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Roman über die Weiße Rose
Diskussion um deutsche Erinnerungskultur

Vor 75 Jahren wurden die Mitglieder der Weißen Rose hingerichtet. Kurz nach dem Bekanntwerden ihres Widerstands in Deutschland schrieb der Autor Alfred Neumann ein Buch über die Weiße Rose. Er selbst lebte im Exil in den USA. Das Buch löste eine rege Diskussion über die deutsche Erinnerungskultur aus.

Von Christoph Haacker | 28.06.2018
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    "Die weiße Rose" (Buchcover: Verlag Das kulturelle Gedächtnis / Hintergrund: picture alliance / dpa)
    Alfred Neumann, ein Bestsellerautor seiner Zeit, hatte, weil er Jude war, 1933 aus München ins Exil flüchten müssen. Deutschland blieb er dennoch verbunden: "Ich hasse nicht. Im Gegenteil, ich habe in mir eine etwas melancholische Liebe für das Unglücksland erhalten, aus dem ich stamme und das mir das Instrument seiner Sprache verliehen hat."
    Während es der vieldiskutierte Namensvetter Robert Neumann nach seinem Exil bis auf die Titelseite des "Spiegels" brachte, blieb Alfred nach 1945 im Abseits und starb 1952 in der Schweiz - drei Jahre vor seinem Duz-Freund Thomas Mann. Wer aber war dieser Neumann, Alfred? Er grüßt vom Bücherregal mit gelben Leinenbänden, auf denen rot in Fraktur Titel wie "Guerra", "Der Held" " oder "Rebellen" prangen, die ihn in den 1920er-Jahren populär machten.
    "Der Teufel" wurde 1926 mit dem Kleistpreis ausgezeichnet, in 73 Sprachen übersetzt, mehrfach verfilmt, die Gesamtauflage überstieg deutlich eine Million. Da konnte es sich Neumann leisten, seine Historischen Romane aus Fiesole oberhalb von Florenz an deutsche Verlage zu schicken. Dort fand er auch 1933 ein erstes Exil. Sein nächster Roman erschien 1934 bei Querido in Amsterdam.
    Wer hat die Deutungshoheit?
    "Und wann kommen Sie? ", schrieb ihm Thomas Mann dann im Januar 1939 aus Princeton - und war entsetzt über den, wie er es nennt, "italienischen Rassismus", der den guten Freund aus der Toskana nach Frankreich verjagt hatte. Neumann kam 1940 - und in den USA entstand sein umstrittenster Roman "Es waren ihrer sechs", der jetzt neu aufgelegt wurde. Warum und wieso, erläutert sein Verleger Peter Graf, zugleich der Herausgeber:
    "Dass wir nun das Buch erneut herausgeben, hat vordergründig mit dem Gedenken an die im Jahr 2018 sich zum 75. Mal jährende Ermordung von Sophie und Hans Scholl sowie der übrigen Mitglieder der Weißen Rose zu tun. Zum anderen ist die Kontroverse, die dieses Buch beim Erscheinen hervorrief, für unseren Verlag von besonderem Interesse, denn im Kern ging es bei der Debatte um weitaus mehr als den Vorwurf, Alfred Neumann habe die Fakten verfälscht und das Schicksal der Hingerichteten als Zutat für einen Kolportage-Roman missbraucht, sondern hier wurde gleichzeitig eine Diskussion angestoßen, die da hieß: Wer hat hier die Deutungshoheit über die Erinnerungskultur? Diejenigen, die, aus ihrer Heimat vertrieben, die Jahre bis 1945 im Exil verbringen mussten, oder die das System ablehnenden Deutschen, die im Lande geblieben waren, und deshalb für sich beanspruchten, den Geschehnissen unmittelbarer ausgesetzt gewesen und beigewohnt zu haben?"
    Das andere Deutschland
    Das ist eine hochinteressante Fragestellung, und zu den Duellen jener Zeit zwischen Exilanten und denen, sie sich auf innere Emigration beriefen, gehörten die von Walter von Molo, von Frank Thiess und Manfred Haussmann gegen Thomas Mann. Von Klaus Mann gegen Ebermeyer, Gottfried Benn und Anton Schnack. Und eben auch von Inge Scholl und Hans-Werner-Richter versus Alfred Neumann. Dieser war nicht der einzige Exilschriftsteller, der ein Deutschland zeigt, in dem es unter der Oberfläche gärt. Von Hermynia zur Mühlen bis zu Erika Mann gibt es solche Bücher, die in der Fremde ein "Anderes Deutschland" in Szene setzen, ja ausmalen oder erträumen. Die wichtigsten Widerstandsromane des Exils dagegen widmen sich dem bewaffneten Untergrund, den geheimen Netzwerken, der Sabotage, der Desertion, dem Partisanenkampf. Und Neumann? Der schreibt über Flugblätter und anti-hitlerischen Idealismus. Modelliert hat er diese faction nach der "Weißen Rose", wobei er sich auf von der BBC verbreitete Informationen bezog:
    "Dieser Artikel also ist die einzige "Quelle" meines Romans, die Auslösung eines epischen Unternehmens, das ich schon seit Mitte der 1930er-Jahre geplant und in Schicksalen wie des Professorpaares oder des Vaters Möller oder der Familie Sauer bereits konzipiert hatte. Über London bekam ich noch den vollständigen Text des Flugblattes und die genauen Namen der fünf Hauptbeteiligten. Ich benutzte sie als Namenspatrone für meine Helden: Ich gab ihnen ihre Vornamen. Mehr Material konnte ich nicht haben, in Kriegszeiten. Vor allem aber: mehr wollte ich nicht haben. Denn meine Aufgabe ist ja nicht Forschung, sondern Dichtung. Es geht nicht um die Geschwister Scholl."
    Fallbeil und elektrischer Stuhl
    Der Roman beginnt mit dem Scheitern. Die Widerstandsgruppe an der Münchener Universität ist aufgeflogen. Die Spannung besteht darin, dass die Verhafteten nun nur bruchstückhaft die Umstände ihrer Überführung rekonstruieren. Ein schrecklicher Verdacht belastet ihre Solidarität. Denn einer im Bunde hatte schon zuvor Argwohn erregt:
    "Ist der tolle Bursche, der nicht die geringste Angst vorm Sterben haben will, vom Sterben zwischen Nacht und Tag … sprichst du dagegen, Do, daß er der Verräter zwischen Nacht und Tag geworden sein könnte? - Es ging ihm jetzt nur noch um dies: etwas von ihr zu hören. So hörte er sie atmen. Es war, erkannte er sofort, ihr Atmen des verstellten Schlafes, die zarte Atemlüge - dahinter aber ihr wacher Widerspruch gegen seinen Verdacht, ihr Fürspruch für Christoph. - Glaubst du es nicht? flüsterte er vorsichtig ins Leere.
    Neumann, im Exil zum erfolgreichen Drehbuchautor aufgestiegen, gestaltet hier etwas, was das US-Publikum, vor allem dank Hollywood, schätzt: kriminalistische Ermittlungen und mehr noch: den Verlauf von Gerichtsprozessen. Nicht der elektrische Stuhl, sondern das Fallball droht. Als am Ende zur Abschreckung an der Münchener Universität die Urteilsvollstreckung verkündet wird, treten namenlose Studenten an die Stelle der Hingerichteten – und zwar wiederum sechs:
    "Der Zwischenfall kam von oben. Durch die Luftschächte der Aula fielen Flugblätter, Hunderte auf Zeitungspapier gedruckte Flugblätter. Zur gleichen Zeit flatterten vom Dach der Universität Hunderte von gedruckten Flugblättern auf die Straße."
    Wir Soldaten oder Mörder
    Zu den Anstößigkeiten des Romans gehört, dass mit Hans Moeller ein glühender Nazi vorgeführt wird, der dann vom Saulus zum Paulus wird. Damit stellte sich Neumann der Faszination, die der Nationalsozialismus anfangs haben konnte, und damit in eine Reihe mit Exilautoren wie Max Zweig, Maria Leitner oder Hermynia zur Mühlen. Auch wenn die Wandlung des Hans nicht durchweg überzeugend wirkt - das Kriegserlebnis und die Gräueltaten an Zivilisten werden zu Triebfedern seines Handelns. Der angebliche Befehlsnotstand wird von Hans an der Ostfront radikal in Frage gestellt:
    "Und wenn ich frage, ob wir Soldaten oder Mörder sind, und mich nicht mehr mit der Antwort zufriedengebe, Befehl sei Befehl, und nicht mehr mit der Antwort, daß wir Soldaten und Mörder seien, sondern dies frage, Alex: warum gehorchen wir alle, alle, alle?"
    Diese deutsche Heldengeschichte hat also einen Haken. Sie taugt nicht zur "Ehrenrettung" eines Volkes, zu der die Weiße Rose teils vereinnahmt wurde. Denn die Handlung führt nicht nur hier die individuelle Verantwortung vor. Es wird auch gezeigt, wie die Mehrheit der Deutschen tatenlos, teilnahmslos oder aber als Profiteure die Ausbeutung der Juden und dann ihre Deportation hinnahm. Es ist das Schicksal von Sophies bester Freundin, der Jüdin Hilde, das sie aufrüttelt, und die mitverschworene Professorengattin Dora handelt unter dem Eindruck von Ostern 1933 und der brennenden Synagogen des 9. Novembers 1938. Es sind diese Szenen, die unter die Haut gehen:
    "Die Judentransporte beginnen ab zwei Uhr. - Und nach einer Weile: Es ist nicht allein vage Mutmaßung, ob just heute Nacht Nachbar Wolff und Hilde dabei sind … - Und nach einer Weile: Jetzt! - Jetzt kam aus der Nacht ein Geräusch, eher das Geräusch jener Straßenreinigungsmaschinen, die vorne und hinten dicke Bürstenrollen haben. Und doch war es das Geräusch von Schritten, nicht von Tritten, nicht der knöchern harte, nächtlich hohle, trocken klare Trittakt marschierender Soldaten - Innerhalb des Sternenrahmens bewegte sich die Kernmasse vorbei, die in der Mitte schwärzer und dichter war als die Nacht, an den Seiten aber, angeblaut vom spärlichen Lichtsaum, zu Menschenschatten zerriß, zur Andeutung von Köpfen und Schultern, selbst von Männer-, Frauen, Kindergestalten, die alle vorgebeugt gingen, als kämpften sie gegen den Wind. Die Kernmasse war wortlos, aber nicht lautlos."
    Konter und Kontroversen
    Die Kontroverse um Alfred Neumanns "Es waren sechs" ist eine kleinliche, die aber zeigt, wie der Roman den Nerv der Zeit traf. Thomas Mann schrieb am 14. Juli 1947 aus Graubünden an Neumann: "Sie haben Ärger gehabt, lieber Freund? Der kam gewiß, woher all Ärgernis stammt, aus D. Ich rate auf Schnödigkeiten gegen den Münchener Roman. "
    Und die kamen geballt. Auf der einen Seite eine Angehörige: Inge Scholl. Wollte sie das Andenken ihrer Familie verteidigen, weil sie Neumanns keineswegs strahlend positiven Romanfiguren mit ihnen gleichsetzte? Ihr zur Seite sprang ein empörter Hans-Werner Richter. Dabei lag die derart skandalisierte Ausgabe zu diesem Zeitpunkt nicht mal auf Deutsch, sondern nur auf Englisch vor. Neumann konterte:
    "Lieber Herr Richter, ich weiß nicht, soll ich lachen oder weinen über die "heftigen Diskussionen", von denen Sie sprechen - im armen, nachtblinden Deutschland zetert es – ahnungslos, kenntnislos, auf gut Glück, auf gut Unglück, von misrepresentation of facts. Ich hätte gewünscht, Sie hätten wenigstens den Umschlagstext der amerikanischen Ausgabe gelesen: Es ist eine reine Erfindung und freies Spiel der Phantasie, von Anfang bis Ende. Es beschäftigte mich in der Anlage als dichterische Auseinandersetzung mit dem deutschen Problem schon seit 1939."
    Ein selbstgerechter Richter
    Leider enthält die sonst mit reichem Anhang versehene Neuedition Hans Werner Richters Brief nicht. Dieser als ein selbstgerechter Richter. Das liest sich wie ein Vorspiel dazu, wie bald darauf diese neuen Machthaber und Profiteure des Literaturbetriebs, darunter einstige Mitläufer, den Exilschriftstellern brüsk die Tür vor der Nase zuschlugen. Klaus Mann macht das in einem englisch verfassten Essay "Die literarische Szene in Deutschland" vom März 1947 zum Thema - und vergisst nicht, hier auch den Namen Alfred Neumann zu nennen.
    Die deutschen Leser möchten sicher sehr gerne wissen, was die berühmtesten Schriftsteller ihrer Nation in den Jahren ihrer Abwesenheit produzierten; doch die Deutschen haben keine Möglichkeit, dies herauszufinden. Bücher von Exilschriftstellern sind in Nachkriegsdeutschland nicht erhältlich. Befreit vom Störfeuer um die deutsche Erstausgabe können wir heute Es waren ihrer sechs lesen. Dabei gehört die Editionsgeschichte zu den spannendsten Kapiteln dieses Romans, dessen sorgfältige Wiederauflage sehr zu begrüßen ist.
    Alfred Neumann: "Es waren ihrer sechs", herausgegeben von Peter Graf, Verlag Das Kulturelle Gedächtnis, Berlin, 400 Seiten, 25 Euro