Im Februar dieses Jahres gingen Tausende in Budapest auf die Straße. Mit dabei auch Nikola Csemer aus Gyöngyöspata. Jahrelang war die Romni in ihrer Heimatstadt im Nordosten Ungarns getrennt von den "weißen" ungarischen Kindern zur Schule gegangen.
Im ungarischen Fernsehsender RTL Klub erzählte Nikola Csemer von ihrer Schulzeit: "Wir durften nur auf das Klo in der oberen Etage gehen, das war so wie ein Plumpsklo draußen, die Spülung ging nicht. Und wenn man es doch gemacht hat, haben die Lehrer mit uns gestritten, mit welchem Recht wir nach oben auf die Toilette gehen."
Auch über den Unterricht weiß sie nichts Gutes zu berichten: Fünfte bis siebte Klasse in einem Raum. Dort hat sie mit Dávid Berki die Schulbank gedrückt – nicht sehr erfolgreich, sagt der künftige Mann der 21-Jährigen.
"Deshalb konnte ich nicht weiter lernen. Ich schreibe so schlecht, dass man es nicht lesen kann. Lesen geht gar nicht. Deswegen finde ich Jobs nur hier im Ort, helfe etwa bei der Weinlese."
Orbán: "Ich werde das nicht zulassen"
Die beiden und 60 andere ehemalige Schulkinder aus Gyöngyöspata hatten – unterstützt von der Stiftung "Chancen für benachteiligte Kinder", kurz CFCF – geklagt. Das Oberste Gericht Ungarns bestätigte das erstinstanzliche Urteil: Fast 280.000 Euro Entschädigung für die Diskriminierung im Klassenzimmer sind fällig. Der Regierung Orbán passt das nicht. Im staatlichen Rundfunk offenbarte der Premier – selbst Jurist – seine Rechtsauffassung.
"Ich sehe das ganz einfach so: Können sich die Ungarn in ihren eigenen Städten und Dörfern zu Hause fühlen? Kann eine Minderheit so ein Netzwerk aufbauen, dass sie ihren Willen der Mehrheit aufzwingt? Es ist nicht zu akzeptieren, dass sich die Mehrheit in ihren Städten und Dörfern nicht zu Hause fühlt. Als Ministerpräsident werde ich das nicht zulassen. Denn das ist schließlich unser Land, das der Hier-Geborenen."
Dem Gesetz werde zwar Genüge getan, so Orbán weiter. Aber nicht dem Gerechtigkeitsempfinden. Eine rassistische Argumentation, eines europäischen Regierungschefs unwürdig, urteilt Roma-Aktivist Jenö Setét, der die Klage von Gyöngyöspata unterstützt hat. Er schätzt, dass in gut 500 ungarischen Gemeinden Roma-Schüler noch getrennt unterrichtet werden. Aus der Zivilgesellschaft, die die Regierung Orbán drangsaliert, kommen andere Ideen.
Die Roma-Elite soll gefördert werden
Die Stiftung CFCF, die die Klagen losgetreten hat, hat vor einigen Jahren in dem nordungarischen Ort Piliscsaba ein Integrationsprojekt gestartet: "Mellém ülsz" – Du sitzt neben mir. Kinder und Eltern, "weiße" Ungarn wie Roma sollten sich kennen lernen – und miteinander lernen. Projekt-Mitarbeiter Tibor Kis sagt im gleichnamigen Film.
"Wir dürfen nicht aufgrund von kurzfristigen Interessen und Überlegungen heraus über die Zukunft unserer Kinder entscheiden. Das Resultat wird erst nach beharrlicher Arbeit in 20, 25 Jahren zu sehen sein. Wenn wir glauben, es gibt hier zu viele Menschen, die von Roma-Feindlichkeit aufgeheizt sind, dann geht es hier nie vorwärts."
Bereits Mitte der 1990er Jahre wurden das Gandhi-Gymnasium im südungarischen Pécs und die Ambédkár-Schule in Miskolc von Roma-Intellektuellen ins Leben gerufen. Die Idee: Eine Roma-Elite fördern, die muss man laut einer Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung nämlich mit der Lupe suchen. Jeder vierte schafft keinen Schulabschluss.
Anders im Gandhi-Gymnasium. In beiden Einrichtungen gehören Schüler wie Lehrer der Ethnie an. Csaba Lakatos etwa kam aus armen Verhältnissen, war erst Schüler und wurde dann selbst Lehrer am Gandhi-Gymnasium. Eine seiner Aufgaben als Lehrer: Werben für Bildung in den Familien.
"Als Klassenlehrer und in anderer Funktion haben wir bestimmt mehr als 200 Familien besucht. Leider ist es so, dass es in vielen Roma-Familien keine Bücher gibt. Wenn wir losgehen, müssen wir auch daran denken."
Stolz auf die eigene Kultur entwickeln
Das Gandhi-Gymnasium ist ein sogenanntes Kollégium: Unter der Woche sind die Schülerinnen und Schüler in Pécs, wohnen also auch in der Schule. Am Wochenende sind sie zu Hause. Die Schüler tragen als Vorbilder das Bildungs-Ideal in die Familien, indem sie Vorbild sind.
"Auf die Eltern haben sie vielleicht nicht so einen großen Einfluss. Aber auf die jüngeren Geschwister. Sie interessieren sich für das, was sie lernen. Wir haben hier Familien mit zwei, drei Geschwistern hier. Das zeigt, dass die Leute uns vertrauen und dass das Gandhi-Gymnasium etwas bewirkt."
Csaba Lakatos hat das Gymnasium mittlerweile wieder verlassen. Er hatte an der Schule den Roma-Dialekt Lovári unterrichtet. Der wird sogar an der Universität Pécs gelehrt, der Fachbereich hat ein Wörterbuch Romani-Ungarisch herausgebracht. Rockstar Zoltán Beck ist einer der Dozenten dort.
"Hier am Romologie-Fachbereich befassen wir uns vor allem mit Roma-Literatur und Kunst", erzählt der Sänger der Band 30 Y in einem Werbevideo der Universität. Und von seinem jüngsten Baby: Einer Pop-Musikschule.
Stolz auf die eigene Kultur entwickeln – das ist das Prinzip am Gandhi-Gymnasium. So sind die Kunstsäle nach berühmten Roma-Künstlern, etwa dem Jazzgitarristen Django Reinhardt, benannt: Erfolgreichen Vorbildern.