Ari ist nach zwei Jahren in Dänemark in seine Heimat Island zurückgekommen. Sein Vater Jakob wird bald sterben, ein seit langem aufgeschobenes Gespräch zwischen Vater und Sohn steht bevor. "Etwas von der Größe des Universums" spielt auf drei verschiedenen Zeitebenen: Heute, in Aris Jugend in den 1970er- und 80er-Jahren, als der spätere Literat noch in einer Fischfabrik schuftete, und die dritte Erzählebene führt zurück in die Zeit zwischen den Weltkriegen - in ein sehr viel ärmeres und rauheres Island, zurück zu Aris Großeltern und damit in die frühe Kindheit seines Vaters Jakob. Doch die Geschichten der Menschen, für die Jón Kalman am Anfang den Vorhang öffnet, lässt er eher beiläufig passieren.
"Wir befinden uns in Keflavík. Diesem seltsamen Ort abseits der Straße mit ein paar tausend Einwohnern, einem leeren Hafen, Arbeitslosigkeit, Autohändlern, mobilen Hamburgerbuden und einem so flachen Umland, dass es aus der Luft aussieht wie gestocktes Meer. An stillen Morgen aber geht die Sonne auf wie eine lautlose Vulkaneruption. Wir sehen, wie hinter weit entfernten Bergen das Feuer entsteht, wie wenn etwas Großes aus der Tiefe heraufzieht, eine Kraft, die den Himmel anheben und alles verändern kann, wir sehen, wie die dunkle Tinktur der Nacht vor dieser Kraft zurückweicht. Und dann geht die Sonne auf. Zuerst wie ein Ausbruch, der die Sterne am Himmel, diese freundlichen Hunde, auslöscht. Dann steigt sie weiter hinauf, erhebt sich majestätisch über die feuerversengte Reykjanes-Halbinsel. Steigt langsam höher, und wir leben."
Der Leser als distanzierter Beobachter
Der Kulisse billigt Jon Kalman oft mehr Dramatik zu als der Handlung seiner Bücher. Obwohl der Roman von durchaus dramatischen, existenziellen Vorkommnissen im Leben von Ari, Jakob und anderen Mitgliedern seiner Familie erzählt, passieren die Dinge eher beiläufig, wie unter der Oberfläche. Der Leser wird in eine distanzierte Beobachtungsposition versetzt. Obwohl, oder gerade weil der Ich-Erzähler, dessen Identität nie ganz geklärt wird, sein Publikum mitunter vereinnahmt, indem er zum "Wir" übergeht. Wie hier, bei der Begegnung zwischen Vater und Sohn.
"Sie blicken einander an. Nicht lange, ich meine, nicht lange gemessen an der Zeit, an der wir alles messen und die hier auf der Erde und zwischen den Sternen verstreicht, gezählt von der Uhr; aber für die beiden besteht diese kurze Zeit aus vielen schweren Minuten, Gesteinsbrocken, die von den Jahren mitgeschleppt werden. Jedenfalls für Ari fühlt es sich so an, bei Jakob wissen wir es nicht so genau, er ist einfach anwesend, bleibt uns aber verschlossen, er ist betrunken, im Bademantel, stützt sich an der offenen Tür ab, weil er betrunken ist oder weil er sterbenskrank ist und der Tod ihm langsam die Lebenskräfte aussaugt, er muss sich irgendwo abstützen, um aufrecht stehen und seinem Sohn in die Augen blicken zu können. Es bleibt dabei völlig offen, was von beidem für ihn schwerer ist, das Sterben oder seinem Sohn in die Augen zu sehen (...)."
Große Themen und 100 Jahre Geschichte
"Etwas von der Größe des Universums" handelt von Liebe, Tod und Trauer. Große Themen, die sich wie Unterströmungen durchziehen. Gleichzeitig spannt dieser Roman einen Bogen über beinahe 100 Jahre isländischer Geschichte, ein "Leben im Fisch", wie die Isländer es nennen, vom existenziellen Kampf der Fischer mit den Elementen über Industrialisierung und wachsenden Wohlstand bis zu geschlossenen Häfen und der Krise in der jüngeren Vergangenheit, als das prägende Gefühl auf diesem Vulkanfelsen im Meer eine steingraue Langeweile ist. Wie der Autor mit aufblitzendem Witz beschreibt.
"Die meisten Haushalte in Keflavík haben zwei oder drei Autos, und wenn ihnen langweilig wird, verkaufen die Leute ein Auto und kaufen sich dafür ein neues, meist gleich am folgenden Tag. Heutzutage langweilen sich die Keflavíker oft, die Fischfangquote ist seit Langem futsch, die Armee ist abgezogen, (...) kaum noch etwas da außer der Arbeitslosigkeit und den drei Himmelsrichtungen Wind, Lava, Ewigkeit, und darum liegt es nahe, mal eben ein Auto zu verkaufen und sich ein neues anzuschaffen, dann passiert wenigstens etwas im Leben und auf der Arbeit des Autoverkäufers, und schon ist Keflavík ein besserer Ort."
Poesie und Salzfisch vertragen sich nicht
Einige von Jón Kalmans Figuren retten sich mit Hilfe von Musik, Poesie und Literatur. Ari beschloss in "Fische haben keine Beine", dass Sprache das Wichtigste im Leben sei, so kehrte er der Akkordarbeit in der Fischfabrik den Rücken, um Verleger zu werden. Einem seiner Vorfahren wurde die künstlerische Ader noch zum Verhängnis, wie "Etwas von der Größe des Universums" verrät. Þórður, ein Bruder von Aris Vater, wäre gern Dichter geworden, musste aber zur See fahren, wo er jung starb. Ohne Poesie könne in Island niemand überleben, schrieb noch Islands Literaturnobelpreisträger Halldór Laxness. Aber Überlebenskampf und Träumerei, Poesie und Salzfisch vertragen sich nicht, hält Jón Kalman Stefanssón dagegen. Jón Kalman, geboren 1963, hat selbst in der Fischindustrie gearbeitet, später als Maurer und Polizist, als Lehrer und Journalist, bis er schließlich die Stadtbibliothek in seinem kleinen Heimatort Mosfellsbær leitete.
Melancholisch - und trotzdem mit Leichtigkeit
Seit 2000 lebt er ganz vom Schreiben. Früher Lyrik, heute Prosa, aber: "The only way that I can write ficition is blending it with poetry." Romane könne er überhaupt nur schreiben, wenn er sie mit Poesie vermischt, sagt Jón Kalman. Alles in seinen Büchern tritt hinter die Sprache, hinter den Stil zurück. Trotz des melancholischen, lyrischen Tons hat der Text eine Leichtigkeit, die ihn auch davor bewahrt, ins Sentimentale oder sogar Kitschige abzurutschen. Obwohl das manchmal knapp wird. Die Balance im deutschen Text hält Jón Kalmans langjähriger Übersetzer Karl-Ludwig Wetzig.
"Die Welt war noch so jung, dass sie ihren Mann jedes Mal am Kai erwartete. Sie hatte das Schiff kommen gesehen und war losgelaufen, ohne einen Mantel überzuziehen, gerade an ihren Schal hatte sie noch gedacht, der um ihre schmalen Schultern lag, als sie dann völlig durchnässt und warm vor Liebe am Kai stand, ihre Haare wie Bäche über Stirn und Wangen, kerzengerade und voller Würde. So hatte er sie gesehen und an eine Leopardin denken müssen, die er in London im Zoo gesehen hatte, stolz, aber unruhig in ihrem Käfig. Er stand etwas oberhalb der Pier, völlig in Bann geschlagen und ganz von der Gewissheit und der traurigen Einsicht erfüllt, dass dieser Anblick zur Folge hatte, dass er niemals vollkommen glücklich sein würde."
Menschliche Schicksale beschreibt Jón Kalman zugleich groß und klein, in ihrer ganzen Unlogik und Widersprüchlichkeit, und wie sie untergehen in der Zeit. Vergänglichkeit ist das eigentliche Thema von "Etwas von der Größe des Universums". Kaum ein Autor schreibt so schön über Vergänglichkeit wie Jón Kalman Stefánsson.