21 Jahre hat Muzafari Subhdam in totaler Einsamkeit verbracht. 21 Jahre lang wurde er von einem totalitären Regime in Isolationshaft gehalten. In einer kleinen Zelle mitten in der Wüste, umgeben nur von Himmel und Sand. Ein Ort, so weiß der Icherzähler, an dem "sogar Gott die Menschen vergisst". Und eine Zeit, die den ranghohen Peschmerga und engsten Vertrauten eines kurdischen Revolutionsführers von allen Gedanken über Politik und Macht befreien sollte.
"In diesen langen Jahren hatte ich Zeit gehabt, mir meine eigene Sprache zu erschaffen, eine Sprache ähnlich der Poesie. Als ich aus dem Gefängnis herauskam, konnte ich alles sagen, aber für andere war es manchmal unverständlich."
Nach 21 Jahren, damit setzt der Roman ein, gelingt es dem ehemaligen Revolutionsführer und jetzigen Chef einer kurdischen Regionalregierung seinen Freund Muzafari zu befreien. Und hält ihn sogleich wieder fest: in seinem prächtigen Schloss, einem goldenen Käfig. Jakobi steckt tief in Muzafaris Schuld, weil dieser ihm einst das Leben rettete und dafür in die Hände des Feindes geriet. Nun will er seinen alten Weggefährten vor der Wirklichkeit beschützen – raubt ihm damit aber sogleich die Existenz:
"Vergiss nicht: Du bist ein Toter. Außer mir weiß niemand, dass du noch am Leben bist. Ich selbst löschte deinen Namen aus. Ich wusch dich rein von jeglicher Schuld. Es gibt kein einziges Dokument mehr, in dem dein Name steht. In keinem Geschichtsbuch dieses Landes taucht er auf. Ich hielt dich von jedem Schmutz fern. Du existierst nicht.
Muzafari Subhdam, das Leben da draußen ist nichts für dich ... Ich kann dich nicht wieder in das schmutzige Leben werfen. Dort gehörst du nicht hin. Du bist nicht einer von uns."
Muzafari, der mit seiner in der Haft gewonnenen spirituellen Weisheit und den langen Haaren wie ein Sufi daherkommt, hat mit seinen alten Kameraden und deren zynischer Weltsicht tatsächlich nichts mehr gemein. Stattdessen steht ihm der Sinn nur nach einem: seinen Sohn Saryasi wiederzufinden, den er bei der Geburt das letzte Mal sah. In einer wahren Odyssee durch die von Zerstörung und Flucht gezeichneten kurdischen Gebiete macht er sich auf die Suche nach seinem Sprössling und erfährt parallel, was seinem Volk in den letzten Jahrzehnten widerfahren ist.
Jetzt, da mit dem Roman "Der letzte Granatapfel" erstmals ein Buch von Bachtyar Ali ins Deutsche übersetzt wurde, lebt der 1960 im nordirakischen Sulaymaniya geborene Autor bald 20 Jahre in Deutschland. Ali gilt als berühmtester zeitgenössischer kurdischer Autor, seine Werke – neben Gedichtbänden und Essays zahlreiche Romane - sind im zentralkurdischen Dialekt Sorani verfasst, den man im Irak und Iran spricht.
In seiner Heimat, der heutigen Autonomen Region Kurdistan, konnte Ali lange Zeit nicht publizieren, da unter Saddam Hussein ethnische Verfolgungen und strikte Zensur an der Tagesordnung waren.
Doch auch die innerkurdischen Konflikte, die nach dem Tod des Diktators aufbrachen und sich bis heute immer wieder entzünden, sind Ali ein Gräuel. Vehement widersetzt er sich der Unterordnung des Intellekts und der Kunst unter das Primat von Politik oder Nation, was auch im "Letzten Granatapfel" seinen Ausdruck findet:
"Wir werden alle so lächerlich sterben. Wofür wolltest du sterben? Im Krieg, bei einem feindlichen Angriff, für das Heimatland, für dieses Mutterland, das die Patrioten wie eine Hure besteigen? Nur für die Liebe sollte man sterben."
Ein Roman voller magischen Realismus
Bachtyar Ali schreibt aus kurdischer Außenseiterperspektive in weltliterarischem Format. Dabei verbindet er orientalische Spiritualität und Fantasie mit westlicher Philosophie und Stilmitteln der modernen Literatur zu einem magischen Realismus. Ein immer wieder von Schocks der Gewalt gebrochener märchenhafter Ton durchzieht den Roman, der vieles bewusst im Unklaren lässt. Es gibt im Buch keine Jahreszahlen, keine konkret verifizierbaren historischen Ereignisse, keine Klarnamen von Politikern. Man kann aus einigen Andeutungen zwar dennoch schließen, dass die Handlung im Irak der 80er-Jahre bis kurz nach der Jahrtausendwende spielt – doch bleibt das Geschehen, bleiben Motive und Taten der Figuren allgemeingültig. Ali fragt nach der Zukunft des Menschen in einer Zeit, da die Menschlichkeit und der Zusammenhalt unter den Menschen extrem zerbrechlich scheinen.
Eine schier unendlich poetische Kraft
"Der letzte Granatapfel" ist getragen von einer schier unglaublichen poetischen Kraft. Doch stellt Ali den Sinn und Wert dieser Poesie sogleich infrage angesichts der Katastrophen im Nahen Osten. Am Ende erfahren wir, dass Muzafari seine Geschichte, also den vorliegenden Roman, einem Haufen Verlorener auf einem Flüchtlingsboot erzählt. Wie ist es dazu gekommen?
Muzafari hat herausgefunden, dass sein Sohn Saryasi ermordet wurde. Doch als Freunde des Sohnes dem Vater von dessen kurzen, aber heldenhaften Wirken berichten, weicht die Trauer neuer Inspiration. Das in mehreren Kapiteln gezeichnete Porträt Saryasis als ungestümer, doch mutiger und selbstloser Anwalt der kleinen Leute ist eine Hymne auf die orientalische Humanität.
Und es tauchen, auf wundersame, fast schon E.T.A. Hoffmann'sche Weise, zwei Doppelgänger des Sohnes auf, die denselben Namen tragen wie Saryasi. Der eine war blutrünstiger Kindersoldat bei den Peschmerga und sitzt nun in Haft, wo er durch geschmuggelte Audiokassetten mit Muzafari kommuniziert. Der andere vegetierte nach einem Bombenangriff als sogenanntes Kohlenkind mit bösen Verbrennungen in einem Waisenhaus dahin und ist nun in eine Klinik nach Europa gebracht worden. Alle Söhne sind ohne Eltern aufgewachsen: Sie stehen stellvertretend für eine gezeichnete, eine traumatisierte, eine verlorene Generation.
Muzafari will dem neugewonnenen, imaginierten Sohn nach Europa folgen, um erstmals ein verantwortungsvoller Vater zu sein. Der grandios erzählte, im Original 2002 publizierte Roman ist hier gespenstisch aktuell. Am Ende findet Bachtyar Alis Protagonist sich wieder und verliert sich in der Weite des Mittelmeeres.
Bachtyar Ali: "Der letzte Granatapfel", Unionsverlag 2016, 320 Seiten, 22,00 Euro.