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Roman über Psychiatrie
Das beruhigende Gefühl eines gefüllten Kondoms

In "Die Stunde zwischen Frau und Gitarre" beschreibt Clemens J. Setz das Leben einer Betreuerin in einer Psychiatrie, die aber selbst genauso gut Patientin sein könnte. Mal fantastisch, mal frivol, mal traurig und todernst sind ihre Gedankengänge. Ein Roman, den man so schnell verschlingt, dass man ihn anschließend gleich wieder von vorne beginnen will, findet unser Rezensent.

Von Martin Ebel |
    Eine Mitarbeiterin steht in der Psychiatrischen Institutsambulanz (PIA) an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Klinikum Braunschweig.
    Eingang zur Psychiatrie (dpa / picture alliance / Julian Stratenschulte)
    Der Roman spielt in der Psychiatrie. Die fiktive "Villa Koselbruch" ist ein Betreutes Wohnheim in Graz, einer "dummen mittelgroßen Zwischendingstadt", wie die Heldin des Romans sie nennt. Der Autor, der aus Graz stammt und heute noch dort lebt, hat selbst seinen Zivildienst seinerzeit in einer ähnlichen Einrichtung absolviert. Frucht seiner Erinnerungen ist aber, kein Wunder bei Setz, nicht eine realistische, empathische oder sozialkritische Darstellung des Alltags in der Psychiatrie. Das kann jeder Reporter auch. Sondern etwas ganz und gar eigenes. Das betreute Wohnheim quasi als Setz-Kasten.
    Hauptfigur und Perspektivträgerin ist die 21-jährige Natalie, die in der Villa Koselbruch ihre erste Stelle antritt. Dort trifft sie auf eine skurrile Galerie von Insassen, und die Betreuerinnen stehen ihnen kaum nach. Da ist die Leiterin Astrid, ein Kontrollfreak, die lesbische Beatrice, die nur unter dem Kürzel B. läuft und "die Angewohnheit hatte, die ganze Zeit an ihrem üppigen Dekolleté herumzunesteln, als verwalte sie darin einen geheimen Nussvorrat." Und dann ist da noch Ursula, die sentimentale Tierliebhaberin mit den vernarbten Schnitten im Arm.
    "Ursula war eine Frau von lummenhaft entschlossener Statur: kompakt, aufrecht, etwas kegelförmig. Ihre schwarze, playmobilartige Kurzhaarfrisur machte ihren Kopf rund und glatt; aus der Ferne wirkte sie stets nass. Wenn sie im Garten oder vor einem offenen Fenster stand, hatte sie etwas von diesen Ehefrauen amerikanischer Astronauten: getönte Brille, starres Gesicht, eine Zigarette in der zittrigen Hand. Immer darum bemüht, die Fassung zu bewahren. Sie wirkte, als beobachtete sie jeden Tag, sozusagen pausenlos, den Start ihres Ehemannes in den Weltraum. Countdown, Raketenfeuer, Funkmeldungen, Ungewissheit. Natalie hätte ihr gerne irgendetwas um den Hals gelegt, etwas Buntes, eine Federboa zum Beispiel oder eine Weihnachtsbaum-Lichterkette, einfach um sie ein wenig zu schmücken, wenn sie schon so ungetröstet und still-entsetzt in der Gegend herumstehen musste. Ihr Nachname lautete Bronnen, ein dunkles, bitteres Wort, es passte zu ihr. Respektlosigkeit war Ursulas größte Sorge, ständig war sie von ihr umstellt, witterte sie in allen scherzhaften Bemerkungen, ja selbst in Liedern. Man durfte keine frechen Witze machen, behinderte Menschen waren unfehlbar und heilig, Prominente aus dem Fernsehen dagegen tragische Figuren, deren Schicksal für das eigene stand. 'Das ist nicht witzig. Darüber lacht man nicht.'"
    Natalie selbst ist, wie schon ihr Blick auf die Kollegin zeigt, eine ziemlich schräge Person. Sie wiegt 49 Kilo, ihre Anatomie ist nicht sehr kurvenreich, oder, wie sie es selbst ausdrückt, ihr Oberkörper sieht aus wie ein Sack voller Hirschgeweihe. Natalie ist Epileptikerin, die schweren Anfälle liegen zwar eine Weile zurück, aber immer wieder gerät sie in einen Zustand, den sie selbst als "aurig" bezeichnet. Ihre Familie ist dysfunktional – eine hinreißende Szene zeigt uns ihre Mutter im Kampf mit den Ablaufdaten verschiedener Lebensmittel. Eine Zeit lang gehörte Natalie einer Sekte an, und während der Ausbildung hat sie sich, wie wir präzis erfahren, 41-mal verletzt, fast immer aus Tollpatschigkeit. Sie nennt eine ganze Reihe von Ticks ihr eigen, etwa das Bedürfnis, die Kippschalter beim Lichtanmachen eine Weile an jenem Punkt zu halten, wo es weder an noch aus ist. Sie werden sagen: Das geht doch gar nicht, entweder ist es an oder aus, und Sie haben recht. Aber Natalie macht es trotzdem. Ein anderer Tick ist das heimliche Aufnehmen von Gesprächen oder auch nur von Essensgeräuschen, die sie mischt und sich dann, zur Beruhigung, anhört. Ihr Privatleben teilt sie zwischen einer Katze mit dem passenden Namen "Chat", merkwürdigen Mail- und Skypekontakten mit ihrem Exfreund Markus, nächtlichen Besuchen im "Souterrain", einem Treffpunkt für Junkies und Stricher, und dem, was sie "Streunen" nennt: Sie liest junge Männer auf und befriedigt sie oral. Oder, wenn ihr danach ist, macht sie sie erst heiß, um sie dann mit einem gezielten Satz völlig aus der Spur (der Erregung) zu bringen. Und das nimmt sie dann auch heimlich auf.
    Natalie hat eine Begabung für solche Sätze, treffende, heilende, verstörende und – das aber nur potenziell – tötende Sätze. Im Kopf dieser merkwürdigen Person dürfen wir die 1000 Seiten von "Die Stunde zwischen Frau und Gitarre" verbringen. Langweilig wirds einem nie. Das liegt einerseits daran, dass Natalie selbst Langeweile hasst (deshalb kippt sie ihren braven Markus auch immer aus dem Chat), vor allem aber, dass sie so irritierend anders tickt als wir. In ihrer Welt verlaufen die moralischen, ästhetischen und geschmacklichen Grenzen, also auch die des Ekels, komplett anders. Den Anblick von Steckdosen erträgt Natalie nicht, weil sie darin Gesichter erkennt; den Inhalt eines beim Streunen gefüllten Kondoms trägt sie dagegen tagelang mit sich, weil es sie beruhigt, und dann... nein, das wollen Sie nicht wirklich wissen. ..
    Natalie nimmt Realität wahr und verwandelt sie auf eine Weise, die mit "Fantasie" viel zu schwach charakterisiert ist. Für jeden Romancier stellt eine solche Heldin ein gefundenes Fressen dar, wobei Setz ja der Koch ist. So sieht etwa der Nussbaum vor Natalies Wohnung so aus, "als wäre ihm seine Brille ins Gras gefallen". Wenn sie sich bücken muss, streift sie jeweils kurz der Tod, es fühlt sich an, "als rollte eine Murmel im Kopf in die falsche Ecke".
    Bei Natalie haben die Dinge Vornamen (der Hydrant heißt Justus, die automatische Schiebetür im Supermarkt Pitt), ihre Wahrnehmung ist ein einziges Feuerwerk an Assoziationen und Metaphern. Cori, eine "Klientin" (das Institut ist natürlich eine Hochburg von correct speech, also Schönfärberei), Cori ist ein "kerzendochtartiges Geschöpf", ihre Ohrläppchen ein Klickschalter zu einer anderen Dimension. Das Internet, heißt es, "spricht immer mit vollem Mund". Ein Tischtuch wird für Natalie zum Dienstag: "Irgendjemand hatte ihn aus dem uralten Zusammenhang der Woche herausgelöst und unter die Gläser und Teller und sogar unter die schwere, bauchige, beide Henkel in die Hüfte stemmende Vase geschoben, ohne dabei etwas umzustoßen.
    Natalies Lieblingsspiel heißt "Nonseq", vom Lateinischen "Non Sequitur": ein Gespräch, in dem kein Satz, kein Gedanke an den vorangehenden anknüpft. Manche Menschen haben eine synästhetische Veranlagung, sie hören Farben oder sehen Töne. Bei Natalie ist es noch toller: Bei ihr erwachen die Wörter zu bildhaftem, körperlichem Leben. Das Wort "getüncht" strahlt eine "speisekammerhafte Kühle" aus, "bitterlich" ist ein "schönes, gefranstes Wort mit Kiemen an der Seite", und "Graubereich" löst folgendes aus:
    "Natalie stellte sich ein kilometerlanges Wurmwesen mit grauem Fell und offenem Rachen vor: ein Graubereich, der Städte schluckte. Dann dachte sie, um etwas ruhiger zu werden, an Eselsflanken."
    Aber auch das schlichte Wörtchen "und" bekommt eine eigene Geschichte:
    "Und – Natalie hasste das dunkle Schlag-ans-Hoftor-Geräusch, das dieses Wort in ihrem Kopf verursachte. Es war das rechthaberischste Wort von allen. Es klebte Sinnloses aneinander. Andererseits musste man es dafür lieben. Es war ein Wort, das die Hoffnung nie aufgab."
    Am besten funktioniert das natürlich mit Namen. Hören wir, was der Nachname Höllhuhn auslöst.
    Sie stellte sich das Wesen rot und dreiköpfig vor. Es empfing alle geschlachteten Hühner der Welt, die eingeschüchtert gackernd über den Styx kamen, in der weiten, leeren Halle der Unterwelt, ein allerletztes Mal auf engem Raum zusammengedrängt, demütig und nervös scharrend auf dem Holzboden der Barke, dann kurz aufflatternd über den Bootsrand und ans Ufer, wo Milliarden anderer Hühner, ein jedes von ihnen gründlich entwöhnt der Erdenwelt und ihrer mitleidlosen Herrscher, schon warten; scheue Hähne stoßen aneinander, wie Sandkörner stehen ihre mageren, zerzausten Körper dicht an dicht; da geht das Zolltor auf, und sie strömen hindurch, in die Richtung endloser Bewegungsfreiheit. Und jedes wird begrüßt, eins, zwei, drei, von dir dachte Natalie, und streichelte den zauberhaften Namen im Telefonbuch."
    Allein das Innenleben dieser Heldin trüge den ganzen langen Roman und macht, dass einem die eigene Innen- und Außenwelt doch recht gewöhnlich vorkommt. Aber damit ist noch gar nichts gesagt über das, was Natalie in der Villa Koselbruch erlebt. Oberstes Gesetz dort: Die «Klienten» haben immer recht, und die "Bezugerinnen" sind gehalten, sich voll und ganz auf deren jeweiligen Wahn einzulassen. Mit dem Killerwort "Professionalität" zwingt die Leiterin Astrid Natalie, sich unentwegt bei den Patienten zu entschuldigen. Das rituelle Eingestehen von Fehlern und die Entschuldigung gehören zur eigentümlichen Parallelwelt dieses Heims wie der "sozialberufsmäßige Singsang", in dem die Betreuerinnen mit den Klienten reden, und die Durchforstung des Vokabulars nach allem, was irgendwie herabsetzend klingen könnte und deshalb rigoros entfernt werden muss.
    Nun ist Natalie, weil sie selbst ein "verrücktes" Koordinatensystem hat, ohnehin die perfekte Partnerin ihrer "Bezugis".
    "Ich bin vollgeisteskrank. Perfekt für den Job."
    Sagt sie selbst. Aber anders als die von ihrem Gutmenschentum blind gewordenen, in ihren Ritualen erstarrten Kolleginnen hat sie sich Empathie und Sensibilität erhalten. So durchschaut sie, was zwischen Patienten und Angehörigen abgeht, weiß sie doch, weiß Clemens Setz, frei nach Shakespeare, dass es mehr Dinge zwischen Mensch und Mensch gibt als zwischen Himmel und Erde.
    Was da abgeht: das sind, wie könnte das bei Setz, dem Meister des Makabren, anders sein, Spielarten des Sadismus, der raffinierten Quälerei. Einer Quälerei, so subtil und subkutan, dass sie knapp unter der Wahrnehmungsschwelle bleibt, sogar für den Gequälten selbst.
    Aber nicht für Natalie, Spezialistin im Fach abnormer Beziehungen. Sie durchschaut das Trauma ihres Klienten Michael Ulrichsdorfer, genannt Mike, der nach einem Autounfall und schweren Kopfverletzungen seit sieben Jahren im Heim lebt, einmal im Monat von seiner Familie Besuch erhält, aber nur so, dass diese sich vor seinem Fenster aufbauen und kurz betrachten lässt, mehr erträgt er nicht. Und dann malt er sein Zimmer mit Schminkfarben aus, mit Motiven des Schreckens, die das weit übertreffen, was Goya in seinen letzten Jahren an Monstern an seine Wände gepinselt hat. Es ist so schrecklich, dass Setz uns die Beschreibung erspart und allein auf die Wirkung auf jene setzt, die die Malerei betrachten.
    "Es war, als würde man eine Kathedrale betreten. Herr im Himmel. Fuck me. Das da waren. Und das da. Sie hielt sich eine Hand vor den Mund. Und das da drüben. Ach du meine. Der Effekt war unglaublich... Dafür gab es keine Worte. ...Wer davon keine Albträume bekommt, dachte Natalie, der hat keine Seele."
    Natalie ahnt, dass Mike eigentlich vor seiner Frau in seinen Wahn geflüchtet ist, und heldenhaft nimmt sie den Kampf gegen sie auf.
    Natalie durchschaut auch das "Arrangement" zwischen ihrem wichtigsten "Bezugi", das ist Alexander Dorm, ein überaus unsympathischer querschnittsgelähmter Mann, und dessen ständigem Besucher Dr. Hollberg. Wenn der Leser bei dieser Hauptintrige des Romans ebenfalls durchgeblickt hat, worum es geht, stehen ihm die Haare zu Berge.
    Der homosexuelle Dorm ist ein Stalker. Er hatte sich vor Jahren in Hollberg verliebt, ihn hofiert, bedrängt, verfolgt und seine Frau in den Selbstmord getrieben. Zu den Auftritten, mit denen er die typisch Setz'sche Mischung aus Horror, Ekel und Unauffälligkeit verbreitete, gehört ein ölverschmierter, fast toter Vogel, den er irgendwie im Hollbergschen Schlafzimmer platziert hatte. Und eben dieser Hollberg besucht nun den Mann, der sein Leben ruiniert hat, regelmäßig jede Woche. Dorm fiebert den Besuchen entgegen, macht sich hübsch, scharwenzelt um Hollberg herum. Dieser gibt den Großzügigen, bringt Geschenke mit, plaudert, schiebt den Rollstuhl. Hat Dorm etwa sein Ziel erreicht, hat das Stalking Erfolg gehabt? Nein: Die vermeintliche, geradezu übermenschliche Selbstlosigkeit Hollbergs verbirgt einen großen, auf Jahre angelegten Racheplan (auch deshalb ist der Roman so lang).
    Natalie wird Zeugin, wie Hollberg den ihm hündisch ergebenen Dorm immer wieder, und zwar kaum merklich und jedenfalls nicht nachweisbar demütigt. Einmal lässt er ihn seinen Hut apportieren, immer und immer wieder. Eine Aufgabe, die Dorm in seinem Rollstuhl zwar mühsam, aber freudestrahlend absolviert. Zu der Zermürbungsstrategie gehört, dass Hollberg vor Dorm, dem pathologischen Frauenhasser, mit Natalie flirtet, und ihn so in amokartige Eifersuchtsanfälle und totale Verzweiflung treibt. "Frauen sind Gitarren", lautet übrigens ein Ausspruch von Dorm, aus dem sich der Titel des Romans herleitet, und wenn Frauen, wie Natalie, nicht mal Gitarrenform haben, dann um so schlimmer. Was der dämonische Hollberg aber eigentlich mit Dorm anstellt, was der Kern seiner Rache ist, das zu erzählen sträuben sich hier die Tasten. Es hat etwas mit den Pralinen zu tun.
    Wie im Fall der Trauma-Malerei von Mike praktiziert Setz auch hier die Erkenntnis, dass die schlimmsten Vorstellungen nicht durch das Erzählte entstehen, sondern aus den Lücken quellen, die die Prosa lässt. Das gilt für Horror wie für Ekel und erst recht für ihre Kombination. Natalie, deren Universum sich im Verlauf des Buches immer stärker eintrübt, wird von Hollberg, dem großen Manipulator, umschmeichelt, benutzt, gestalkt, von Dorm beleidigt, bespuckt, attackiert, und am Schluss gibt es einen echten Showdown.
    Natalie, die alles zu durchschauen meint, hat nämlich etwas Entscheidendes übersehen. Und dieses furiose Finale hat sich der Leser nach 1.000 Seiten unmerklich gesteigertem Horror dann aber auch verdient.
    In "Die Stunde zwischen Frau und Gitarre" variiert Setz nicht einfach das alte Paradox, dass die Verrückten die eigentlich Normalen sind und umgekehrt. Er entwirft vielmehr eine Welt, in der jeder Mensch ein eigenes Universum bewohnt, zwischen denen kein wirklicher Austausch möglich ist. Die Sprache – vielleicht die eigentliche Hauptfigur des Romans – kann vieles; sie eröffnet im Sprachspiel, in der Assoziation, im Non Sequitur das Reich der Freiheit; sie zwingt in Lüge, Befehl und Manipulation unter das Joch der Unfreiheit. Oft aber versagt sie einfach als Kommunikationsmittel. Was stattdessen stattfindet, ist gewissermaßen "ver-setzt": Missverständnisse, Täuschungen, Irritationen. Und am Ende wartet die endgültige Isolation, der Tod. Der eigentliche Irrsinn liegt darin, wie der Mensch gemacht ist: Dass er auf die Welt kommt und diese Welt wieder verlassen muss. Darüber meditiert Natalie beim Nachtdienst, und wir verfolgen ihre entfesselten, aber vollkommen konsequenten Gedanken:
    "Alles ist immer nur auf Trost aus, dachte sie. Trost, erträglich machen, Abschied erleichtern. Das ist alles, was das Gehirn kann. Musik, wohnen, fuchsiger Nackengeruch, unsichtbare Schultertiere, Ejakulationen in den Mund, all diese schönen Dinge sind nur dazu da, den Abschied am Ende schwerer zu machen, weil man sich nicht vorstellen kann, je ohne diese Dinge zu sein, aber genau diesen Gedanken hält der Verstand wiederum nicht aus. Es ist zum Amoklaufen. Eine totale Fehlkonstruktion, das Ganze. Ich brauche Trost, denn ich werde sterben, und das macht mich traurig, und dann ist dieser Trost wiederum so angenehm, dass man sich an ihn gewöhnt und nicht ohne ihn sein kann und es einem in der Folge noch schwerer fällt, zu sterben! Also braucht man immer mehr und noch mehr Trost, weil durch jeden früheren Trost das Abschiednehmen um ein paar Grad schwieriger und langsam wirklich absolut unerträglich geworden ist und man am liebsten den Reset-Knopf drücken würde."
    Auch Natalie ist ja keine nur nette Person, sie ist voller Aggressionen, behandelt ihren Exfreund wie einen Laufburschen, manipuliert ihre Umwelt gelegentlich – und bringt sie dann mit dem "treffenden Satz" dorthin, wo sie sie haben will.. Der größte Manipulator ist aber sowieso Clemens Setz selbst, der seinen Lesern in diesem monströsen Roman Einblicke in Wunderkammern und Schreckenskabinette eröffnet und in einen Lektüretaumel getrieben hat, bis ihnen Hören und Sehen und Denken vergangen ist. Verwirrt taucht man aus diesem Roman wieder auf, betrachtet die gewohnte, banale, fast vergessene Umgebung, denkt sich – "was war das denn?" und möchte am liebsten noch mal von vorne anfangen.
    Clemens J. Setz: Die Stunde zwischen Frau und Gitarre.
    Roman. Suhrkamp, Frankfurt 2015. 1019 S., 29.95 Euro