Menschenrechtsverletzungen seine Freundschaft, seine Komplizenschaft zu bekunden, müssen die anderen Anwesenden dagegen aufstehen. Und sie müssen ihren Mund aufmachen. Es ist inakzeptabel, dass sie einfach schweigen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.