Christoph Heinemann: Der Bundestag wird heute voraussichtlich mit großer Mehrheit einer Verlängerung des Hilfsprogramms der Eurozone für Griechenland um vier Monate zustimmen. Eine Abgabe auf Immobilien, Eindämmung des Benzin- und Zigarettenschmuggels und der Versuch, den Athleten, die im Volkssport Steuerhinterziehungen Höchstleistungen erbringen, die eine oder andere farbige Karte zu zeigen - die griechische Regierung hat einige Ideen aufgeschrieben, um weitere Milliarden bekommen zu können. Vor dieser Sendung haben wir Romano Prodi erreicht. Ich habe den ehemaligen italienischen Ministerpräsidenten und früheren Vorsitzenden der EU-Kommission gefragt, ob das, was die griechische Regierung der Eurogruppe geschickt hat, ausreicht.
Heinemann: Reichen die Reformvorschläge aus, die die griechische Regierung an die Eurogruppe geschickt hat?
Romano Prodi: Es ist ein Schreiben des guten Willens, mit Zahlen, die sehr schwer zu überprüfen sind. Der Weg ist sehr eng: einerseits möchte keiner ein Ausscheiden aus dem Euro. Andererseits steht Griechenland mit dem Rücken an der Wand und hat kaum Bewegungsspielraum. Am Schluss hat sich der Kompromiss durchgesetzt.
Heinemann: EZB-Präsident Draghi sprach von einem guten Ausgangspunkt, allerdings blieben noch einige Lücken. Welche sind die wichtigsten?
Prodi: Diejenigen, die sofort etwas gebracht hätten: Kürzungen der Sozialausgaben, oder der direkten Ausgaben der Regierung. Das ist inzwischen nicht mehr möglich, da sich das Land an einem äußersten Punkt befindet. Auf der anderen Seite lassen sich die Versprechungen nicht erfüllen: Löhne oder Renten erhöhen. Deshalb der Kompromiss, der grundsätzlich einen Aufschub bedeutet. Damit bekommt Griechenland Luft zum Atmen. So ist das gegenwärtig in Europa: Der Euro bleibt ohne die Finanz- und Wirtschaftspolitik, die ihn begleiten müsste. Also geht es mit Aufschüben und Kompromissen weiter".
Heinemann: Sollte die harte Sparpolitik in Griechenland fortgesetzt werden?
Prodi: Die ist in ganz Europa schädlich, nicht nur in Griechenland. Ich war immer dagegen. Als Ministerpräsident habe ich die Schulden gemessen am Bruttoinlandsprodukt deutlich verringert, ich habe mich damit gerühmt, dass ich den europäischen Kriterien gefolgt bin, aber nur weil Wachstum möglich war. Ohne Wachstum bekommt man die Kosten nicht in den Griff. Ich habe das Drei-Prozent-Kriterium in einem Interview, das bekannt geblieben ist, einmal als unsinnig bezeichnet.
Heinemann: Wieso unsinnig?
Prodi: Es gibt Zeiten mit positiver Haushaltsbilanz, wenn die Wirtschaft gut oder sehr gut läuft. Es gibt aber auch negative. Das Problem ist, dass wir eine gemeinsame Wirtschaftspolitik benötigen, über die Europa heute aber nicht verfügt.
Heinemann: Was antworten Sie denjenigen, die fordern, dass Griechenland aus dem Euro ausscheiden sollte?
Prodi: Das ist falsch für Griechenland und für die anderen Länder. Das würde dort zu einer hohen Inflation und für ein Durcheinander im Währungssektor sorgen. Diese Infektion würde nicht nur Griechenland betreffen, sondern Europa zumindest zweiteilen. Und es verdeutlichte, dass der Euro mit Notfällen nicht umgehen kann. Es wäre ein negatives politisches Signal.
Heinemann: Wie sehen Sie die deutsche Position: Ist Deutschland zu sparwütig und zu starrsinnig?
"Die Deutschen brauchen mehr Kaufkraft und Investitionen"
Prodi: Ein Land wie Deutschland mit dem größten Handelsüberschuss – proportional mehr als China - mit Null Inflation, mit einem bescheidenen Wachstum, das sich in den letzten Monaten verbessert hat, müsste die eigene Wirtschaft stärker befeuern. Und müsste jede Ausgabenpolitik unterstützen. Wenn Minister Schäuble 10 Milliarden Euro in drei Jahren einplant, ist das nichts. Die USA und China haben 2007/2008 die üble Phase der Krise überwunden, indem sie sehr viel Kaufkraft in die Wirtschaft gespritzt haben. Das wäre notwendig, um aus der Krise zu gelangen.
Heinemann: Braucht man keinen ausgeglichenen Haushalt?
Prodi: Sicher braucht man das. Ich wiederhole: Ich habe in einem sehr schwierigen Land wie Italien die Schulden gesenkt. Aber nur, weil es Wachstum gab. Das Problem ist nicht statisch. Man kann nicht sagen: 'Ich gebe immer weniger aus'. Wenn das Bruttoinlandsprodukt sinkt, werde ich im Verhältnis dazu die Schulden niemals anpassen können. Das heißt nicht möglichst viel ausgeben. Es heißt investieren. Und Deutschland, aufgrund seiner eigenen Kraft die weitaus größte Wirtschaft in der Eurozone, sollte dieser Führungsrolle entsprechen als Lokomotive für ein europäisches Wachstum.
Heinemann: Einige beklagen die Weitschweifigkeit der Regierung in Athen, die schlecht Vorbereitung, Tricksereien, trauen Sie der griechischen Regierung?
Prodi: In der Vergangenheit nicht, da haben die Regierungen mit Zahlen geschummelt. Sie haben betrogen, weil sie das konnten. Als ich als Kommissionspräsident 2003 Frankreich und Deutschland gebeten habe, die vertraglichen Haushaltsgrenzen einzuhalten, hat man mir geantwortet, die Kontrolle der Haushalte sei Aufgabe der einzelnen Staaten und nicht der Kommission. Griechenland ist ohne Kontrolle geblieben und konnte gewaltig tricksen. Die Absichten der heutigen Regierung sind sehr vage. Deshalb spreche ich mit Blick auf den erreichten Kompromiss lieber von einem Aufschub und nicht von einer Einigung.
Heinemann: Will die neue Regierung die Regeln einhalten?
Deutschland muss mehr führen
Prodi: Laut Umfragen möchte die große Mehrheit der Griechen den Euro nicht aufgeben. Deshalb steht die Regierung mit dem Rücken an der Wand und ist verpflichtet zu gehorchen.
Prodi: Laut Umfragen möchte die große Mehrheit der Griechen den Euro nicht aufgeben. Deshalb steht die Regierung mit dem Rücken an der Wand und ist verpflichtet zu gehorchen.
Heinemann: Die Parteizeitung von Syriza hat eine Karikatur veröffentlicht, die Wolfgang Schäuble in einer Naziuniform zeigt ...
Prodi: ... das ist das Werk von Idioten ...
Heinemann: ... Minister Varoufakis zeigte neulich öffentlich den Mittelfinger, als er über Deutschland sprach. Hat sich die politische Kultur in Griechenland verändert?
Prodi: Das weiß ich nicht. Im Augenblick sind viele erregt. Auf jeden Fall ist das unerträglich. Deutschland hat die Führungsrolle in Europa. Es gibt keine Führung ohne Verantwortung. Als die Vereinigten Staaten von Amerika nach dem Krieg Führungsmacht wurden, haben sie sofort den Marshall-Plan auf den Weg gebracht. Nicht aus christlicher Barmherzigkeit. Damit entstand vielmehr ein Netzwerk von Allianzen, das auch Amerika in Zukunft schützen würde und das allen europäischen Staaten zugutekam. Ich halte das für die Aufgabe der deutschen Führungsrolle, die heute nicht nur unangefochten, sondern auch einzigartig ist. Diese virtuose Kraft Deutschlands sollte sich in eine verantwortliche Führung wandeln. Im Falle der Ukraine ist das geschehen. Die direkte Verantwortung, die Deutschland übernommen hat, hat mir sehr gefallen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.