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Roman "Zeit der Unschuld"
Die gefährlichen Kräfte von Liebe und Leidenschaft

Edith Whartons Roman "Zeit der Unschuld" ist ein Klassiker der Romanliteratur - 1920 wurde sie dafür als erste Frau mit dem Pulitzerpreis ausgezeichnet, 1993 verfilmte Martin Scorsese die Geschichte. Andrea Ott hat das Werk neu übersetzt und die versunkene Welt überbordender Konventionen im New York der 1870er-Jahre zu neuem Leben erweckt.

Von Brigitte Neumann |
    Dieser Roman aus dem Jahr 1920 umkreist ein bekanntes Dilemma: Ein Mann zwischen zwei Frauen. Wählt er die, die er liebt, verliert er Familie, Ansehen, Wohlstand. Trifft er eine vernünftige Wahl, verliert er die Liebe seines Lebens. Edith Wharton zeichnet in "Zeit der Unschuld" rund vierzig Jahre im Leben des vermögenden Anwalts Newland Archer aus New York nach: wie er schwankt, zweifelt, leidet und wie er zuletzt die Umstände über sein Leben entscheiden lässt. Dabei diskutiert sie gegensätzliche Positionen: etwa dass Liebe und Leidenschaft gefährliche Kräfte sein können, mit der Macht, die gesellschaftliche Ordnung zu zersetzen. Andererseits aber legt sie sehr ausführlich und genüsslich die Fragwürdigkeit dieser Ordnung dar. Mit der Einschränkung, dass nicht jede und jeder für ein Leben in Freiheit gemacht sei. Das Gros ihrer Frauenfiguren zum Beispiel ist es nicht.
    Mitleidlos stellt sie die Damen des New Yorker Geldadels als – Zitat - "Dressurprodukte" der Gesellschaft dar, Geschöpfe einer "Welt blasser Artigkeiten". Ihre Biographin Hermione Lee zitiert aus einem Brief Whartons: "Ich halte nichts von Auslandsstipendien für Frauen. Sie sollten lieber zuhause bleiben und sich um ihre Babies kümmern."
    Als erste Frau mit Pulitzer Preis ausgezeichnet
    Die 1862 geborene Tochter einer Familie der New Yorker Oberschicht ist allerdings nicht zuhause geblieben, sondern immer wieder nach Europa ausgerissen, bevorzugt nach Paris, wo sie sich schließlich niederließ und mit 75 starb. Auch hatte sie sich nie um Babies zu kümmern. Die Ehe mit ihrem schwermütigen Mann Edward blieb kinderlos und wurde nach 28 Jahren geschieden. Wharton schrieb 15 Romane, 84 Erzählungen, unzählige Gedichte, war also eine ausgesprochen produktive und erfolgreiche Schriftstellerin. Sie erhielt als erste Frau den Pulitzer Preis und die Ehrendoktorwürde der Elite-Universität Yale.
    Soweit zur verwirrenden Gemengelage im und um den Roman "Zeit der Unschuld".
    "Und ich würde sagen, das machts ja auch spannend"
    … so Andrea Ott, deren Neuübersetzung diesen Herbst herausgekommen ist.
    "Wenn alles gleich klar ist, hier sind die Guten und hier sind die Bösen. Hier ist der Held, der alles besiegt. Also, ein Held, der kämpft und dann, sagen wir mal, untergeht auf eine Weise, der hat sich in seinem Untergang ja auch eingerichtet. Ich find das viel spannender, so was."
    Plastische Darstellung einer versunkenen Welt
    Die Übersetzerin mehrerer Werke von Edith Wharton und einiger des großen Wharton-Förderers Henry James, ist bei "Zeit der Unschuld" gewitzt zu Werk gegangen, und hat auf diese Weise die versunkene Welt überbordender Konventionen so recht plastisch gemacht.
    Es geht um die Zeit Ende des 19. Jahrhunderts. Newland Archer ist dabei, die beste Partie zu machen, die seine Mutter einfädeln konnte: Die überaus wohlhabende, hübsche und in fast jeder Hinsicht harmlose May Welland, deren Unschuld "ihren Geist gegen Fantasie und ihr Herz gegen Erfahrung abschottet", wie Edith Wharton schreibt. Solche Eigenschaften braucht, wer gefeit sein will gegen Unerfreuliches. Und das scheint das oberste Gebot dieser Kaste der Superreichen. Unerfreulich wie beispielsweise die plötzliche Ankunft von Ellen Olenska, der Cousine Mays.
    In Paris mit einem notorischen Schürzenjäger verheiratet, ist sie heimgekommen, um ihre Familie davon zu unterrichten, dass sie sich trennen wird. Weil sie damit in den Augen der Familie eine kompromittierte Frau wäre, die das Ansehen der ganzen Sippe beschmutzt, beschließt der Familienrat, Ellen umzustimmen. Newland Archer wird mit der Aufgabe betraut … und versagt. Denn er verliebt sich unsterblich in die reife, kluge und elegante Schönheit. Erst als May, inzwischen die Ehefrau Newland Archers, mit der Nachricht kommt, sie erwarte ein Kind, begräbt er den Plan, mit Ellen Reißaus zu nehmen. Er bedenkt, was er zu verlieren hat, was sein Kind verlöre, welches Unglück er über die doch an allem unschuldige May bringen würde. Und auch Ellen Olenska hat ein Einsehen. Sie liebt ihre Cousine und weiß, dass ein finanziell behagliches Leben für Newland Archer an ihrer Seite nicht möglich wäre. Andrea Ott:
    "Diese vielfache Perspektive, das ist das, was besonders reizvoll ist an dem Buch"
    "Edith Wharton war schon Ende fünfzig glaube ich, als sie das geschrieben hat. Und sie blickt ja zurück auf die Zeit ihrer Jugend oder sogar ihrer Kindheit. Und sie ist aber selber schon ein bisschen abgeklärter, so dass sie die verschiedenen Perspektiven beschreiben kann. Sie beschreibt den jungen Mann, der an dieser Gesellschaft leidet und sich dann doch einfügt. Sie beschreibt aber zum Beispiel auch diese alte Mrs. Mingott, eine meiner Lieblingsfiguren. Dieser ungeheure Fettkloß, sitzt da und dirigiert die ganze Familie, sagt was getan werden muss und was nicht getan werden darf. Und ist aber dennoch die einzige Unkonventionelle in der Familie. Diese vielfache Perspektive, das ist das, was besonders reizvoll ist an dem Buch."
    Nicht alle Figuren gelingen Edith Wharton gleich überzeugend. Ihr liegt der Sarkasmus mehr als die Einfühlung, die Karikatur mehr als das naturalistische Portrait. Den zaudernden Helden Newland Archer sowie seine blasse Ehefrau May trifft gelegentlich die Verachtung der allwissenden Erzählerin, was ein wenig naseweis wirkt. Davon stechen ihre köstlichen Zeichnungen von Figuren wie Mrs. Mingott, die sie als majestätische Matrone inszeniert, und des Ehepaars van der Luyden positiv ab. Die obersten Zeremonienmeister der guten Gesellschaft New Yorks wirken, - Zitat – "als seien sie im luftleeren Raum eines untadeligen Lebens auf schauerliche Weise konserviert worden".
    Edith Wharton hat ein vielgestaltiges Repertoire an Stilmitteln, um die mit ihrer Auflösung oder ihrer Erstarrung ringende Oberschicht der Fifth Avenue zu beschreiben. Einerseits eine knappe Eleganz der Schilderung von Äußerlichkeiten, die tieferliegende Gefühle nicht dezidiert benennt, aber evoziert. Und andererseits, sagt Andrea Ott …
    " … hat sie zwischendrin plötzlich Sätze, die sind ganz ungeheuer lang und kompliziert und schwülstig formuliert. Erst mal denk ich mir, was ist denn jetzt passiert? Hat sie etwa einen schlechten Tag gehabt oder was? Und dann stellt sich raus, dass sie das immer dann verwendet, wenn sie die Umgebung, diese Zeit schildert, z.B., wenn sie eine Einrichtung schildert von einem Raum. Oder wenn sie konventionelles Verhalten schildert."
    Damals wie heute gilt das Primat der vernünftigen Lösung in der Partnerwahl
    Dann mäandern die Sätze plötzlich wie die langen Schleppen der Damen, wenn sie den Salon durchqueren. Schleppen sind aus der Mode. Aber man lasse sich von Äußerlichkeiten hier nicht täuschen. Denn verblüfft spürt man, dass dieser über 100 Jahre alte Roman unsere Gegenwart bloß als Variante seiner Zeit aufscheinen lässt. Zwar mag es heute nur noch wenige von der Familie arrangierte Ehen geben, dafür gibt’s neue technische Instanzen, die das tun. Die Algorithmen der Dating-Portale rechnen aus, wer zu wem passt. Noch eine Gemeinsamkeit: Damals wie heute gilt das Primat der vernünftigen Lösung in der Partnerwahl. Frank Zappa hat den dazu passenden Song geschrieben: "Broken Hearts are for Assholes".
    Aber so simpel ist es für Newland Archer, den Helden des hier besprochenen Buches, nicht. Ja, er hat sich gefügt, hat dabei mitgespielt, die Ordnung aufrechtzuerhalten, aber dafür die – Zitat – "Krone des Lebens" – die Liebe - "verfehlt", wie er bedauert. Das macht ihn zur tragischen, weil wissenden, Figur. Eine mittlere Position, eine die Liebe und Konvention hätte versöhnen können, stand für ihn nicht zu Wahl. Womit "Zeit der Unschuld" sich wie der Roman zu dem berühmten Satz von Paul Valéry liest: "Zwei Gefahren bedrohen immerfort die Welt: die Ordnung und die Unordnung."