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Ruanda
Vor den Toren des Internats

"Ich wollte fertig werden mit dieser Scheinheiligkeit der Religion", sagt die ruandische Schriftstellerin Scholastique Mukasonga über ihr Buch "Die heilige Jungfrau vom Nil". Darin erzählt sie vom Schuljahr 1973 in einem katholischen Mädcheninternat - von einem Jahr, das in einem Massaker mündet.

Von Gaby Mayr |
    Fotos zeigen in Ruandas Hauptstadt Kigali Opfer des Genozids.
    Fotos zeigen in Ruandas Hauptstadt Kigali Opfer des Genozids von 1994 (picture alliance / dpa / Dai Kurokawa)
    Der Völkermord an den Tutsi von 1994 überraschte die Welt. Tatsächlich gab es bereits Jahrzehnte zuvor Anzeichen für eine heraufziehende Katastrophe. In dieser Zeit spielt der Roman "Die Heilige Jungfrau vom Nil". Es begann im November 1959, sagt Scholastique Mukasonga.
    Damals kam es zu ersten Gewalttaten zwischen Hutus und Tutsis. Ruanda war belgische Kolonie. Die Kolonialherren hatten Jahrzehnte lang die Tutsi-Oberschicht benutzt, um das Land zu regieren. Etwa zehn Prozent der Bevölkerung galten als Tutsis.
    Nun erschallte überall auf dem afrikanischen Kontinent der Ruf nach Unabhängigkeit. In Ruanda erhoben sich 1959 Angehörige der Hutu-Mehrheit gegen die Tutsis. Auf beiden Seiten gab es Tausende Tote, schätzungsweise 150.000 Tutsis flohen in die Nachbarländer. 1962 erlangte Ruanda die Unabhängigkeit. Hutus stellten die Regierung. Tutsi-Kämpfer versuchten immer wieder, die Grenze zu überqueren und die Macht in der Hauptstadt Kigali zurück zu erobern. In Ruanda verbliebene Tutsis, wie die Familie von Scholastique Mukasonga, erlebten Wellen der Gewalt:
    "Ab 1963 gab es Massaker. Man hat uns 'Kakerlaken' genannt. Es passierte '63, '67 und '73 - in dem Jahr spielt 'Die Heilige Jungfrau vom Nil'."
    Wellen der Gewalt
    Schauplatz des Romans ist ein katholisches Mädcheninternat. Praktisch alle ruandischen Schulen waren damals katholisch, die katholische Kirche hatte einen ungeheueren Einfluss im Land.
    Scholastique Mukasonga hat das Internat dort angesiedelt, wo sie 1956 geboren wurde: Im bergigen, waldreichen Süden Ruandas, in einem der Quellgebiete des Nil.
    "Es gab keine bessere Schule als die der Heiligen Jungfrau vom Nil. Auch keine höhere gelegene. 2500 Meter, verkündeten stolz die weißen Lehrer. 2493, berichtigte Schwester Lydwine, die Geografielehrerin. 'Dem Himmel ganz nah', flüsterte die Mutter Oberin und faltete die Hände."
    Hier sollen die Mädchen auf ihre Rolle als künftige weibliche Elite, als Ehefrauen an der Seite der mächtigen Männer des Landes vorbereitet werden. Atmosphärisch dicht und stimmig schildert die Autorin das Internat: Die unantastbare Position von Pater Herménégilde, der seine herausgehobene Position zu sexuellen Übergriffen auf Schülerinnen nutzt. Die Servilität der Nonnen gegenüber den wohlhabenden, einflussreichen Eltern ihrer Schülerinnen, die Ignoranz der europäischen Lehrkräfte.
    Scholastique Mukasonga weiß, wovon sie schreibt. Sie hat selbst das katholische Mädchengymnasium in der Hauptstadt Kigali besucht.
    "Ich nutze die Distanz, die ein Roman ermöglicht, um die Erfahrungen jener für mich so wichtigen Jahre zu exorzieren. Ich wollte damit fertig werden, mit dieser Scheinheiligkeit der Religion."
    Im Mittelpunkt der Handlung stehen einige Schülerinnen der Abschlussklasse. Gloriosa, Tochter eines führenden Hutu-Politikers, gibt dort den Ton an. Mitschülerinnen versuchen, ihre Gunst zu erlangen. Zwei Mädchen, Veronica und Virginia, die beiden Tutsis der Klasse, sind bevorzugte Opfer ihrer Attacken.
    "'Bald klingelt es zum Essen', sagte Gloriosa, 'wir sollten zum Speisesaal gehen, und du, Virginia, wirst dann schon den Mund aufmachen und die Reste essen, die wir echten Ruanderinnen dir übrig lassen.'"
    Die beiden Tutsi-Schülerinnen stellen in dem Roman eine Verbindung her zu dem Ruanda vor den Toren des Internats: Veronica gerät in den Bann eines weißen Farmers. Der hängt dem unter Weißen verbreiteten Glauben an, die Tutsis seien Nachfahren eines edlen Volkes, das einst aus dem Norden einwanderte - und mithin gar keine "richtigen" Afrikaner. So "begründeten" die Europäer Privilegien für Tutsis. Virginia dagegen besucht heimlich einen traditionellen Heiler. Das ist verboten. Auch Imana, die traditionelle Gottheit für Hutus und Tutsis, darf nicht mehr verehrt werden:
    "Alles Alte hatten sie ausgerottet. Man war katholisch, Punkt, aus. Man war getauft, Punkt, aus."
    Komplexität der ruandischen Historie
    Scholastique Mukasonga erzählt ihre Geschichte aus dem Ruanda vor dem Völkermord chronologisch, sie umfasst ein Schuljahr. Mukasongas Sprache und der Aufbau ihres ersten Romans sind einfach und klar, Szenen aus dem katholischen Internatsuniversum gestaltet sie, durchaus angemessen, mit feiner Ironie. Die unprätentiöse Darstellung hat einen für europäische Leser angenehmen Nebeneffekt: Sie verlieren sich nicht so leicht in der Komplexität der ruandischen Historie. Die Autorin rückt verschiedene Schülerinnen in den Fokus, aber ihr überwiegendes Interesse gilt den beiden Tutsi-Mädchen Virginia und Veronica. Doch auch bei diesen beiden Figuren legt sie ihr Hauptaugenmerk auf das äußere Geschehen, die innere Entwicklung spielt nicht so eine große Rolle. Dass Mukasonga die Perspektive von Hutus, die erst wenige Jahre zuvor die Tutsi-Dominanz abgeschüttelt hatten und sich nun an ihrer Macht berauschten, nur wenig ausleuchtet, ist verständlich: Ein Großteil ihrer Familie wurde 1994 ermordet.
    Aber mit Modesta hat die Autorin eine Figur geschaffen, die für Uneindeutigkeit steht: Modestas Vater ist Hutu, deshalb gilt auch Modesta als Hutu. Als er jung war, noch zur Kolonialzeit, war er sehr ehrgeizig. Er wollte zum Tutsi aufsteigen. Das war möglich. Er trieb für einen Tutsi die Kopfsteuer ein, er unterschlug einen Teil davon und wurde reich, und er heiratete eine Tutsi. Überhaupt gab es viele Gemeinsamkeiten zwischen Hutus und Tutsis: Man sprach dieselbe Sprache, man betete zur selben Gottheit und heiratete einander.
    Dann aber drehte sich der Wind. Nun hatten die einst benachteiligten Hutus das Sagen. In Modesta lebt die Zerrissenheit fort. Sie gilt als Gloriosas beste Freundin. Aber sie vertraut sich am liebsten Virginia an.
    Kurz vor Ende des Schuljahres erreicht dann das Grauen die Schule der Heiligen Jungfrau vom Nil - so wie viele Schulen im Ruanda des Jahres 1973: Zwei Pick-ups rasen auf das Internatsgelände, Jungen springen von den Ladeflächen und machen, mit Knüppeln bewaffnet, Jagd auf Tutsi-Mädchen.
    Das war mehr als 20 Jahre vor dem Völkermord. Scholastique Mukasongas Roman ermöglicht einen tiefen Einblick in diese kaum bekannte Epoche ruandischer Geschichte.
    Scholastique Mukasonga: "Die heiliger Jungfrau vom Nil"
    Aus dem Französischen von Andreas Jandl. Wunderhorn Verlag
    184 Seiten, 24,80 Euro