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Roman von Shumona Sinha
Zeitreise ins koloniale Kalkutta

Weil ihr Vater gestorben ist, fliegt Trisha von Paris in ihre Heimat Westbengalen - und beginnt damit auch eine Reise in die Vergangenheit ihrer Ahnen. Autorin Shumona Sinha verbindet in ihrem Roman "Kalkutta" die Familiengeschichte ihrer Protagonistin mit der bewegten politischen Geschichte Indiens.

Von Insa Wilke |
    Ein Blick von Sandakphu auf Kanchenjunga (Westbengalen).
    Der dritte Roman von Shumona Sinha spielt im indischen Bundesstaat Westbengalen. (picture-alliance / dpa / Leo F. Postl)
    2011 gab es einen gehörigen Knall, als Shumona Sinha ihren Roman "Erschlagt die Armen!" in Frankreich veröffentlichte. Sie arbeitete damals wie ihre Hauptfigur als Dolmetscherin für das Amt für Flüchtlinge und Staatenlose in Paris. Ihr Roman über die "Märchen der menschlichen Zugvögel", wie es im Buch heißt, klagte die französische Einwanderungsbürokratie scharf an. Die Folge des Romans in der Realität: Sinha wurde als Dolmetscherin entlassen, macht aber seitdem als Autorin Furore. Auf Deutsch erscheint jetzt in der Übersetzung von Lena Müller ihr dritter Roman. Er heißt "Kalkutta".
    Während "Erschlagt die Armen!" vom heutigen Leben in Paris erzählt, wendet Sinha in "Kalkutta" den Blick zurück. Der Roman beginnt in der Gegenwart, mit Trisha, die aus Paris zur Bestattungszeremonie für ihren verstorbenen Vater nach Westbengalen reist. Drastik ist das Markenzeichen von Shumona Sinha. Auch die Anfangsszene von der Verbrennung des Vaters ist ein drastisches Bild. Es verfolgt Trisha bis in den Schlaf.
    "Nachts im Schlaf spüre ich, wie Hitze waagerecht aus meinem Bauchnabel aufsteigt. Kurz vor dem Ausbruch. Ein Spalt, der sich mit rotem und gelbem Feuer füllt. Wie die verbrannte Haut eines mit Lava bedeckten Tals, an dessen Sohle das Feuer grollt. Ich stehe aufrecht, ich spreche. Mit einer Kerbe voll Feuer in meinem Bauch. Mit einer Blume aus Fleisch und Asche, die aufblüht und den Himmel überwuchert."
    Familiengeschichte wird zu politischer Geschichte
    Die Blume aus Fleisch, das ist der runzlige Bauchnabel des Vaters, den Trisha in der Glut sieht. Das Bild des brennenden Vaters wird im Laufe des Romans übergehen in das Panorama eines immer wieder in Flammen stehenden Landes. Familiengeschichte verwandelt sich in politische Geschichte, ein klassisches literarisches Muster. In der deutschsprachigen Literatur hat Shida Bazyar es gerade mit ihrem Roman "Nachts ist es leise in Teheran" sehr überzeugend vorgeführt. Sinha nutzt dieses Muster, um von Herkunft zu erzählen, von der Nabelschnur also, die Trisha an den Vater und die Mutter, an die Ahnen und an ihr Herkunftsland bindet, auch wenn sie heute in Paris lebt. Schritt für Schritt geht es zurück in der Zeit: mit dem Vater und der Mutter zu den Anfängen des Kommunismus in Indien, mit der Groß- und Urgroßmutter bis in die Kolonialzeit und das Reich farbenprächtiger Legenden.
    Manchmal holpert der Rhythmus der Zeitsprünge etwas, aber mitreißend ist diese Zeitreise doch. Zumal Sinha immer wieder mehr oder weniger subtile Bögen in die Gegenwart schlägt und sichtlich bemüht ist, die Falle des rein historischen Romans zu vermeiden.
    "Kalkutta" wirkt dabei manchmal wie die Antithese zu "Erschlagt die Armen!" Sinha schlägt jetzt zum Beispiel keinen wütenden, sondern bei aller Drastik einen zärtlichen Ton an, wenn sie von Westbengalen und seinen Bewohnern erzählt. Zärtlich noch dann, wenn es um die blutige Geschichte geht, um die Kämpfe zwischen Kolonialherren, Unabhängigkeitskämpfern und Kommunisten, später zwischen Muslimen und Hindus.
    Zärtlicher Blick auf männliche Figuren
    Und zärtlich ist auch der Gestus, mit dem die männlichen Figuren gezeichnet werden. Während die Männer in "Erschlagt die Armen!" den Frauen gegenüber eher verachtungsvoll auftreten, entwirft Sinha mit Trishas kommunistischem Vater Shankya einen für seine Zeit erstaunlich fürsorglichen, fortschrittlichen und verständnisvollen Charakter. Das zeigt sich schon darin, dass er mit Urmila wissend eine Frau heiratet, die nicht nur einen anderen liebt, sondern auch an Depressionen leidet.
    "Urmilas Krisen folgten der Flugbahn eines unberechenbaren Kometen, der nach sechs Monaten, einem Jahr oder schon zwei Wochen wieder auftauchte. Shankya wollte fliehen, aber blieb stoisch bei seinem Bau. Wenn er seine mit Antidepressiva und Schlafmittel betäubte Frau ins Bett gebracht hatte, traf er sich mit seinen Genossen der gescheiterten Revolution."
    Sinhas Bilder für Urmilas Krankheit bemühen zwar eher die gängigen poetisch-düsteren Metaphern. Aber die Vorstellung, was es bedeutet haben muss, in den 50er Jahren in Westbengalen psychisch zu erkranken, von der Familie geächtet und von den Dienstboten verachtet zu werden, beeindruckt einen nachhaltig. Neben diesem starken Thema, dessen Potenzial die Autorin gar nicht ganz ausspielt, wirkt es fast routiniert und konventionell, wie Shumona Sinha Familienlegenden einbettet in die Geschichte der Kommunisten und wie die dann mit den religiösen Konflikten überblendet werden, sodass sich der Ursprung des Hasses zwischen Muslimen und Hindus in die Kolonialzeit zurückverfolgen lässt.
    Klare historische Kausalitäten
    Die große Klarheit, mit der Sinhas Roman historische Kausalitäten darstellt, steht im Kontrast zu eher fragend tastenden Erzählweisen, mit denen sich deutschsprachige Autorinnen wie Anne Weber oder Katja Petrowskaja der Vergangenheit annähern. In "Kalkutta" heißt es:
    "Die Macht der Worte kennt keine Grenzen, keine Schwachstelle, sie beherrscht die Dinge, die Tatsachen, unsere Vorstellungen und unsere Gefühle. Manchmal aber dienen Worte auch dazu, das Schweigen hörbar zu machen, es einzufassen wie ein Mäuerchen einen Brunnen."
    Was hier über Sprache gesagt wird, erinnert an die Überzeugungskraft der politischen Parolen, die in Trishas Jugend rot-schwarz auf den Hauswänden in Kalkuttas Straßen standen. Man merkt, dass Sinha von ähnlich klaren politischen Positionen aus schreibt und dass sie sich als Romanautorin nicht nur ihrer eigenen Herkunft vergewissert, sondern sie auch aufklärend nach außen vermitteln möchte.
    Glauben an die Macht der Sprache
    Ihr Roman ist nicht nur vom Glauben an die Macht der Sprache getragen, sondern auch von dem an die Erzählbarkeit von Geschichte, und das sogar im Schnelldurchlauf. Genau dieses Selbstbewusstsein, das so ganz und gar im Gegensatz steht zur begründeten Skepsis der Moderne, gibt ihrem Buch eine unheimliche Note. Freilich aber auch seine Kraft.
    Shumona Sinha: "Kalkutta", Edition Nautilus, Hamburg 2016, 192 Seiten, 19,90 Euro