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RTL-Doku über Niels Högel
Kritik an Interview mit "Todespfleger"

In der Doku-Serie „Der Todespfleger“ erzählt RTL die Geschichte von Krankenpfleger Niels Högel, der für die größte deutsche Mordserie verantwortlich sein soll. Dass in dem Format auch der Täter selbst zu Wort kommt, ist umstritten. RTL beruft sich auf "journalistische Ausgewogenheit".

Von Michael Borgers |
Personen sind während des letzten Prozesstages des Patientenmörders Niels Högel vor der Weser-Ems-Halle hinter zwei Filmstativen.
Im Juni 2019 fand der letzte Prozesstag gegen Niels Högel statt (picture alliance/dpa/Mohssen Assanimoghaddam)
Dramatische Musik, schnelle Schnitte, krasse Aussagen – so bewirbt RTL die neue Doku in seinem Streaming-Angebot TVNow. In dem gut 30-sekündigen Trailer nicht zu Wort kommt: Niels Högel, der Mann, um den es geht, oder wie ihn der Sender nennt: "Der Todespfleger."
Möglich wäre es, denn interviewt wurde auch er, ein Krankenpfleger, der des Mordes in 85 Fällen schuldig gesprochen wurde. Im Pressetext zu der Produktion betont RTL, man gebe mit dem Interview Einsichten in Högels Motivlage. Eine Begründung, die nicht alle nachvollziehen können.
Der wegen vielfachen Mordes Angeklagte Niels Högel kommt in den Gerichtssaal und hält sich eine blaue Mappe vor das Gesicht
Ex-Pfleger Högel zu lebenslanger Haft verurteilt
Im größten Serienmordprozess der Nachkriegsgeschichte ist der ehemalige Krankenpfleger Niels Högel wegen weiterer 85 Morde zu lebenslanger Haft verurteilt worden. Das Gericht stellte die besondere Schwere der Schuld fest.
Der Sender müsse diese Werbung für seine Serie sofort unterlassen, fordert etwa die Deutsche Stiftung Patientenschutz gegenüber der Katholischen Nachrichten-Agentur. Damit zu werben, dass man einen vielfachen Patientenmörder interviewt habe, überschreite "alle ethischen Grenzen".

Oldenburger Polizei zog Beteiligung an Doku zurück

Zuvor hatte bereits die Oldenburger Polizei bekannt gegeben, ihre Beteiligung an der Doku zurückgezogen zu haben. RTL habe alles, was die Behörde beigetragen habe, herausschneiden müssen. Das habe man sich vorher vertraglich zusichern lassen für den Fall eines Interviews mit Niels Högel.
Und auch der Weiße Ring kritisiert das Interview: "Ich empfinde das als Schlag ins Gesicht der Opfer, wenn man dem diese Möglichkeit gibt", sagt Karsten Krogmann. Als Sprecher des Opferhilfevereins äußert sich Krogmann in einer Art Doppelrolle zu der TV-Doku: Bis vor Kurzem hat er noch als Journalist gearbeitet und so die Geschichte von Niels Högel von Anfang an begleitet. Gerade ist ein Buch von ihm über den Fall erschienen.
In genau dieser Rolle, als Experte, ist Krogmann dann auch, gemeinsam mit dem Co-Autor seines Buchs, in der Crime-Serie zu sehen – ärgert sich aber darüber inzwischen: "Wenn man uns gesagt hätte, Högel kommt am Ende darin vor, hätten wir nicht mitgemacht. So einfach ist das."
Und nicht nur sein Kollege und er seien erst sehr spät über das Interview mit dem verurteilten Mörder informiert worden, sagt Krogmann:
"Es gibt Opfer, die als Gesprächspartner zur Verfügung gestanden haben. Und dann plötzlich, trotz der vorherigen Zusage, dass Högel nicht vorkommt, ihn doch dann in diese Sendung aufzunehmen, das halte ich einfach für einen Umgang, der nicht in Ordnung ist."

RTL verteidigt Täter-Interview mit "Ausgewogenheit"

RTL stellt das etwas anders dar: Man habe "alle Interviewpartner vorab darüber informiert, dass auch ein O-Ton-Interview mit Högel Bestandteil der Sendung sein wird". Das teilte der Sender dem Deutschlandfunk schriftlich mit. Den Wunsch "einzelner Interviewpartner", deshalb nicht mehr zu Wort kommen zu wollen, habe RTL respektiert.
Brennenden Kerzen bilden die Zahl "117"
Gewalt gegen Frauen: Zu großer Fokus auf Täter
Medien berichten laut einer neuen Untersuchung nur selten über die alltägliche Gewalt gegen Frauen. Meist werde über besonders brutale Taten berichtet, sagte Studienautorin Christine Meltzer im Dlf. Doch oft gebe es eine "lange Gewaltspirale".
Die grundsätzliche Entscheidung, das Interview zu führen, hält der Sender "aus Gründen der journalistischen Ausgewogenheit" für geboten. Zu der Frage, "in welchem Umfang und in welcher Weise" das Interview eingebunden werde, habe man sich von Matthias Rath beraten lassen.
Rath ist Professor für Philosophie und Medienwissenschaft. In einem Ausschnitt aus der Serie, den RTL nach der öffentlichen Kritik gesondert veröffentlicht hat, erklärt Rath, Högel sei zwar Täter, aber auch er habe das Recht, sich mitzuteilen: "Es geht uns darum, die Grundfrage zu klären, die übrigens die Angehörigen ja auch umtreibt: Warum tut jemand sowas?"

Krankenpfleger soll notorisch lügen

Journalist und Weißer-Ring-Sprecher Karsten Korgmann hält die Begründung, offene Fragen der Opfer beantworten zu wollen, für eine Ausrede:
"Es bringt keinerlei neue Erkenntnisse, wenn man ihm jetzt journalistische Fragen stellt, ob er sich selbst als Monster empfindet oder sonst etwas. Das hilft den Angehörigen nicht. Er bietet Högel nur eine weitere Bühne, die er eigentlich die ganzen Jahre gesucht hat."
Korgmann spielt damit auch auf die Prozesse gegen Högel an. Gutachter attestierten dem Krankenpfleger dort, notorisch zu lügen und zu manipulieren.
Warum die Maskenpflicht kein Mordmotiv ist
Ein Mann soll einen 20-jährigen Tankstellenmitarbeiter in Idar-Oberstein erschossen haben. Für viele Medien ist der Fall klar: "Mordmotiv Maskenpflicht". Damit übernehmen sie das Narrativ des mutmaßlichen Täters.
Auch wenn sich Täter bereits vor Gericht geäußert hätten, könne man sie doch noch zusätzlich journalistisch befragen, findet die Kölner Professorin für Medienethik, Marlis Prinzing:
"In einem journalistischen Interview ist die breite Öffentlichkeit der Bezug, und es können andere Rahmenthemen im Mittelpunkt stehen, beispielsweise psychologische oder gesellschaftliche, als dies vor Gericht der Fall ist, wo ja die konkrete Tat verhandelt wird."

Medienethikerin: Interviewführung ist entscheidend

Medien dürften Täterinnen und Tätern aber niemals die Möglichkeit geben, sich selbst zum Helden zu machen oder sogar als Opfer zu stilisieren. Entscheidend sei nicht ob, sondern wie interviewt werde, so Prinzing: "Im speziellen Fall des Krankenpflegers gibt es freilich Hinweise, dass beim Wie manches fragwürdig ist."
Dazu gehöre auch die Frage, ob ein solches Interview tatsächlich von Anfang an geplant gewesen sei – und wie das gegenüber anderen kommuniziert worden sei.