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Rousseaus Einfluss auf die Moderne

Vor 300 Jahren wurde Jean-Jacques Rousseau in Genf geboren. Wie kaum ein anderer hat er als Schriftsteller und Philosoph auf den Beginn der Neuzeit gewirkt, vor allem auf die Französische Revolution. So interessant es ist, sich in Rousseaus Gedankenwelt zu bewegen, so schwierig ist es heute, sich darin zurechtzufinden.

Von Christian Forberg |
    Im Jahre 1749 war Jean-Jacques Rousseau 37 Jahre alt. Seine Mutter verstarb bei Geburt, sein Vater verließ ihn, als er zehn war. Dennoch - eines hatte er seinem Sohn Jean-Jacques mitgegeben: Freude am Lesen und Denken. Die sollte er nie verlieren, trotz seines unsteten Lebens – oder vielleicht gerade deshalb. Als er im Herbst 1749 zum inhaftierten Denis Diderot reiste, las er eine Preisfrage der Académie von Dijon. Sie lautete: "Hat die Wiederherstellung der Wissenschaften und Künste dazu beigetragen, die Sitten zu läutern?" Mit dieser Frage, sagt Iwan d’Aprile, Geschichts-Professor an der Uni Potsdam, mit dieser Frage im Kopf sei Rousseau bei Diderot angekommen, und der habe ihm gesagt: Gib eine Antwort, die keiner gibt, sag: Nein!

    "Man muss im Hinterkopf haben, dass die Preisfrage der Académie Francaise unter anderen Akademien in dieser Zeit immer darauf abzielten, die eigene Staatsform abzufeiern. Ich habe mir mal die Preisfragen der Académie Francaise der 30er- und 40er-Jahre angeschaut. Da wird immer gefragt nach den Fortschritten der Astronomie oder der Malerei, der Gartenbaukunst usw. unter Ludwig XIV. Es war fast so eine - was wir aus dem Realsozialismus kennen – Selbstbeweihräucherung der Gesellschaft. Und dagegen richtet sich Rousseaus Antwortschrift, und er sagt: Gesellschaften, wo 90 Prozent hungern, können nicht fortschrittlich sein, und man muss da andere Maßstäbe ansetzen."

    Rousseau bekam den Preis, wurde schlagartig in ganz Europa bekannt und blieb trotzdem ein Nein-Sager:

    "Die Kritik richtet sich eigentlich immer gegen Luxus, gegen zu große Ungleichheiten und gegen verschwenderisches Eigentum, das man nicht selber nutzt. Also, wenn man Marxsche Terminologie gebrauchen würde, nicht gegen den Gebrauchswert beim Eigentum, sondern gegen den Tauschwert."

    Wie, meinte Rousseau, könne "die Vorstellung des Eigentums aus etwas anderem als der Handarbeit entstehen" - das sei das natürliche Gesetz. Das bestehende Eigentumsrecht sei zwangsläufig unnatürlich. Kein Wunder, dass er auch bei der zweiten Teilnahme an einem Akademiediskurs eine abschlägige Antwort gab, diesmal auf die Frage, ob sich der Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen vom Naturrecht herleiten lasse. - Rousseau, der Reformer? Kaum, sagt Iwan d’Aprile:

    "Rousseau ist kein praktischer Denker gewesen. Er ist stark, wenn es um Zeitdiagnose und Gesellschaftskritik geht, aber als Reformpolitiker, wenn es um konkrete politische Umsetzungen geht, eher nicht so geeignet, und wahrscheinlich hat er das auch selber so gesehen. Es gibt eine Unterscheidung von Roland Barthes, der Voltaire und Rousseau gegenüber stellt und sagt: Der eine ist der intelligente Denker; das ist Voltaire, der Fürstenberater, der auch praktische Reformvorschläge macht. Und der andere ist der intellektuelle Denker, der an der Wirklichkeit leidet, der sich zurückzieht aus der Gesellschaft und die Gesellschaft diagnostiziert, kritisiert und auf die Kosten des Zivilisationsprozesses aufmerksam macht. Und das ist eher Rousseau."

    Insofern lehnte er es kategorisch ab, nach dem herkömmlichen Naturrecht zu denken. Dieses im 17. Jahrhundert entstandene Denken erkläre alles aus den bestehenden schlechten Verhältnissen und rechtfertige sie damit nur, meinte Rousseau, und wandte sich damit gegen Philosophen wie Grotius und Hobbes:

    "Erstens haben die das unhistorisch behandelt; die haben einen Naturzustand bloß erfunden und ihre eigene gesellschaftliche Wirklichkeit in den Naturzustand reinprojiziert. Und als Ausweg aus diesem absoluten Entfremdungszustand, schreibt er dann den ‚Émile’ und den ‚Contrat social’; also einmal ein Erziehungsmodell und einmal ein Staatsmodell als Gegenmodell gegen diesen Ausbeutungs- und Entfremdungszustand."

    Dem Begriff der Entfremdung in Rousseaus Werk ist Karoline Spelsberg von der Folkwang-Universität Essen nachgegangen und fand ihn in den Originaltexten als "Aliénation" wieder – vielfach. Im ersten Akademie-Diskurs habe er eher der - zugegeben vereinfachten - Klage "Die Welt ist schlecht" entsprochen.

    "Rousseau führt eine Form von ‚Entzwiebelungsprozess’ durch, entpellt immer an dem, was er vorfindet, um dann aufzuzeigen, was übrig bleibt. Und dieses Was-übrig-bliebe, wenn man von all dem abstrahiert, was die Gesellschaft dem Menschen zugefügt hat, dann kommt er zum ‚Homme naturel’. Indem er den Menschen entpellt und sich vorstellt, wie wäre er, wenn er außerhalb dieser Gesellschaftsform stünde, entwickelt er ja diesen hypothetischen Naturzustand."

    Auch wenn Voltaire darüber spöttelte, man bekomme das Bedürfnis, "auf allen Vieren herumzulaufen" - für Rousseau war es ein reines Gedankenexperiment, um mit der Gegenwart fertig zu werden. Mehr noch: In seinen folgenden Werken, sagt Karoline Spelsberg, habe er dem Sinn der Entfremdung, der Aliénation eine zweite, aktive Ebene hinzugefügt.

    "Bei Rousseau hat mich diese Spurensuche begrifflicher Natur darauf hingewiesen, dass er gar nicht nur danach sucht, inwiefern sich der Mensch in dem Kontext der Gesellschaft, die er da beschreibt, entfremdet, sondern er sucht ja auch nach Wegen, wie man das überwinden kann. Aliénation birgt auch die Möglichkeit, sich zu entäußern und – im Sinne Rousseaus – dadurch Mensch zu werden."

    Die bereits genannten Werke "Émile" und "Du Contrat social", also "Vom Gesellschaftsvertrag", entstanden 1762, vor 250 Jahren. In "Émile" erzieht sich Rousseau den Menschen, den er für jene fiktive, ideal-natürliche Gesellschaft braucht, wie er sie im "Gesellschaftsvertrag" umreißt. Trennen ließen sich die Bücher kaum, sagt Jörg Dünne, Romanistik-Professor an der Uni Erfurt. So werde Émile bereits in die Staatslehre eingeführt, was bestimmte Momente des ‚Contrat social’ vorwegnehme.

    "Es ist von philosophischer Seite häufig versucht worden, die beiden zusammen zu bringen; also ‚Émile’ als eine Einübung in das, was ein Politiker, ein künftiger Herrscher wissen muss zu verstehen."

    Doch so einfach habe es Rousseau sich und den Lesern nicht machen wollen: In einem in Fragmenten erhaltenen Fortsetzungsroman "Emile und Sophie" wird er nicht der weise Staatslenker, sondern der auf eine Insel Flüchtende. Für den diskursiven Denker Rousseau gab es kein "Happy end", sondern nur das Gedankenexperiment, sagt Jörg Dünne:

    "‚Inselsituationen’ – das ist das Stichwort für Rousseau – sind immer diese Konstellationen, wo jemand zurück zu einem naturähnlichen Zustand, einem Konstrukt von Natürlichkeit kommt, indem er sich der Gesellschaft entzieht."

    Es spricht einiges dafür, dass Rousseau viel Biografisches einfließen ließ. Schließlich musste auch er nach dem Verbot von "Émile" und dem "Gesellschaftsvertrag" ins Exil ausweichen. Was den Eigenbrödler seltsam werden ließ.

    "Das geht vor allem aus den späten autobiografischen Schriften, dem Dialog hervor. Dort fühlt sich Rousseau ganz offensichtlich verfolgt. Er geht von einer universellen Verschwörung gegen ihn aus, die nicht aufzubrechen sei, und inszeniert dann eine Testverfahren, wie man an diesen Jean-Jacques wieder rankommen könne."

    Was aber kaum möglich sei, sagt Jörg Dünne. In seiner gedanklichen Vereinzelung wolle er das wohl auch gar nicht wirklich, weil er sich als einziger Mensch in der Lage sah, das Gesamtexperiment "Zurück zum Naturzustand" zu Ende zu bringen.