Pindur: Es war eine turbulente Woche in Berlin und in Brüssel. Und das eine hatte viel mit dem anderen zu tun. Die Ereignisse in Brüssel hatten Auswirkungen auf die Konstellationen in Deutschland und umgekehrt. Ob wir Zeuge europäischer Innenpolitik oder deutscher Außenpolitik wurden, war oft kaum zu unterscheiden. Über all dies und die Implikationen für Deutschland, für Europa wollen wir im Interview der Woche des Deutschlandfunks mit Michael Roth reden, Staatsminister im Auswärtigen Amt und zuständig für europäische Angelegenheiten.
- Guten Tag, Herr Roth.
Roth: Ich grüße Sie.
Pindur: Zum letzten Mal wurde ein Deutscher 1958 zum Präsidenten der Kommission bestimmt. Damals hieß die Europäisch Union noch Europäische Wirtschaftsgemeinschaft. Freuen Sie sich, dass nach 50 Jahren jetzt wieder eine Deutsche Kommissionspräsidentin wird und dann auch noch endlich, muss man sagen, die erste Frau an der Spitze wird?
Roth: Die Europäische Union ist sicherlich gut damit gefahren, dass die Spitzen nicht nur besetzt worden sind von den Vertreterinnen und Vertretern aus den großen Ländern. Das hat der EU, die ja überwiegend aus kleineren oder mittelgroßen Staaten besteht, sehr, sehr gut getan, weil uns Deutschen ja sowieso gelegentlich der Vorwurf entgegengehalten wird, wir wollten die EU, Europa insgesamt, dominieren. Dass wir jetzt eine Frau haben, finde ich natürlich als Feminist großartig. Ich hätte mir natürlich gerne eine sozialdemokratische Frau gewünscht. Aber die Entscheidungen sind jetzt so, wie sie sind und ich wünsche Ursula von der Leyen für dieses wirklich schwierige Amt alles Gute.
Enttäuschung über Scheitern des Spitzenkandidatenmodells
Pindur: Die deutschen Sozialdemokraten im Europäischen Parlament haben sich gegen Ursula von der Leyen ausgesprochen. Haben sie Europa damit einen Gefallen getan?
Roth: Ich habe die Kritik an der Kritik nicht ganz verstanden. Ich erinnere mich noch gut an die massive Auseinandersetzung vor fünf Jahren, als Jean-Claude Juncker Kandidat wurde. Damals ging es vor allem um seine Verantwortung für die Steueroase Luxemburg. Es ging auch um andere Dinge, die ich nicht so fair fand. Und insofern ist ein Kandidat oder auch eine Kandidatin für so ein wichtiges Amt nicht kritikfrei. Das hat weder etwas mit Vaterlandsverrat zu tun, noch etwas mit Majestätsbeleidigung. Aber es kommt etwas anderes hinzu. Und das unterscheidet diese Diskussion grundlegend von der von vor fünf Jahren. Es gab insbesondere im Europäischen Parlament, aber auch bei vielen Pro-Europäerinnen und Pro-Europäern eine große Enttäuschung, dass das Spitzenkandidatenmodell faktisch gescheitert ist. Und das hat die Debatte um die Person, um die Kandidatin Frau von der Leyen sehr überlagert. Und meine sozialdemokratischen Kolleginnen und Kollegen im Europäischen Parlament wollten ein Zeichen setzen, was in erster Linie nicht gegen die Person Frau von der Leyen alleine gerichtet war, sondern was vor allem auch Protest war, dass hier eine demokratische Errungenschaft, das Prinzip, mehr Demokratie in der EU zu wagen, dass das gescheitert ist und dagegen wollte man angehen. Und das kann ich gut verstehen. Und ich habe die Aufregung darüber nicht ganz nachvollziehen können.
"Das ist Demokratie"
Pindur: Es ist aber auch eine Frage, ich sage mal, des demokratischen Prozesses. Es hatte sich nun mal gezeigt, dass das Parlament unfähig ist, sich auf einen Kandidaten zu einigen und deswegen auch dem Rat nicht einig gegenübertreten konnte. Denn dieses Votum hätte der Rat schwerlich ja einfach in den Wind schlagen können, sondern dass man, gerade weil man unfähig war im Parlament, zu einer Einigung zu kommen, im Rat ja praktisch die Initiative – die politische Initiative, rechtlich hat er sie ja sowieso – vor die Füße geworfen hat.
Roth: Ich habe mir den Vorwurf, dass es sich hier um einen Hinterzimmer-Deal handelt, niemals zu Eigen gemacht. Das ist Demokratie. Der Europäische Rat ist eben nicht, so wie bei uns in Deutschland der Bundespräsident, der alleine einen Vorschlag unterbreitet, sondern das sind 28 sehr selbstbewusste Staats- und Regierungschefinnen und -chefs. Die müssen irgendwie einen Kompromiss finden. Was am Ende auch ausschlaggebend war, dass man den letzten Schritt nicht gewagt hat. Denn die Verträge sagen ja nicht, dass sich die Staats- und Regierungschefs einmütig auf eine Kandidatin oder einen Kandidaten verständigen müssen, sondern mit qualifizierter Mehrheit. Und da hätte es durchaus die Chance gegeben, auch Frans Timmermans durchzusetzen, aber er wäre auf Protest gestoßen bei einigen Staats- und Regierungschefs. Das hat man dann nicht gemacht. Das muss ich dann auch hinzufügen. Und es hat offenkundig auch keine Konsultation gegeben mit den Vertreterinnen und Vertretern im Europäischen Parlament. Und eine Kritik, die teile ich, die haben Sie eben auch formuliert. Natürlich hätte es das Europäische Parlament in der Hand gehabt, den Staats- und Regierungschefs ihre Grenzen aufzuzeigen, indem man gesagt hätte: Was ihr nicht hinbekommt, das bekommen wir hin. Wir verständigen uns auf einen der Spitzenkandidaten. Und jetzt schaut mal, was ihr damit anfangt.
Pindur: Das hieße aber wahrscheinlich, dass man sich auf Manfred Weber von der CSU hätte einigen müssen.
Roth: Ja, bei Manfred Weber hat es zwei …
Manfred Weber "auf massive Vorbehalte gestoßen"
Pindur: Er war einer der Spitzenkandidaten.
Roth: Ja, na klar. Also, Manfred Weber war der Spitzenkandidat der Europäischen Volkspartei. Die Europäische Volkspartei ist als stärkste Gruppe aus den Wahlen hervorgegangen, aber das haben die Spatzen ja schon sehr frühzeitig von den Dächern gepfiffen, es gab ja in der Europäischen Volkspartei, also in seiner eigenen Parteifamilie, massive Vorbehalte. Er ist auf massive Vorbehalte gestoßen auch beim französischen Staatspräsidenten. Und im Europäischen Parlament hat man sich dann auch nicht auf eine Koalition vereinbaren können, die Manfred Weber dann zu dem starken Kandidaten für das Amt des Kommissionspräsidenten hätte machen können. Also, wir machen jetzt viel "hätte, hätte", viel Konjunktiv, vergossene Milch, aber es ist schon wert, sich das noch mal anzuschauen.
Pindur: Man muss auf jeden Fall drüber reden, weil ja immer vorgeblich von den Demokratiedefiziten die Rede ist, die die EU angeblich habe. Und die Vertreter des Spitzenkandidatenprinzips führen das auch immer ins Feld, dieses Argument, weil sie sagen, okay, Wahlkampf geführt hat Manfred Weber, nicht Ursula von der Leyen. Insofern wäre es tatsächlich dem Wähler gegenüber ehrlicher gewesen, man hätte sich auf Manfred Weber oder einen der anderen Spitzenkandidaten verständigt. Jetzt ist dieses Spitzenkandidatenprinzip aber nirgendwo verankert. Und das gehört auch zur Demokratie, dass man den etablierten Regeln folgt. Also, was heißt das jetzt für dieses Prinzip? Ist es jetzt wirklich obsolet, zumal wir jetzt auch ein ziemlich zersplittertes Parlament haben?
Roth: Das sind die Fragen, die mich derzeit umtreiben. Was heißt das eigentlich für die Zukunft? Das Spitzenkandidatenprinzip muss nicht in Verträgen verankert sein. Ich will mal daran erinnern, dass auch das Kanzlerkandidatenmodell im Bundeswahlgesetz und erst recht nicht im Grundgesetz verankert ist. Aber es ist eine in Jahrzehnten bewährte Praxis. Hüterinnen dieses Prinzips sind aber nicht der Deutsche Bundestag oder gar der Bundespräsident. Hüterinnen sind die Parteien. Und da kommen wir auf einen ganz heiklen Punkt auf der europäischen Ebene. Es gibt nicht die starken europäischen Parteien. Was deutlich geworden ist, dass eigentlich die europäischen Parteien – das gilt für meine Partei, für die Sozialdemokratische Partei Europas, das gilt aber auch für die Europäische Volkspartei – an der kurzen Leine der nationalen Parteiführer geführt werden. Und die haben, einige zumindest davon, haben von Anfang an erkennen lassen, dass ihnen eigentlich das Spitzenkandidatenmodell nicht so sehr gelegen kommt.
Kritik an Ursula von der Leyen
Pindur: Sie haben gesagt, dass die europäischen Parteien doch noch sehr eng an der Leine der jeweiligen Landesparteien hängen. Auf die deutschen Sozialdemokraten angewandt: Hat deren Votum gegen Frau von der Leyen vielleicht eher innenpolitische Motive? Ist das nicht eher dem Frust über die ungeliebte Große Koalition geschuldet?
Roth: Nein – nein. Natürlich wird Frau von der Leyen in Deutschland jetzt erst mal nicht in erster Linie als die Kandidatin für ein europäisches Regierungsamt oder Staatsamt wahrgenommen. Sondern natürlich spielt in Deutschland auch die Rolle: Welche Bilanz hat sie als Verteidigungsministerin vorzulegen? Und da gab es natürlich in Deutschland auch entsprechende Kritik. Aber noch einmal: Das ist nichts Ungewöhnliches. Diese Kritik gab es vor fünf Jahren an Jean-Claude Juncker auch. Meine Kolleginnen und Kollegen im Europäischen Parlament haben sich dann so entschieden, wie sie sich entschieden haben. Darüber kann man streiten. Ich habe versucht, ein paar Argumente zu benennen, warum die Kolleginnen und Kollegen sich am Ende so entschieden haben. Aber noch einmal: Vermutlich haben mehr Mitglieder der Europäischen Volkspartei Frau von der Leyen nicht gewählt als die 16 sozialdemokratischen Europaabgeordneten aus Deutschland.
Pindur: Wir wissen das nicht.
Roth: Nein.
"Die holen sich ihren Ukas nicht aus Berlin ab"
Pindur: Aber was wir wissen, ist, dass die 16 Sozialdemokraten aus Deutschland sie nicht gewählt haben. Ist das eine Belastung für die Regierungskoalition?
Roth: Nein. Auch das ist ein merkwürdiges Demokratieverständnis. Ich habe in den vergangenen Wochen natürlich auch mit unseren Europaabgeordneten hin und wieder gesprochen. Aber für mich war immer eines klar: Die holen sich ihren Ukas nicht aus Berlin ab. Und die sehen sich auch nicht als Teil der Regierung in Deutschland. Sondern das sind frei gewählte, sehr selbstbewusste Europaabgeordnete. Die führen ihr Mandat aus.
Pindur: Frau Barley war bis vor kurzem noch Mitglied der Bundesregierung.
Roth: Ja, das ist sie aber jetzt eben nicht mehr und sie sieht sich in einer anderen Rolle. Und das muss man auch respektieren. Aber noch einmal: Wir haben in Deutschland nicht das Prinzip, dass wir als Bundespartei oder auch als Vertreterinnen und Vertreter der SPD in der Bundesregierung unseren Europaabgeordneten irgendetwas aufdrücken. Das würden die sich auch, ehrlich gesagt, verbitten. Wir reden darüber, selbstverständlich. Aber es gibt hier keine Befehlsempfängerinnen und Befehlsempfänger in Brüssel.
Erwartung an die Bundesregierung
Pindur: Kommen wir mal zu den Aufgaben, die auf die neue Kommissionspräsidentin dann zukommen werden. Ursula von der Leyen hat ja vieles versprechen müssen, um ihre Mehrheit im Parlament dann zu bekommen. Da war ein bunter Strauß, vom europäischen Mindestlohn, bis zu mehr Kompetenzen für das EU-Parlament und auch übrigens das Spitzenkandidatenprinzip. Das meiste kann sie aber nicht ohne den Rat, also das Gremium der Regierungschefs der Länder, durchsetzen. Geht sie also von Anfang an mit einem Handicap zu großer Erwartungen, die sie selbst wecken musste, in ihre Aufgabe?
Roth: Ob sie diese Erwartungen wecken musste, weiß ich nicht. Aber ich unterstütze ausdrücklich eine Reihe von Vorschlägen. Und damit hat sie wirklich ein Zeichen gesetzt. Das sind im Übrigen Projekte, wenn ich an die Arbeitslosenrückversicherung denke, an eine stärkere politische Gewichtung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes, das sind alles Themen, die in der Bundesregierung, vor allem bei CDU/CSU auf deutliche Widerstände stoßen. Und ich erwarte von der Bundesregierung, ich erwarte von der Großen Koalition, dass sie in diesen Themen, die für die gewählte Kommissionspräsidentin von herausragender Bedeutung sind, unterstützt werden. Das ist für mich in der Großen Koalition ein ganz wichtiger Punkt. Und ich würde mich darüber freuen – und das ist auch mein Signal an den Koalitionspartner –, dass wir uns in der Bundesregierung darauf verständigen, dass wir im Rat diese Politik unterstützen. Denn das ist ja völlig richtig. Die Kommissionpräsidentin ist ja nicht die allein Entscheidende, sondern sie hat ein Initiativrecht, sie hat eine sehr starke Rolle, aber am Ende braucht sie eine Mehrheit im Europäischen Parlament und sie braucht eine Mehrheit im europäischen, also im Ministerrat. Und im Ministerrat erwarte ich von der Bundesregierung, dass sie sich genau hinter diese Forderungen der Kommissionspräsidentin stellt.
"Wir brauchen sichere Häfen"
Pindur: Dann gibt es viele Aufgaben, die eigentlich nur europäisch zu lösen sind, für die es im Moment offensichtlich keine europäischen Lösungen gibt. Beispiel Migrationspolitik. Am Donnerstag haben es die EU-Innenminister wieder nicht geschafft, zu einer Einigung zu kommen, wie man die Lasten da verteilt, wie man mit Flüchtlingen umgeht. Wie will die Bundesregierung das denn nach so vielen vergeblichen Versuchen, dieses Problem europäisch zu lösen, denn jetzt angehen?
Roth: Das ist bitter und kann nur zu einer Konsequenz führen: Bei allen Risiken, wir brauchen ein Europa der Mutmacher. Also, es muss eine Gruppe von Staaten vorangehen, die am Ende des Tages beweisen muss, dass europäische Lösungen besser sind als nationale Abschattung oder rein nationale Angebote. Das ist nicht einfach. Wir fahren jetzt zweigleisig. Wir setzen uns natürlich nach wie vor in der Migrationspolitik für eine gemeinsame europäische Asylpolitik ein, die alle Mitgliedsstaaten der EU umfasst. Aber um der Tragödie im Mittelmeer endlich ein Ende zu bereiten und dafür zu sorgen, dass dort nicht mehr Menschen ihr Leben riskieren müssen, brauchen wir nicht irgendwann, sondern sofort eine Lösung, die sich an den Realitäten orientiert. Und die Realitäten sind eben, dass nicht alle mitmachen wollen. Und deswegen brauchen wir eine Lösung von Staaten, die bereit sind, rasch Geflüchtete aufzunehmen. Es ist ja eine sehr, sehr kleine Zahl von Geflüchteten, die dort von privaten Seenotrettern gerettet werden. Und das zweite Problem scheint mir derzeit das viel Größere zu sein. Wir brauchen sichere Häfen. Und da kann ich natürlich schon ein bisschen auch die maltesischen Freunde und die Italiener verstehen, die sagen: Es kann ja nicht angehen, dass wir die Einzigen sind. Also, stellt sich auch die Frage: Wäre beispielsweise Frankreich auch über Korsika bereit, noch einen Hafen zur Verfügung zu stellen? Und es bedarf der Garantie, dass wirklich dann auch alle Geflüchteten, die gerettet werden, möglichst rasch dann auch verteilt werden.
Dublin-Regeln "solidarischer und handhabbarer machen"
Pindur: Da sind Sie auf einer Linie mit Ursula von der Leyen, die das in einem Interview jetzt gerade gesagt hat. Sie sagte nämlich übrigens auch, dass man die Dublin-Regeln ändern muss. Jetzt ist die Frage: Gibt es dafür eine Mehrheit innerhalb der Europäischen Union?
Roth: Wir haben uns ja selber viele Jahre immer zu Dublin bekannt. Und warum haben wir das getan? Weil wir massiv davon profitieren. Wir sind ein Land, das nur von EU-Partnern umgeben ist. Wir haben keine EU-Außengrenze. Und ich kann mich noch erinnern, als ich mit meiner geschätzten Kollegin Aydan Ösoğuz, damals Staatsministerin für Integration, einen öffentlichen Beitrag gesendet habe, wo wir von einem fairen Verteilungsschlüssel der Geflüchteten gesprochen haben. Und wir stießen damals auf klaren Widerstand des damaligen Bundesinnenministers de Maizière. Die Zeiten haben sich doch sehr stark geändert, weil wir inzwischen erkannt haben, wir sitzen alle in einem Boot und wir brauchen faire Regeln. Und Dublin ist natürlich aus griechischer Sicht, aus italienischer Sicht, aus spanischer Sicht, aus maltesischer Sicht nicht fair, denn die bleiben im Prinzip mit allem allein. Und deswegen bin ich – und da freue ich mich auch über das klare Signal von Frau von der Leyen – bin ich dafür, dass wir Dublin wirklich solidarischer und auch handhabbarer machen für alle Mitgliedsstaaten. Und dazu ist ja Deutschland inzwischen auch erfreulicherweise bereit.
Staaten, die vorangehen
Pindur: Da stellt sich die Frage, ob man vielleicht noch mal etwas sehr viel grundsätzlicher auf Europa schauen müsste. Sie haben etwas anklingen lassen, das auch der französische Präsident Macron ins Spiel gebracht hat, was man früher das Europa der zwei Geschwindigkeiten nannte. Er nannte das das Avantgarde-Prinzip, dass man sich also innerhalb der EU zusammenschließt mit Partnern, die willens sind, stärkere Integrationsschritte zu machen. Sehen Sie das als eine gangbare Methode? Denn es ist ja in Deutschland auf nicht viel Anklang gestoßen. Die Kanzlerin hat ja fast überhaupt nicht darauf reagiert.
Roth: Ja, das ist eine Option. Und da muss man aber ein bisschen genauer schauen, was man eigentlich möchte. Also, mein Konzept des Europas der Mutmacher – und so verstehe ich auch das Konzept von Emmanuel Macron – ist kein Kerneuropa. Es geht hier nicht um einen festen Kern von Staaten, die sagen, wir machen unseres. Sondern hierbei – und das ist auch durchaus kompliziert, das gebe ich gerne zu – haben wir jeweils politikfeldbezogen Staaten, die sagen: Wir gehen voran. Wir betreiben das ja derzeit mit noch nicht so großem Erfolg bei der Finanztransaktionssteuer, wo eine Reihe von Staaten sagen: Unabhängig von dem, was alle anderen wollen, wir machen das, wir probieren es aus. Und so stelle ich mir das eben auch in anderen Politikbereichen vor.
Pindur: Warum ist die Bundesregierung bisher nicht in der Lage gewesen, eine klare große Antwort zu finden auf das, was der französische Präsident Macron vor zwei Jahren alles vorgeschlagen hat?
Roth: Ja, die Frage treibt mich auch um.
"Die Bundesregierung spricht hier nicht mit einer Stimme"
Pindur: Sie sind Mitglied dieser Bundesregierung.
Roth: Die Bundesregierung spricht hier nicht mit einer Stimme. Das muss man sehr ehrlich sagen. Wir haben einen sehr ambitionierten Koalitionsvertrag, der ja im Prinzip auch unsere Antwort auf Macron darstellt, auch mit eigenen Akzenten. Aber die Kooperation zwischen dem französischen Präsidenten und der deutschen Bundeskanzlerin in diesen inhaltlichen Fragen ist dann doch sehr schnell an Grenzen gestoßen. Ich habe das immer in ein etwas krummes Bild gebracht. Herr Macron tanzt Cha-Cha-Cha und die Bundeskanzlerin tanzt Langsamen Walzer. Und das zusammenzubringen, das ist sehr, sehr schwierig. Ich will gar nicht alleine die Verantwortung in Richtung Bundeskanzleramt schieben, aber für den französischen Staatspräsidenten kann es eine angemessene Antwort nur geben von der Bundeskanzlerin und nicht vom Außenminister und nicht vom Staatsminister für Europa und auch nicht aus der SPD-Fraktion alleine. Wir haben da eine Menge erreicht, aber das ist das auch, was mich umtreibt. Warum ist das so technisch rübergekommen? Warum ist es nicht so rübergekommen, wie man es ja bei Macron auch bewundert, nämlich nicht so klein und technisch, sondern wirklich auch zukunftsweisend, mutig, entschieden? Viele Pro-Europäer, vor allem auch viele junge Leute in Deutschland sind deshalb ja auch über die Umsetzung des Europakapitels durch die Bundesregierung nicht so ganz happy.
Pindur: Ich möchte jetzt an dieser Stelle zu einem anderen Thema noch mal kommen, nämlich zu Ihrer gemeinsamen Kandidatur mit Christina Kampmann für den SPD-Vorsitz. Sie haben in einem Interview mit der Frankfurter Rundschau vor zwei Wochen gesagt, die SPD müsse mehr Zuversicht und Freude ausstrahlen. Wie soll das vonstattengehen?
Eindruck, "dass diese Partei an sich selber leidet"
Roth: Das kann man nicht von oben oktroyieren, aber man kann es vorleben. Und das versuchen Christina Kampmann und ich. Die SPD hat ja kein gutes Bild abgegeben. Und das hat weniger etwas mit professionellem Regierungshandeln zu tun, sondern es ist der Eindruck entstanden, dass diese Partei an sich selber leidet. Sie leidet an der GroKo, sie leidet an der Welt, sie leidet an sich selber. Sie ist schlecht mit sich umgegangen. Sie hat eine miserable Teamkultur. Es gibt faktisch kein Team. Wir sind übereinander hergefallen. Also, da muss man ja nur mal auf Twitter gehen, um sich zu fragen: Meinen die das wirklich ernst? Also, mit welcher Schärfe und mit welcher Härte wir übereinander geredet haben. Und die Menschen interessieren sich nur sehr begrenzt über unsere internen Probleme, sondern sie wollen, dass wir auch ein positives Bild von Zukunft zeichnen. Und ich habe immer wieder den Eindruck, dass bei all diesen internen Streitigkeiten verlorengegangen ist, dass wir doch einen Blick auf die Alltagswirklichkeit der Menschen nehmen sollten und unabhängig von positiven Wirtschaftszahlen und einer niedrigen Arbeitslosigkeit fühlen sich doch viele Menschen, die viel arbeiten und viel zu leisten haben, vom Kapitalismus alleine gelassen und vom Kapitalismus überfordert.
Pindur: Auf welche Themen wollen Sie setzen? Martin Schulz hat gesetzt auf soziale Themen. Er hat gesagt, die Situation in Deutschland ist sozial schlecht. Er hat ein Bild gezeichnet von Deutschland, das viele nicht nachvollziehen konnten. Und er ist damit völlig gescheitert. Was bleibt dann für die SPD übrig an Thema?
"Es gibt in unserem Land große Spaltungen"
Roth: Oh, da gibt es ganz, ganz viel. Also, der wichtigste Punkt ist, dass Menschen keine Angst mehr haben müssen vor der Globalisierung. Und da bin ich ganz schnell auch wieder bei Europa. Viele laufen ja auch zur AfD über, weil sie sich in einer globalisierten Welt alleingelassen fühlen. Und wir müssen deutlich machen, dass Europa Globalisierung demokratisch, sozial und nachhaltig gestalten kann. Es gibt in unserem Land große Spaltungen. Wir müssen einerseits die solidarische Mitte gewinnen, die bereit ist, mehr Steuern zu bezahlen auch für diejenigen, die sich nicht alles selbst leisten können. Wir brauchen ein klares Angebot für einen Ausbau unserer Infrastruktur.
Pindur: Setzen Sie, so, wie die Regierung Schröder das mal getan hat, auf Selbstertüchtigung, also den Menschen die Mittel an die Hand geben, zum Beispiel über Bildung, sich selber nach vorne zu bringen?
Roth: Ja, so bin ich ja groß geworden. So was gibt es ja noch. Ich bin der Erste bei mir in der Familie – ich komme aus einer Arbeiterfamilie, ich bin der Erste, der Abitur gemacht hat. Ich bin der Erste, der studiert hat. Und das war nicht einfach. Ohne das Stipendium bei der Friedrich-Ebert-Stiftung hätte das gar nicht funktioniert, weil ich kein Geld von zu Hause bekommen habe. Und, wenn ich heute sehe, dass nach wie vor die soziale Herkunft stark den weiteren Weg von jungen Leuten prägt, brauchen wir hier wirklich einen neuen sozialdemokratischen Schwung. Und wer, wenn nicht wir, könnten das richten? Denn wir sind ja eine Partei der Emanzipation. Ich will keine Bevormundung von Menschen. Ich bin ein freiheitsliebender Mensch und ich will auch, dass andere Freiheit wirklich leben können, aber auch frei zu sein von Armut und frei zu sein von Ängsten. Das ist ja unser weitergefasster Freiheitsbegriff. Und da finde ich diesen paternalistischen Ansatz immer etwas schwierig oder auch: Wir wissen genau, was die Bürgerinnen und Bürger wollen. Manchmal weiß ich es nicht. Die Welt ist ziemlich kompliziert geworden. Und gerade auch, wo der Nationalismus und Populismus fröhliche Urständ feiert und die Demokratie bedroht, sollten wir nicht den Eindruck erwecken, dass wir alles besser wissen.
"Wo deutlich wird, die EU ist nicht irgend so ein Zwerg"
Pindur: Zum Schluss möchte ich noch mal von der Zuversicht des Sozialdemokraten Roth kommen zum Europapolitiker, der Zuversicht des Europapolitikers. Europa war natürlich immer schon eine Aneinanderreihung kleiner Kompromisse und kleiner Schritte. Und zwischendurch gab es mal große Sprünge, zum Beispiel den Binnenmarkt. Wo sehen Sie denn den nächsten großen qualitativen Sprung für Europa?
Roth: Ich hoffe, dass es uns nicht übermorgen, sondern am besten noch heute Abend gelingt, außen- und sicherheitspolitisch mit einer Stimme zu sprechen. Und das fordert uns allen viel Kompromissbereitschaft und -fähigkeit ab. In dieser Welt schrumpft die Demokratie und wächst auf dramatische Weise das Autoritäre. Und wir müssen rauskommen aus unserer Komfortzone, weil wir immer noch denken, Europa ist per se ein Erfolgsmodell. Ist es eben nicht. Es gibt inzwischen auch andere Modelle, die versprechen Wohlstand für viele, die versprechen Sicherheit, die versprechen Ordnung, aber sie versprechen eben nicht individuelle Freiheiten, Menschenrechte, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit. Und da müssen wir wieder hinkommen. Und das geht nur, wenn wir selber auch uns behaupten, und wenn wir diese Werte glaubhaft vorleben, und wenn wir dafür auch werben. Und das geht nur, wenn wir uns zusammenreißen – gegenüber den Trumps, gegenüber den Putins, gegenüber den Erdoğans, gegenüber den Chinesen, die in einem rasanten Tempo über uns hinüberzugehen drohen. Und da mache ich mir die allergrößten Sorgen. Also, dieser Quantensprung, der muss gewagt werden, dass wir wirklich eine Außen- und Sicherheitspolitik bekommen, wo deutlich wird, die EU ist da nicht irgend so ein Zwerg, sondern wir sind ein globaler Player, der aber vor allem auch für Frieden und für Nachhaltigkeit steht.
Pindur: Stoff für ein weiteres längeres Gespräch. Vielen Dank für das Interview, Herr Roth.
Roth: Ich danke Ihnen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.