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Romeo Castellucci bei den Ruhrfestspielen
Iphigenie im Wunderland

Der italienische Theatermacher Romeo Castellucci hat seine Skandalaufführung der "Orestie" von 1995 wieder hervorgeholt. Das Stück über Blutrache innerhalb einer Familie hatte am Donnerstagabend Deutschlandpremiere bei den Ruhrfestspielen in Recklinghausen. Es ist eine Zumutung – und ein Erlebnis.

Von Stefan Keim |
    Der italienische Regisseur Romeo Castellucci bei der Ruhrtriennale 2014
    Der italienische Regisseur Romeo Castellucci. (dpa / Caroline Seidel)
    "Dei!"
    Ein Wächter ruft die Götter an. Die Griechen haben den Krieg gegen Troja gewonnen, nun kehrt Feldherr Agamemnon heim. Dort wartet der Tod auf ihn. Romeo Castellucci zeigt eine surreale Horrorwelt. Von der Tonspur dröhnen fauchende, zermürbende Klänge. Es ist die typische Castellucci-Ästhetik. Wüsste man nicht, dass die Aufführung bereits 1995 entstanden ist, fiele das gar nicht auf. Die Elemente seiner heutigen Arbeiten sind vorhanden: das Interesse für Rituale, an Nacktheit und extremer Körperlichkeit, für Tiere und auch für Maschinen. Der erste Scheinwerferspot des Abends zeigt einen Filmprojektor. Die Bühne ist ständig in Bewegung, eine latent bedrohliche Atmosphäre entsteht. Kassandra, die Prophetin und Warnerin, ist eine sehr dicke, nackte Frau, die in einer Art Telefonzelle eingequetscht sitzt.
    Bei Castellucci ist die antike Tragödie ein negatives Wunderland
    Der erste Teil dieser "Orestie" ist laut, aufdringlich, enervierend und verstörend. Der Chorführer und Vertreter der Bürgerschaft ist ein menschengroßes Kaninchen. Es wird geschlagen, mit Blut übergossen und an den Ohren aufgehängt. Dann erzählt das Kaninchen die Geschichte von "Alice im Wunderland", in dem es den Namen von Lewis Carrolls Heldin durch Iphigenie ersetzt, die Tochter Agamemnons und Klytämnestras, die der Herrscher den Göttern opferte, um günstige Winde für seinen Feldzug zu bekommen. Wer nach logischen Zusammenhängen sucht, hat in dieser Inszenierung ebenso verloren wie Alice oder Iphigenie im Land der verrückten Hutmacher und Grinsekatzen.
    Romeo Castellucci hat die "Orestie" nicht wieder hervorgeholt, um Parallelen zur Gegenwart herauszuarbeiten, wie es viele Regisseure an Stadttheatern tun. Bei ihm ist die antike Tragödie fremd, wild und sperrig, ein negatives Wunderland. Zwischen Darstellern und Zuschauern befindet sich die ganze Zeit ein halb durchsichtiger Vorhang. Die grotesken Bilder bleiben auf Abstand. Castellucci erzählt zwar grob, wie Agamemnon umgebracht wird, seine Kinder den Muttermord planen und durchführen und Orest schließlich von gespenstischen Eumeniden gehetzt wird. Aber wer sich im Mythos nicht auskennt, versteht überhaupt nichts.
    Dieses Theater will nicht mit dem Publikum kuscheln
    Nach der Pause verschwindet der Lärm. Zwei nackte Männer – Orest und Pylades – bewegen sich wie leise, langsame Clowns. Staub rieselt herab, der Kadaver einer Ziege baumelt von der Decke. Die ruhigen Bilder irritieren mehr als die lauten.
    Ist der Rückgriff auf diese 21 Jahre alte Arbeit eine Art Selbstbefragung Castelluccis? Er selbst schreibt im Programmheft, er habe diese Inszenierung gefunden, sie lag auf dem Boden rum. Er habe sie angefasst wie ein unbekanntes Objekt, das irgendjemand vor langer Zeit gemacht und weggeworfen habe. Die "Orestie" von heute sei kein einfaches Remake, sondern eine neue Auseinandersetzung mit der Theorie des Tragischen. Um wohlklingende, theoretisch fundierte Formulierungen ist Romeo Castellucci nie verlegen. Das trägt zu seiner Beliebtheit auf internationalen Theaterfestivals bei. Aber er schafft auch sinnliche, konfrontative Bilder jenseits der Dechiffrierbarkeit. Die mit seiner schon 1981 gegründeten Gruppe "Societas Raffaello Sanzio" einstudierte Aufführung ist eine Zumutung und ein Erlebnis, nervend und faszinierend, anstrengend und aufwühlend. Dieses Theater will nicht mit dem Publikum kuscheln. Es sucht nicht nach Gemeinschaft. Man kann es hassen, und dennoch lässt es einen nicht los. Unsere Stadttheater produzieren Premieren im Akkord und stampfen sie meist schnell wieder ein. Da scheint es mehr als sinnvoll, wenn sich Theatermacher auf ihre wirklich wichtigen Arbeiten besinnen und sich neu mit ihnen beschäftigen. Wie es nun Castellucci mit seiner kantigen, seltsamen, herausfordernden "Orestie" getan hat.