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Roswitha Quadflieg
Über das Sterben der eigenen Mutter

Neun Monate lang begleitete Roswitha Quadflieg ihre sterbende Mutter als Chronistin bis zum Tod. In ihrem Buch beschreibt sie Gedanken und ganz banale Alltagsgeschichten, die sie mit der Frau des bekannten Schauspielers Will Quadflieg erlebt hat. Eine intime Erzählung über eine besondere Beziehung.

Von Lerke von Saalfeld |
    Neun Monate lang begleitete Roswitha Quadflieg ihre sterbende Mutter als Chronistin bis zum Tod. In ihrem Buch beschreibt sie Gedanken und ganz banale Alltagsgeschichten, die sie mit der Frau des bekannten Schauspielers Will Quadflieg erlebt hat. Eine intime Erzählung über eine besondere Beziehung.
    Diese neun Monate, die Roswitha Quadflieg ihre Mutter bis zum Tod begleitet, die sie als Chronistin am Bett der Mutter aufgezeichnet hat, sind kein Dokument einer Aufarbeitungsliteratur über das Sterben oder einer Mutter-Tochter-Beziehung, es ist auch kein Erinnerungsbuch, in dem die Vergangenheit in Rückblicken aufscheint. Es geht immer um die Gegenwart und die Zukunft, um ganz banale Alltagsgeschichten und das, was die Mutter in ihren Wahnvorstellungen erlebt und der Tochter erzählt und sie miteinzubeziehen versucht.
    "Das Ganze fängt an auf dem Djema el Fna in Marrakesch und dieser Ort war der Einstieg. Ich bekomme den Anruf, dass meine Mutter auf einen anderen Dampfer steigt, in diesem Suk, zwischen diesen Händlern, in dieser anderen Welt, in diesem orientalischen Zauberland. Ich denke einerseits, oh wie schrecklich und ich denke andererseits – puuhh – die Welt ist so verschieden, lass sie doch so sein, lass sie doch jetzt irgendwie mal anders sein'. Ich glaube, dieses Schüsselloch Marrakesch, durch das ich geguckt habe auf diese Geschichte, hat mir ganz viel ermöglicht, das nicht nur als Defizit zu sehen, die rutscht jetzt völlig aus der Rolle, sondern sie ist einfach nur anders und diese Andersartigkeit auch als einen Schatz und als eine wunderbare Situation zu erleben, in der wir beide was völlig anderes erleben als wir bisher miteinander gelebt haben. Wenn meine Mutter nicht in diesen Zustand gekommen wäre, hätte ich nie ein Buch über sie geschrieben. Ich weiß, dass vor Jahren jemand mich schon fragte – weil ich ja so'n Familienchronist geworden bin – ‚willste nicht auch mal über deine Mutter schreiben?' Ich hab gedacht, na gut, die hat ein interessantes Leben gehabt mit diesem Schauspieler Will Quadflieg verheiratet zu sein, zwischen den Ländern Schweden und Deutschland zu pendeln, in den dreißiger Jahren ein Medizinstudium angefangen zu haben in Berlin als Ausländerin und dann durch den Krieg hier natürlich die wahnsinnigsten Erlebnisse gehabt zu haben, über die sie wenig gesprochen hat, also ich weiß nicht viel darüber. Aber für mich war da kein Knick drin, es sind ja immer die Knicke und die Brüche, die einen interessieren. Durch diese neun Monate ist sie so wunderbar geworden, dass ich gedacht habe, das kann ich nicht vergeuden."
    Diese neun Monate, die Roswitha Quadflieg ihre Mutter bis zum Tod begleitet, die sie als Chronistin am Bett der Mutter aufgezeichnet hat, sind kein Dokument einer Aufarbeitungsliteratur über das Sterben oder einer Mutter-Tochter-Beziehung, es ist auch kein Erinnerungsbuch, in dem die Vergangenheit in Rückblicken aufscheint. Es geht immer um die Gegenwart und die Zukunft, um ganz banale Alltagsgeschichten und das, was die Mutter in ihren Wahnvorstellungen erlebt und der Tochter erzählt und sie miteinzubeziehen versucht. Zu Beginn der Krankheit, die keine Demenz ist, tauchen Verfolgungsgeschichten auf, die Mutter fühlt sich umstellt und bedroht – die Ursache dieser Fantasien bleibt offen; die Tochter forscht auch nicht nach, die Mutter liefert keine Anhaltspunkte der Erklärung, was sie umtreibt und ängstigt. Sie ist eben anders geworden und nennt sich fortan auch 'Frau Anders'; sie unterschreibt mit diesem Namen ihre Briefe und Zettel, möchte diesen Namen an der Tür ihres Zimmers im Pflegeheim haben. Die Tochter akzeptiert, dass die Mutter sich auf einer Reise befindet, die sie in fremde Welten führt. Gleichzeitig ist die Mutter hellwach, fragt die Tochter immer wieder, ob sie auch alles aufgeschrieben habe, denn sie möchte für ihre Umgebung noch eine Mission erfüllen, welche auch immer.
    Kein sentimentaler Umgang zwischen Mutter und Tochter
    Der Umgang zwischen Mutter und Tochter ist nie sentimental, eher manchmal etwas burschikos in kurzen Sprachduellen, die alle Originalton in dieser Aufzeichnung sind, wie die Autorin versichert, und was es beiden erleichtert, die Beklemmung und auch die Ängste zu bewältigen und vielleicht auch zu kaschieren. Fast traumwandlerisch entwickelt Roswitha Quadflieg ein fein ausgewogenes Verhältnis zwischen Nähe und Distanz zu ihrer Mutter, das frei ist von jeder Peinlichkeit, manchmal in seiner Nüchternheit den Leser überrascht, auch wenn immer zu spüren ist, es besteht eine tiefe Vertrautheit und Liebe zwischen Mutter und Tochter, die sich aber halt 'anders' ausdrücken.
    Nach fünf Jahren Altersresidenz erlebt die Mutter ihre letzten neun Monate im Pflegeheim, ihr altes Leben, das voller Veranwortungen und Verpflichtungen war, hat sie hinter sich gelassen. Die Mutter war Heiltherapeutin und leitete ein eigenes Institut. Sich selbst kann sie deshalb in wachen Momenten ganz analytisch beobachten. Die Tochter stellt sich ununterbrochen Fragen, auf die sie keine Antworten mehr erhält:
    "Man fragt sich ja manchmal, wenn ein alter Mensch, der sich selbst immer organisiert hat, selbstständig gearbeitet hat, auch noch seinen Haushalt selber gemacht hat und immer gewohnt war, dass alles so funktioniert, wann gibt er eigentlich dem anderen gegenüber zu: 'Du, ich kann eigentlich nicht mehr, es geht einfach nicht.' Und plötzlich kommt der Punkt, wo es nicht mehr geht und dann zieht man die Reißleine und dann erklärt man nicht mehr. Natürlich hat sich da irgendetwas im Gehirn abgespielt, aber das war kein Schlaganfall. 'Ich zieh die Reißleine und, spiel jetzt verrückt, und jetzt kann ich machen, was ich will.' Man stolpert so hinterher, bis man begreift, und jetzt ist es eben so. Dieses radikal Auszusteigen, weil es anders nicht geht, einen Mittelweg gibt es nicht. Dann allen die Nase zu zeigen, jetzt bin ich eben so, jetzt kann ich Dinge sagen, die ich vorher nie gesagt hätte, kann auch ein bisschen unanständig sein, und ich kann so'n bisschen blöd sein, und keiner erwartet mehr etwas von mir – eine neue Freiheit."
    Mutter wie Tochter erleben gemeinsam eine neue Welt, die die Mutter sich aufbaut und auskostet. Die Tochter lässt ihr diese Freiheit, ruft nicht zur Vernunft auf, will auch keine Geschichten aus der Vergangenheit von ihr wissen, zum Beispiel über das schwierige Eheleben mit dem Schauspieler Will Quadflieg, der sich früh von der Familie trennte, oder über ihr Berufsleben in Deutschland als Schwedin, sondern die Tochter spürt den Verästelungen der Wahnfantasien der Mutter nach, weil sie auch für sie eine neue gegebene Realität und Normalität geworden sind. Die alte Ordnung ist vorübergehend aufgehoben. Die kehrt einen Monat nach dem Tod der Mutter zurück. Die Tochter löst das Bankkonto der Mutter auf; die Bankangestellte zerschneidet mit einer Schere die letzte Scheckkarte der Mutter, blickt kurz auf und bemerkt: "Das war's dann schon." Mit dieser typischen Quadfliegschen Lakonie endet die eindrucksvolle Chronik eines Todes abrupt. Für die Tochter – und auch für den Leser - ist mehr geblieben:
    "Das klingt vielleicht ein bisschen komisch, aber es waren wunderbare neun Monate."
    Roswitha Quadflieg: "Neun Monate – Über das Sterben meiner Mutter"
    Aufbau Verlag, 159 Seiten, 17,95 Euro.