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Roman
Mehr als Wilder Western

Céline Minard Roman "Mit heiler Haut" hat vieles, was ein Western braucht: Cowboys, Schlägereien, Prärie, Indianer und Räuberbanden. Doch geht es der französischen Autorin darum, das poetische Potenzial des Genres auszuloten.

Von Tobias Lehmkuhl |
    Prärie am South Bighorn Scenic Backway bei Waltman im US-amerikanischen Bundesstaat Wyoming.
    Weite Prärie am South Bighorn Scenic Backway bei Waltman im US-amerikanischen Bundesstaat Wyoming (picture alliance / dpa)
    "Die rechte Hand des Mannes wollte gerade den Pistolenkolben unter dem Hemd berühren, als der Schuss aus dem Gewehr ihm den Brustkorb zerfetzte. Für einen Augenblick konnte Brad die Holzbretter durch seinen Körper sehen, bevor sie sich gleich wieder hinter einem Blutvorhang verbargen. Brad sah ihm ins Gesicht, sah seine noch lebenden Augen, sein gesamtes Gebiss, das letzte Feuer seines Schneidezahns und dann das Tuch des Todes, das sich über seine Gesichtszüge legte. Der Mann krepierte, noch bevor er zu Boden sackte. Brad ließ ihn dort liegen und ging in den Stall, wo er mit den Kühen sprach. Er klopfte ihnen aufs Hinterteil und streichelte ihnen den Rücken. Sie mussten sich beruhigen, denn er hatte noch einiges mit ihnen vor."
    Cowboys, Saloons und Indianer
    Céline Minards "Mit heiler Haut" enthält alle Ingredienzen eines klassischen Western: Cowboys, die schneller schießen als ihr Schatten, Schlägereien im Saloon, Indianer, die auf einen frischen Skalp erpicht sind, Räuberbanden, die sich in den Bergen verstecken. Dass es keine Zugüberfälle gibt, liegt allein daran, dass die Gegend, in der Minards Roman spielt, sehr weit vom nächsten Bahnhof entfernt ist. Wir befinden uns im wirklich Wilden Westen zur Zeit der Pioniere, einer Handvoll Männer und Frauen, die sich furchtlos ins Unbekannte aufmachen, um in einer neuen Stadt ihr Glück zu versuchen. Man lernt sie erst einzeln kennen, Brad und Jeff, die mit ihrer verrückten Mutter im Planwagen durch die Prärie ziehen, Zebulon, der mit zwei prallgefüllten Satteltaschen zu Fuß unterwegs ist, Bird Boisverd, dem von Elie Coulton beim Pinkeln das Pferd gestohlen wird, bevor Zebulon es diesem beim Würfelspiel wieder abnimmt. Wie Pferde, Geldsäcke und Schnapsflaschen ein ums andere Mal und in einem komplizierten Hin und Her den Besitzer wechseln, ist dabei zuweilen äußerst komisch. Fast scheint es, als müssten alle Karten einmal kräftig durchgemischt, als müsste alles auf den Kopf gestellt werden, bevor das neue Leben in der neuen Stadt anfangen kann.
    Der Weg durch die Prärie wird von Céline Minard in der ersten Hälfte des Romans aber auch als ein Weg durch eine andere, eine alternative Welt beschrieben. Da ist die Indianerin ohne Volk, eine Schamanin namens Über-die-Ebene-fließenden-Wasser, die einem der Pioniere mit ihrem Wissen um die Heilkräfte dreigepunkteter Eier das Leben rettet, da ist eine ebenso weise kleine Chinesin, und immer wieder die weite Landschaft, die nur auf den ersten Blick karg wirkt.
    "Im Innern glich die Prärie einem Dschungel. Dicht und feucht, auf allen Ebenen bevölkert. Er spürte die Hitze von der Erde aufsteigen. Er scheuchte Nagetiere auf, wenn er auf ihre Schlupflöcher trat. Daumendicke Heuschrecken, schwarze und rote, sprangen vor seinen Schritten davon. Kleine Vögel, die auf den hohen Halmen saßen, stießen ihren Warnruf aus, wenn sie ihn erblickten. Die Spur des Dammwilds grub spitzwinklige Tunnel ins Gras. Zweimal wäre Bird Boisverd beinahe in einem tiefen Bau umgeknickt, dessen Eingang er nicht gesehen hatte. Beim zweiten Mal fuhr er mit dem Arm hinein und packte einen Wurf faustgroßer Hasen. Er ließ sie dort. Ohne Fell hätte jeder von ihnen keine zwei Happen ergeben."
    Parallelen zu Robert Altmanns Werk
    Die neue Stadt nun besteht zuerst nur aus Zelten und einem Saloon; Sally heißt die Wirtin, und wie Mrs. Miller in Robert Altmanns Spielfilm "McCabe und Mrs. Miller" fungiert sie nicht nur als Wirtin, sondern auch als Puffmutter. Es gibt noch einige weitere Parallelen zu Altmanns Werk aus dem Jahr 1971. So spielt der Aufbau einer Badeanstalt im Film ebenso wie in "Mit heiler Haut" eine wichtige Rolle, ja im Grunde geht es hier wie da um den Aufbau einer ganzen Stadt und die Etablierung einer eigenen Rechtsordnung.
    Der Roman ist dabei weitaus zuversichtlicher als der Film: Bird und Elie, Zebulon und Sally, Jeff und Brad und all die anderen, die nicht durch das Feuer, aber doch durch die Prärie gegangen sind, bilden schnell eine eingeschworene Gemeinschaft und wissen sich durch geschicktes Taktieren, sowohl mit den Dakota-Indianern als auch mit ihren Feinden, den Pawnees zu arrangieren. Außerdem gelingt es ihnen, sich Quibbles Räuberbande vom Hals zu schaffen. Eine wichtige Rolle bei all den Transaktionen spielt eine von Elie Coulton erbeutete Pferdeherde.
    "Er rannte mit ihnen weiter, ohne an irgendetwas zu denken, außer Atem, außer sich, fern aller Mühe, außerhalb der Zeit. Gänzlich erfüllt von seiner Herde, ihrem Vorankommen, ihrer Kraft, ihrem Geruch. Er wusste nicht, wie es kam, dass er sich auf einem Pferd wiederfand, noch wie lange er es schon geritten hatte, bevor er sich bewusst wurde, dass er ein Mensch war und die Laufleinen loslassen konnte. Er ließ sie los. Und als er sich umdrehte, sah er, dass er alle abgeschüttelt hatte, Freund und Feind, dass die Luft rein war und dass er eine Herde von 300 Pferden anführte, die schneller waren als der Regen."
    Céline Minard also hat den Western nicht neu erfunden, das hat vor über 40 Jahren schon Robert Altman getan. Als "Anti-Western" hat man seinen Film damals bezeichnet, weil seine Helden eher Anti-Helden gleichen. Der Französin hingegen geht es vor allem darum, das poetische Potenzial des Western auszuloten und den Raum zwischen alter und neuer Welt, zwischen Zivilisation und Indianerland als Möglichkeitsraum zu entfalten. Es ist die Prärie, die die Menschen inspiriert und verwandelt, sie mitunter auch den Tieren wieder anverwandelt. Sie ist der Ort der Freiheit schlechthin. In der neuen Stadt, im neuen Land treten dann Gleichheit und Brüderlichkeit hinzu. Am Ende, denkt man, hat man es eben doch mit einem sehr französischen Roman zu tun. Einem ziemlich guten.
    Céline Minard: "Mit heiler Haut"
    Übersetzt von Nathalie Mälzer, Matthes und Seitz Berlin, 2014, 302 Seiten.