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Roman
Überleben im Hungerheer

Der Roman "Blutsbrüder" des heute wenig bekannten Journalisten Ernst Haffner ist eine literarische Wiederentdeckung. Auch mehr als 80 Jahre nach seiner Ersterscheinung zieht das Buch den Leser von der ersten Seite an in das Berlin der Dreißigerjahre. Es ist auch heute in Zeiten hoher Jugendarbeitslosigkeit ein Plädoyer, den Blick auf das Schicksal des Einzelnen zu werfen.

Von Ralph Gerstenberg |
    Sie dösen auf den Bänken im Wartesaal der Erwerbslosenhilfe, teilen sich Schrippen und Leberwürste in der "Rückerklause" und übernachten in einem Lagerschuppen in der Brunnenstraße. Ludwig, Fred, Walter, Hans und die anderen sind die "Blutsbrüder", eine der zahllosen Jugendcliquen, die es nach 1930 in Berlin gegeben hat. Ihr Zuhause sind die Kaschemmen und Wärmehallen der Spandauer Vorstadt. Acht Jungs, zwischen 16 und 19 Jahre alt, die von zu Hause oder aus einem Erziehungsheim getürmt sind und sich ins "Hungerheer" der über sechs Millionen Arbeitslosen einreihen, das die Weltwirtschaftskrise in Deutschland hervorgebracht hat. Sie haben keine Papiere, werden von der Polizei oder ihren Eltern gesucht, allein wären sie verloren. Ihr Anführer oder "Bulle" heißt Jonny und sorgt für Geld, Schlafplätze und Zusammenhalt.
    "Jonny ist ein junger Mensch von einundzwanzig Jahren. Das starke Kinn, die hervorspringenden Backenknochen wirken etwas brutal, zeugen wenigstens von Willenskraft. Seine Rede ist klug und wohlgesetzt, fast dialektfrei und beweist, dass er jeden in der Clique geistig überragt. Überlegene Körperkraft ist selbstverständlich, sonst wäre er nicht der Bulle."
    Ernst Haffners Roman "Blutsbrüder" von 1932 zieht den Leser von der ersten Seite an hinein in den Sumpf aus Armut, Prostitution und Kriminalität, durch den die Minderjährigen, stets ihrem Cliquenbullen folgend, gemeinsam waten. In dieser Elendsgemeinschaft entwickeln sie Selbstwertgefühl und Gemeinschaftssinn. Sie sind nicht mehr nichts, sie gehören zu den Blutsbrüdern. Der Verzweiflung entkommen, schlagen sie sich Seite an Seite mit ihren Mitstreitern durch die Misere ihrer illegalen Existenz. Immer auf der Flucht vor der Polizei teilen sie Kummer, Alkohol und Mädchen und unterwerfen sich rauen Männlichkeitsritualen wie der Cliquentaufe.
    Eine fast rührende Anteilnahme
    "Die Taufe bleibt keinem erspart. Jeder muss sie über sich ergehen lassen. Und wenn er die Taufe, die zugleich das Gesellenstück darstellt, einmal nicht bestanden hat, dann wieder und wieder, bis es klappt. Ohne bestandene Taufe bleibt jeder unwürdig, der Clique als dauerndes Mitglied anzugehören. Die Taufe bei den Blutsbrüdern besteht in der Aufgabe, im Laufe einer Stunde viermal den Koitus bis zum Orgasmus zu vollziehen, und zwar im Beisein der ganzen Clique und eventueller geladener Gäste."
    Ernst Haffner schreckt weder vor Nervenkitzel, noch vor Kolportageelementen zurück, als Sozialarbeiter und Journalist kannte er das Milieu, das er schildert. Seine jugendlichen Außenseiter beschreibt er mit einer fast rührenden Anteilnahme. Kein Geringerer als Siegfried Kracauer lobte in der "Frankfurter Zeitung" die spannenden Milieuschilderungen Haffners.
    "Sie spiegeln unbekannte Zustände naturgetreu wider, beruhen spürbar auf eigener Anschauung und begnügen sich zum Glück nicht mit unzusammenhängenden Wirklichkeitsausschnitten, sondern bringen das hier und dort Erlebte auf den Nenner einer Fabel, die uns zwanglos durch das unterirdische Großstadtlabyrinth führt."
    Und in der Satirezeitschrift "Simplicissimus" hieß es:
    "Das Buch ist keine Reportage, keine Untersuchung und keine Anklage, es ist einfach packender und wichtiger Lesestoff (...) man liest es mit Gier und Spannung, wie man ehedem Räuber- und Indianergeschichten gelesen hat."
    Eingeholt von der Vergangenheit
    Alfred Döblins "Berlin Alexanderplatz" war gerade erst drei Jahre alt, als Ernst Haffner seine Jugendclique durch dieselbe Gegend zwischen Münz- und Linienstraße stromern ließ. Wie bei Döblin pulsiert und qualmt und tönt es allenthalben. Die Elektrische rattert durchs Geschehen. Der Ton ist rau im Berliner Großstadtdschungel. Es wird gestohlen, gehurt, geprügelt und geschwoft. Und Haffners Randgestalten sind immer mittendrin. So entsteht ein detailliertes und atmosphärisch dichtes Bild der frühen Dreißigerjahre, in denen die Halbwelt längst zur hauptstädtischen Touristenattraktion geworden ist.
    "Alexanderplatz! Mittelpunkt der Berliner Unterwelt. Man kennt sie. Wer kennt sie nicht aus jenen Filmen „Aus dem Milieu der Berliner Unterwelt“? (...) Vorerst die Feststellung, dass es heute in Berlin jene Verbrecherkeller, wie sie uns in hundert Filmen gezeigt werden, gar nicht mehr gibt. (...) Die großen Bierlokale mit brüllender Blechmusik schon am frühen Vormittag sind Wartesäle des großen Heeres der Zuhälter, Obdachlosen und Gelegenheitskriminellen. Aber diese Gäste machen den Kohl des Wirtes nicht fett. Attraktion dieser Lokale ist die Prostitution. (...) Und wenn in diesen Lokalen wirklich einmal was los ist, darf man mit einiger Sicherheit annehmen, dass alles arrangiert ist."
    Mit geradezu soziologischem Blick verfolgt Haffner den Weg seiner juvenilen Outlaws. Als Erzähler leistet er sich immer wieder Einschübe, in denen er offen Gesellschaftskritik übt, gegen Zwangseinweisungen in Erziehungsheimen und die "glasharte Mauer bürgerlicher Voreingenommenheit" wettert. Gewiss hat er auch seinen Jack London gelesen. Die Fahrt eines Jugendlichen unter dem Waggon eines D-Zuges von Köln nach Berlin erinnert stark an Londons "Abenteurer des Schienenstranges". Das Schicksal der Blutsbrüder nimmt den genretypischen Verlauf. Die Clique spezialisiert sich auf Handtaschendiebstähle im Gedränge von Warenhäusern und Markthallen. Von dem ergaunerten Geld können die Jungs eine Zeit lang gut leben. Auf der Höhe ihres Erfolges wird Jonny, ihr Chef, bei einem Einbruch gefasst. Kopflos verliert die Gruppe ihren Halt. Parallel dazu erzählt Haffner die Geschichte zweier Aussteiger - Ludwig und Willi. Die beiden können die kriminellen Aktivitäten der Blutsbrüder nicht länger mit ihrem Gewissen vereinbaren und wollen auf ehrliche Weise ihren Lebensunterhalt verdienen. Ihr Geschäftsmodell, ein ambulanter Secondhand-Schuhhandel, funktioniert. Doch auch sie werden von ihrer Vergangenheit eingeholt, als Illegale landen sie wieder in der Erziehungsanstalt, aus der sie geflohen waren.
    Moralische Appelle an den bürgerlichen Leser
    "Zwei, die alle Höllen und Vorhöllen über sich ergehen ließen, um der Fürsorgeerziehung zu entgehen. Diese Erziehung, die vor Verwahrlosung schützen will. Der milchzähnige Junge neben dem ausgekochten Cliquenburschen. (...) Die Gifte, die das wahllose Zusammenpferchen zeitigen, zeitigen müssen, machen sich bald bemerkbar. Der Junge hat von den Anstaltskameraden gelernt, dass man als milchzähniger, blonder Junge, mit heller weicher Haut, nicht unbedingt vom Stehlen und Einbrechen leben muss, wenn man aus der Anstalt türmt. In den Friedrichstadtpassagen oder im Tiergarten kann man auch verdienen. Sogar in der Anstalt selbst kann sich so ein Junge manche Annehmlichkeit verschaffen."
    Die beiden ehemaligen Bandenmitglieder Ludwig und Willi, die einen ehrbaren Weg einschlagen wollen, werden zu den Hoffnungsträgern des Romans. Ihnen gilt die ungeteilte Sympathie des Autors, der immer wieder das Wort an den Leser richtet, anklagt, Hintergründe erklärt und bewertet. In solchen Passagen zeigt sich der engagierte Journalist Ernst Haffner, den der Erzähler nicht ganz verleugnen kann. Für die Wirkung des Romans wäre es stärker gewesen, die Handlung einfach für sich sprechen zu lassen. Durch moralisierende Einschübe gerät das Buch am Ende gar etwas rührselig. Andererseits zeigt sich darin auch das soziale Bewusstsein Haffners, der für unterprivilegierte Minderjährige das Wort ergreift und den teilnahmslosen ehrbaren Bürgern die Leviten liest. Damit war 1933 jedoch Schluss. Ernst Haffners Roman landete in den Feuern der Bücherverbrennung. Ende der Dreißigerjahre wurde Haffner noch mal zur Reichsschrifttumskammer zitiert. In späteren Akten taucht sein Name nicht mehr auf. Ernst Haffner hat nur diesen einen Roman hinterlassen, den Herausgeber und Verleger Peter Graf in seinem Vorwort völlig zurecht als "menschliches Plädoyer" bezeichnet, das in Zeiten hoher Jugendarbeitslosigkeit den Blick auf "das Schicksal des Einzelnen werfe", anstatt sich einer "allgemeinen Angst zu ergeben".
    Ernst Haffner: "Blutsbrüder - Ein Berliner Cliquenroman";

    Walde & Graf bei METROLIT, 264 Seiten, 19,99 Euro