Dr. Patrick Elff hat es einfach ein bisschen aus der Kurve getragen. Dabei ging es ihm doch eigentlich gut. Die Aussichten waren sogar blendend. Elff hatte Geisteswissenschaften studiert, aber dann war er ins Bankfach gewechselt und hatte für sein Alter schon eine beachtliche Karriere hingelegt. Vielleicht lag es an seiner Frau Pilar, Tochter aus schwer betuchtem Haus. Vielleicht wollte der junge Mann von bescheidener Herkunft es einfach allen zeigen. Doch wer versteht schon sein Leben?
Aber wie konnte Patrick auf die schiefe Bahn geraten? Das war das Problem. Als Investmentbanker steckt man schnell in windigen Geschäften. Allerdings bestand Patricks Job - und auch sein Talent – darin, die versteckten Risiken und eventuell unseriösen Wege des Geldes im Interesse seiner Bank aufzuspüren. Ihm fallen einige sonderbare Buchungen auf. Deshalb fragt er Dr. Filter, einen kauzigen Mitarbeiter seiner Abteilung mit der Reputation eines Pedanten.
Dr. Filter erklärt seinem Chef ohne Umschweife, dass er selbst hinter den obskuren Buchungen stecke. Offenbar hatte er auf diese Weise schon ein paar Millionen beiseitegeschafft. Natürlich stünde es Patrick Elff frei, ihn jetzt anzuzeigen, aber dann gäbe es einen Skandal, der die Bank in erhebliche Schwierigkeiten bringen könnte – oder aber er ignoriere die ganze Sache und bekäme dafür seinen Anteil auf ein Offshore-Konto überwiesen.
Niemals hätte er sich das alles anhören dürfen. Sofort hätte er den Raum verlassen und Verbindung zum Vorstand suchen müssen. Warum hatte er das nicht getan? Was hatte ihn dort auf dem Schreibtisch festgehalten, zu Doktor Filter hinabgebeugt, wie zu ihm hinuntergezwungen? Wo genau hatte der Punkt gelegen, an dem es kein Zurück mehr gab? Was war das für eine abschüssige Bahn, auf der er sich vielleicht schon seit Längerem befand, während er, von außen gesehen, unablässig aufzusteigen schien?
Doch bald danach findet man den depressiven Dr. Filter in seiner Wohnung erhängt auf. Die Polizei entdeckt rasch Konten mit unerklärlich hohen Beträgen. In diesem Zusammenhang wird auch Patrick vernommen, allerdings nicht beschuldigt. Doch ihm scheint: Nur eine Frage von Tagen bis die Wahrheit ans Licht kommt. Von einer Sekunde auf die andere fasst er den Entschluss, das Weite zu suchen, einfach abhauen. In diesem Moment zerfällt sein altes Leben. Er nimmt das nächste Flugzeug nach Marokko, außer einer ordentlichen Summe Bargeld und einem Pass hat er kein Gepäck. Er ist im radikalsten Sinn frei – also leer. Ein beschriebenes Blatt, auf dem alles unleserlich geworden ist.
Flucht nach Marokko
Wieso Marokko? Tatsächlich hatte Patrick Elff ein Mal zuvor ein krummes Geschäft selbst eingefädelt. Im höheren Auftrag allerdings, wenn nicht im höchsten. Monsieur Pereira, ein Fürst der internationalen Geschäftswelt, hatte ihn am Rande einer Konferenz zu einem vertraulichen Dinner in ein edles Pariser Restaurant gebeten. Es ging darum, zehn Millionen Euro in bar als Bestechungsgeld in die Ukraine zu transferieren. Nach getaner Arbeit erklärt der Milliardär: Junger Mann, Sie haben einen Wunsch bei mir frei!.
Monsieur Pereira ist Marokkaner, Vertrauter des Königs und seine Leidenschaft gilt einer Stadt: Mogador. Wer von Casablanca etwa 350 Kilometer die Küste entlang nach Süden fährt oder wer von Marrakesch den direktesten Weg zum Atlantik nimmt, der stößt auf eine hinreißende Hafenstadt – fast ins Meer hineingebaut.
Diese Stadt hieß bis weit in das 20. Jahrhundert Mogador. Heute heißt sie Essaouira. Die etwa 80.000 Einwohner leben von edlem Individualtourismus und Fischfang. Mit einiger Sicherheit fasziniert Martin Mosebach Essaouira, so wie es sich heute dem europäischen Touristen erschließen mag, sehr viel weniger als die verborgene spirituelle Substanz des Orts, die dunklen Gänge der lokalen Ordnung. Insofern bietet der alte Name Mogador einen Schutz vor dem mondänen Schein des heutigen Essaouira.
In diese Stadt reist Patrick Elff allein mit der Absicht, den großen Monsieur Pereira zu treffen, auf dass der Allmächtige ihn retten möge. Als er zerknittert und erschöpft aus dem Bus von Casablanca klettert, nimmt ihn ein Schlepperjunge unter seine Fittiche und führt ihn in ein Haus, das Zimmer vermietet.
In dem großen Haus, diesem unübersichtlichen Organismus mit den vielen Parteien rings um den Arkadenhof, wo auch Kadijas winziger Verschlag lag, den sie nun mit ihren beiden Kindern bewohnte, herrschte ein Kommen und Gehen, nur wenige waren dort dauernd zu Hause.
Ein fensterloses spartanisches Refugium wird ihm zugewiesen, niemand fragt nach seinem Pass oder seinen Absichten. Der Name Monsieur Paris fliegt ihm zu – und das ist genau das, was er gesucht hat: Unauffindbarkeit. Dafür nimmt er den Mangel an jeglichem Komfort in Kauf. Nach und nach lernt er die Bewohner des Hauses kennen – zuallererst die Besitzerin Khadija:
So stark war indessen der Eindruck, den Khadijas strengforderndes Mienenspiel hinterließ, dass er auch beim Anblick ihres Hinterteils nicht in Vergessenheit geriet. Und nicht zu Unrecht, denn sind Körper und Seele nicht eine Einheit, wirken sie nicht aufeinander und zeugen in allen ihren Teilen vom Vorhandensein eines umfassenden Willens, der sich in Gliedmaßen und im Mienenspiel, in Gedanken und Empfindung gleichermaßen ausdrückt? So besaß dieses Hinterteil, das sichtbar wurde, als Khadija sich abwandte, für denjenigen, der ihr Gesicht in sich aufgenommen hatte, eben weniger von Duldsamkeit, Mütterlichkeit, Schläfrigkeit und südlicher Wärme, schon gar nichts vom Trost des vieles unter sich begraben könnenden Kissens. Es war vielmehr ein Kraftzentrum, Sitz von matriarchalischer Gewalt, fordernd und gebietend, das Reservoir unerschöpflicher Kräfte, wohinein der Verstand aus dem darüber schwebenden Kopf sich wie in eine Zisterne herablassen konnte, um seine Energien zu erneuern.
Es ist diese Sorte Komplexität, die Patrick mehr und mehr kennenlernt: die verblüffend andere Lebensnavigation. Und dafür ist Kadija ein großartiges Beispiel. Sie stammt aus ärmlichsten Verhältnissen, verliert früh ihre Eltern und wird in jungen Jahren mit einem Fischer verheiratet. Wie so viele andere auch verschlingt ihn das Meer. Kadija hat ihn nie geliebt, aber geschätzt.
Kadija wird zur Zuhälterin
Der nächste Ehemann hat immerhin ein eigenes Boot, von dem auch er in tiefer See verschwindet. Mittlerweile hat Kadija einen Sohn vom ersten und eine Tochter vom zweiten Mann. Beiläufig entdeckt sie ein einträgliches Gewerbe: die Prostitution.
Niemals versteht sie sich als Hure und gerade das macht sie so unwiderstehlich. So verfällt ihren Diensten etwa der örtliche Polizeichef. Der schnaufende Commandante ist ein Junkie der Lust und in Mogador fehlt es nicht an Gelegenheit. Irgendwann bittet er Kadija, ihm ein paar neue Gespielinnen zuzutreiben. Dabei entdeckt die junge Frau ein neues Geschäftsmodell: die Zuhälterei.
Bald gebietet sie über eine ganze Schar von Frauen wie sie: Huren aus Not, die sittlich getarnt Männern den Verstand rauben. Die Geschäfte laufen in äußerster Diskretion, geschützt von den Honoratioren, die zu Kadijas besten Kunden zählen.
Die erste Khadija, nach der 1.400 Jahre später auch sie benannt worden war, das war niemand anderes als die erste Frau des Propheten Mohammed gewesen; eine Witwe, 25 Jahre älter als der große Mann, wohlhabend und mit einem Auge dafür, was in ihm steckte, als erst sehr wenige das erkannt hatten. Als Khadija kam man nicht auf die Welt, Khadija war ein Ziel; Überlegenheit war eine Anlage, wollte aber entwickelt werden. Jung und arm, wie sie war, galt es noch zu warten, und das fiel ihr, im Bewusstsein ihrer Gaben, gar nicht schwer. Sie ging nicht in die Schule, sie arbeitete nicht im Haushalt. Hätte sie das Wort gekannt, dann hätte sie sagen dürfen, dass ihr Leben aus großen Ferien bestand; die knappe Ernährung wurde aufgebessert, indem sie ihr Lächeln einsetzte. Sie erfuhr sehr viel bei ihren Streifzügen durch die Stadt. Sie wusste, welche Feindschaften es gab, wem welches Haus gehörte, wer vor dem Bankerott stand, wer zu den Huren ging und welche Frau ihren Mann betrog. Sie verstand aber auch, welche verborgene Wirklichkeit die Gedanken der Stadtbewohner beherrschte.
Außerdem verfügt Kadija seit jungen Jahren über gewisse seherische Kräfte. Man könnte es auch Hexerei nennen, wenn sie gelegentlich dem Lauf der Dinge ihren Willen aufzwingt. Wobei der Umgang mit dem Dämonischen in Mogador ganz normal ist. So lebt in ihrem Haus ein fast hundertjähriger wundertätiger Imam, zu dem die Menschen kommen, weil sie Heilung oder Weissagung suchen.
Roman handelt von den Realitäten einer Stadt
Martin Mosebach führt uns in eine Welt, von der wir allenfalls in unseren Märchen noch Spuren finden. Allerdings handelt es sich bei diesem Roman nicht um ein Märchen, ebenso wenig um eine volkskundliche Beschreibung. Mogador handelt von den Realitäten einer Stadt, ihren Mikroordnungen, ihren Gespenstern und Nöten, nicht zuletzt von den lokalen politischen Arrangements. Nichts hat auch nur von Ferne Ähnlichkeit mit den Vorstellungen, die ein Europäer über Marokko, über die islamische Welt, über die "schweren Parfums Arabiens" so zu hegen pflegt. Mogador handelt von Realitäten, die sich unserem Begreifen entziehen und die erst in der Erzählung sichtbar werden – vorausgesetzt, man kann so erzählen wie Martin Mosebach.
Aber die Bettler als eine formierte Gesellschaft, diese Vorstellung ließ Patrick nicht los. Dass es Bettler geben muss, wo das Almosengeben zu den Hauptpflichten der Religion gehört, hatte einst auch für das Christentum gegolten. Almosen waren keine Sozialfürsorge, kein Beitrag zur öffentlichen Wohlfahrt, die verhindern musste, dass eine Schicht von Verelendeten entstand, die im demokratischen Staat gefährlich werden konnte. Ein Almosen war ein persönliches Geschenk an jemanden, der seine Bedürftigkeit behauptete, aber nicht zu beweisen hatte, denn das Almosen sollte das Herz des Spenders bessern und erst in zweiter Linie die Not des Bedürftigen lindern. In dieser Hinsicht waren die Bettler Amtspersonen des öffentlichen Kultes, Religionsbeamte, und wieso sollten sie darüber hinaus mit ihrem Wissen nicht auch der profanen Ordnung aushelfen?
Wir leben in Zeiten der sogenannten Globalisierung, das heißt unter anderem: Die Welt ist größer und unsere Wahrnehmung beschränkter geworden. Darüber hinaus hat der weiße Mann seit geraumer Zeit beschlossen, sich selbst als Speerspitze der Menschheit zu verstehen und den Rest der Welt als – nun ja – "noch nicht so weit". Rastlos arbeitet er seit Jahrhunderten daran, die Primitiven zu zivilisieren. Was ihm meist nur durch Ausrottung oder Versklavung gelang. Ethnologen halfen ihm, die Kultur der Zurückgebliebenen zu entschlüsseln und ihre Primitivität dienstbar zu machen. Doch wenn die Fremden aus ihren Reservaten ausbrechen, an deren Unbewohnbarkeit wir zumeist erheblichen Anteil haben, dann reißt dem weißen Mann abrupt der humanistische Geduldsfaden. Dann genügt ihm die Fremdartigkeit des Fremden als Beweis seiner Schuld.
Noch im 19., ja bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts reisten Europäer in die Fremde, um sich in ihr zu finden oder zu verlieren, was auf dasselbe rauskommen mag. Genau dieses alte Bildungserlebnis lässt Mosebach seinem Helden widerfahren, gewissermaßen als Unfall. Denn Patrick Elff hat in Marokko nur ein Versteck gesucht. Und so ist er aus Versehen in eine Realität geraten, durch die er am Ende sich selbst besser verstehen wird. Mosebach lässt uns über die Einzelheiten dieses Prozesses im Unklaren. Doch als Leser des Romans werden wir selbst über unsere Grenzen hinausgeführt. Und die Geburt eines Kalbes wird zu einer existenziellen Offenbarung:
Die Kuh spürte die Erleichterung sofort. Sie hob den Kopf, als staune sie über das, was bis zur äußersten Unerträglichkeit über sie gekommen war, was sich aber ebenso unerwartet wieder aufgelöst hatte. Noch war kein Leben zu erkennen in der Masse, die da auf dem Boden lag. Die Mutter löste die Kette und brachte, behutsam sprechend, die Kuh dazu, sich umzudrehen. Die erkannte den schwarzen Haufen vor sich, und schon war ihre Ratlosigkeit verschwunden. Sie neigte sich zu ihm hinab, betastete ihn mit ihrem Maul, von dem Speichelfäden hinabrannen. Und begann, ihn mit ihrer langen Zunge zu lecken. Eine sorgsame Arbeit. Sie wusste, was sie zu tun hatte. Im schwankenden Licht, das mehr Schatten als Helligkeit hervorbrachte, entstand unter der modellierenden Zunge ein Körper, von allen Verklebungen gereinigt. Der Kopf trat hervor, die an den Körper geschmiegten Beine, der Rumpf, aus dem die biegsamen Knochen unter dem noch struppigen, aber gesäuberten Fell hervorragten. Es sah aus, als verfertige die Kuh in präziser Arbeit ein Bild von sich. Aber die Vollendung dieses Bildes lag nicht in ihrer Gewalt. Die ereignete sich, als das Kalb die Augen aufschlug. Riesengroß waren sie. Inmitten des schmutzigen Stalls, in dem sich zu dem Mistgestank noch der Geruch des Blutes und der Körpersäfte des Muttertieres durchdringend entfaltete, verkörperten die Augen den Inbegriff höchster Schönheit und Reinheit. Die Welt wurde in ihrem Blick neu geschaffen. "Es werde Licht, und es ward Licht." Staunen, Furcht und vollkommene Güte sprachen aus den Augen des Kalbes. Es war, als beginne sein Leben nicht eben erst, sondern als habe es sich davor in einer anderen Welt aufgehalten, sei dort an einem lieblichen Ort eingeschlafen und im tiefen Traum in diesen Stall versetzt worden. Patrick konnte sich kaum abwenden von dem Neugeborenen. Ihm war, als lösten sich hier alle Rätsel seines Lebens.
Held befindet sich nicht auf Sinnsuche
Man wird sagen, so ein Erlebnis hätte er auch in unseren Breiten haben können. Doch das Problem besteht darin, für solche Erfahrungen bereit zu sein. Ein Tourist in Essaouira heute wird wenig von dem wiederfinden, was Martin Mosebach über Mogador erzählt. Und doch ist alles da, man muss nur anders schauen. Es war ein kluger Schachzug des Romanciers, seinen Helden nicht auf Sinnsuche geschickt zu haben. Die Reise nach Mogador war nie als Therapietrip geplant, spirituelle Klärung nicht vorgesehen. Man könnte sogar vermuten, das Geschick des Patrick Elff interessiert Martin Mosebach gar nicht sonderlich. Er ist nur der Lotse, der uns in die Fremde führt.
Mit keiner Zeile versucht Mosebach, uns diese Fremde als ein Paradies zu verkaufen. Mogador als Fußgängerzone des Tiefsinns begleitet von den verführerischen Schalmeien des Orients. Er führt uns in eine Fremde, die zu sehen wir erst unseren Blick verlieren mussten. Unweigerlich erinnert Mogador an das Marokko des Paul Bowles: der amerikanische Schriftsteller, der 1931 für ein paar Tage seine Freundin Gertrude Stein in Tanger besuchen wollte und knapp 60 Jahre später in Tanger beerdigt wurde. Paul Bowles hat mit seinen Romanen zahlreiche Künstler und Intellektuelle nach Marokko gezogen. Nicht weil er ein lichtes Arkadien besungen hätte, sondern weil er von einem dunklen rätselhaften Land erzählt, von einer Fremde, in der das Zivilisationskorsett des weißen Mannes im Nu zerreißt und er sich in Abgründen verliert.
In unseren Tagen von einer marokkanischen Stadt so zu erzählen wie Mosebach erfordert schon einigen politischen Mut. Schließlich fordert man uns täglich auf, die arabische Welt als pathologischen Komplex zu betrachten. Martin Mosebach kontert mit einem Roman, der erst einmal zu sehen gibt, was wir zu verurteilen belieben. Und wer sich ein bisschen auskennt mit den Realitäten, von denen dieser Roman handelt, der kann nur staunen über Genauigkeit und Hingabe des Autors.
Martin Mosebach: "Mogador"
Roman, Rowohlt Verlag, Reinbek 2016, 388 Seiten, Preis: 22,95 Euro
Roman, Rowohlt Verlag, Reinbek 2016, 388 Seiten, Preis: 22,95 Euro