"Ich kann ja nur über meine Erfahrungen schreiben. Und es ist sicher das, was Peter Härtling mal mit der schönen Formulierung bedacht hat, nämlich nachgetragene Liebe. Darum ging es mir auch, diesem Vater, den ich geliebt habe, ihm ein kleines Denkmal zu setzen."
Der Erzähler des Romans fährt zu Beginn in seine Heimatstadt ins Ruhrgebiet, wo das Grab der Eltern aufgelöst werden soll. Der Vater - Rothmanns Leser kennen ihn aus "Milch und Kohle" oder "Junges Licht" - hatte dort nach seiner Zeit als Melker in Schleswig-Holstein als Bergmann gearbeitet. Die Erinnerung an ihn wird bestimmt von seiner Schwermut und Zurückgezogenheit. Er hatte den "Ernst dessen", so heißt es, "der Eindringlicheres gesehen hatte und mehr wusste vom Leben, als er sagen konnte, und der ahnte: Selbst wenn er die Sprache dafür gehabt hätte, würde es keine Erlösung geben."
Die Liebe, die ich zu ihm empfand, hat sicher damit zu tun, dass dieser Mensch unglaublich viel gelitten hat in seinem Leben und dieses Leiden aber ohne nennenswerte Klagen ertragen hat. Das hatte für mich einen Heroismus, den ich heute noch bewundere.
Die Geschichte eines Vaters
Diesem Vater gibt Ralf Rothmann in seinem neuen Roman seine Sprache zurück. Nach dem kurzen Entree springt er zurück in das Jahr 1944. Leise und eindringlich erzählt er davon, was der Vater mit 17, 18 erlebt hat. Walter, so der Name des Vaters, hatte es mit seinem Freund Fiete aus dem Ruhrgebiet nach Schleswig-Holstein verschlagen. Die beiden Freunde arbeiten als Melker auf einem Bauernhof - das ist kriegswichtig und gibt ihnen Sicherheit. Fiete spottet über die "Rindviecher von der SS", doch werden sie dann doch noch zur Waffen-SS rekrutiert und an die Front kurz vor Budapest geschickt. Die Situation ist chaotisch, es wird ihnen klar, dass der Krieg verloren ist und sie nur noch als "Frischfleisch an den Feind verfüttert" werden. Während Walter nahe ihres Einsatzortes das Grab seines gefallenen Vaters sucht, fasst Fiete den Plan, einfach abzuhauen. Er wird erwischt. Seine Kameraden, auch Walter, werden gezwungen, den Deserteur zu erschießen. "Warst du denn dabei? Hast du es gesehen?", fragt die gemeinsame Freundin der beiden später, als Walter sie nach dem Krieg heiratet, damit sie eine Stelle als "Melker-Paar" bekommen. "Ich habe vieles gesehen", sagt er, "zu viel, wenn du mich fragst. Aber das war der Krieg."
Schon in Rothmanns Roman "Hitze" erzählt der Held am Rande von seinem Vater, der etwas Ähnliches durchgemacht hat. In "Junges Licht" fragt die kleine Schwester des Erzählers den Vater, ob er auch geschossen habe im Krieg und treibt ihn in ihrer kindlichen Naivität in die Enge. Rothmanns Figuren blicken auf diese Väter, spüren irgendwann etwas von der Last, die ihnen aufgebürdet ist, von ihrer Traurigkeit. Über einen langen Zeitraum hat sich der Autor an diesen Stoff herangetastet.
"Ich glaube, das hat schon mit dem Abstand zu tun. Denn nach dem Tod meines Vaters wurde mir seine Geschichte erst richtig bewusst, diese Geschichte, die vor allen Dingen aus Leerstellen bestand. Der Auslöser war ja für mich schon in der frühen Kindheit gegeben: Das war so eine Art Vakuum, das sich einstellte, als ich meinen Vater mal fragte, ob er denn geschossen habe im Krieg und er war völlig perplex, und wusste nichts, darauf zu antworten, und sah meine Mutter an und sagt: Was soll ich ihm denn jetzt sagen? Meine Mutter schickte mich ins Kinderzimmer, Schulaufgaben machen oder so etwas, und das hinterließ bei mir so ein Vakuum, das ich über die Jahrzehnte mit mir herumschleppte. Was ist da eigentlich wirklich geschehen?"
Erzählungen von Kriegsteilnehmern
In melancholisch grundierten Tönen nähert er sich einer tief vergrabenen Geschichte, in die, wie der Befehl, den eigenen Freund zu erschießen, auch Erzählungen anderer Kriegsteilnehmer eingeflossen sind. Die Sprache ist präzise, wenn er von der Arbeit auf dem Bauernhof erzählt, von der banalen Grausamkeit des Krieges, von der Hinrichtung von Zivilisten. "Das war's schon", sagt ein SS-Mann, der gerade einem das Genick gebrochen hat, "keine große Sache, oder?" Rothmann spricht vom Triplex-Feuerzeug, von 3,7-Zentimeter-Geschützen und von Acht-acht-Raketen, die Soldaten fahren eine BMW R 75 oder eine Zündapp. Diese unspektakuläre Genauigkeit erzeugt eine Intensität, der man sich nicht entziehen kann, die der Autor noch dadurch steigert, wie er das Geschehen durch eine beiläufige Beobachtung der Natur kommentiert: Ein Pferd stampft auf, Tauben verstummen, ein Hase jagt in hohen Sprüngen davon. Im Zentrum des Romans stehen die Szenen, in denen Walter bei seinen Vorgesetzten um Gnade für Fiete bittet, in denen er Fiete am Tag vor dessen Hinrichtung in seiner Zelle besucht, und schließlich die Erschießung Fietes.
Das Vorher, der lange Weg vom Schleswig-Holsteinischen Bauernhof bis kurz vor Budapest, zeigt mit Walter und Fiete zwei Jungs, die nicht kriegsbegeistert waren oder sich noch freiwillig gemeldet haben, sondern die sich nicht wehren konnten, die keine Chance hatten. Das Nachher zeigt Walters Rückkehr aus dem Krieg und wie er das Geschehen in sich einkapselt.
"Mein Vater hat nicht gesprochen, weil er traumatisiert war, weil er die Unfasslichkeit des Ganzen zeitlebens nicht verarbeiten konnte, weil er dazu gar nicht das intellektuelle und sprachliche Rüstzeug dazu hatte. Der ist da hineingeraten und dem hat es die Sprache verschlagen. Und er fand auch zeitlebens nie wieder zu seiner Sprache."
In den 1960er-Jahren, begonnen mit Christian Geisslers Roman "Anfrage", haben die Söhne nach Schuld und Verantwortung ihrer Väter gefragt, die sich nach Nationalsozialismus, Krieg und Judenmord durchlaviert und wieder Karriere gemacht haben. Der Vater in Rothmanns Roman ist nur ein Jahr älter als Geissler, der auch noch zuletzt als Flakhelfer eingezogen wurde und mit Hilfe seines Vorgesetzten desertieren konnte. Will Rothmann 25 Jahre nach dem Tod seines Vaters mit diesem verstörenden Roman auch jenen Vertretern dieser Generation ein Denkmal setzen, die nicht aus Taktik geschwiegen oder zu den jungen Wilden gehört und aufbegehrt haben?
"Ich weiß nichts über diese Generation, aber ich weiß einiges über meinen Vater, ich weiß einiges über meinen Onkel, oder ich weiß einiges über Nachbarn, die auch im Krieg waren. Das kann ich erzählen. Es ist natürlich so, dass die Leute, die noch kurz vor Kriegsende eingezogen worden sind, sich natürlich als Opfer fühlten und es waren ja auch Opfer. Die wollten ja alle nicht mehr in den Krieg und waren zum Teil ja keine Nazis und die kamen dann wieder und wurden von der Allgemeinheit als Täter betrachtet. Und ich denke, das hat gerade meinen Vater unglaublich verstört. Er wusste dann nicht mehr ein und aus in der Welt und er hat sich dann folgerichtig unter Tage als Bergmann regelrecht vergraben. Er verstand das einfach nicht."
Ein Erbe, das man nicht loswird
Fiete erzählt Walter in ihrem Gespräch vor der Hinrichtung davon, dass er schon immer geträumt hätte, erschossen zu werden. Fiete hätte das auch einmal seinem Vater, Arzt und Soldat im Ersten Weltkrieg erzählt. "Das wird vererbt", hätte dieser Vater darauf geantwortet, der in französischer Kriegsgefangenschaft mehrmals zum Schein auf seine Erschießung vorbereitet worden war: "Seelisch oder körperlich verwundet zu werden, so gibt Fiete seinen Vater wieder, "macht was mit den Nachkommen. Die Kränkungen, die Schläge oder Kugeln, die dich treffen, verletzen auch deine ungeborenen Kinder." "Und was ist", fragt Walter darauf, "mit dem, der schießen muss? Was vererbt der?" Mit diesem Dialog katapultiert Rothmann seine Leser mit einem Ruck in die Gegenwart. Auch deshalb musste diese Geschichte erzählt werden.
"Seit ich meine Träume überhaupt wahrnehme, ist es so, dass ich träume, erschossen zu werden. Und da hat mir ein Mediziner mal erklärt, es gibt so etwas wie eine transgenerationelle Vererbung von Traumata. Und da wurde mir das plötzlich klar: Wahrscheinlich hatte mein Vater sein Leben lang Angst davor, erschossen zu werden. Und irgendwie habe ich das mitgekriegt. Das ist ein Erbe, das werden Sie natürlich nicht los."
Ralf Rothmann: "Im Frühling sterben", Roman, Suhrkamp Verlag 2015, 234 Seiten, 19,95 Euro.