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Rudi Beckert: Lieber Genosse Max. Aufstieg und Fall des ersten Justizministers der DDR Max Fechner.

Über der Szene lag ein Hauch von kafkaesker Komik: Im Ostberliner Friedrichstadtpalast war die elfte Folge der Funk- und Fernseh-Reihe "Mit dem Herzen dabei" dem zwanzigjährigen Bestehen der SED gewidmet worden, eine Live-Übertragung mit rund dreitausend Zuschauern, im April 1966. Der Clou des Abends: Auf der Bühne des Varieté-Theaters war unter brausendem Beifall eine Begegnung arrangiert worden, die den Alt-Kommunisten Walter Ulbricht, nunmehr allgewaltiger Chef der SED und DDR-Staatsoberhaupt, in herzlicher Begrüßung und Umarmung mit dem Ex-Sozialdemokraten Max Fechner zusammenführen sollte. Fechner hatte zwanzig Jahre zuvor zu den eiferndsten Protagonisten einer Fusion von KPD und SPD gezählt. Gemeinsam waren beide, Ulbricht und Fechner, auf Kundgebungen für die Vereinigung der beiden Arbeiterparteien eingetreten. Im April 1946 war sie im sowjetischen Besatzungsgebiet vollzogen worden. Und daran eben wollten beide nun erinnern. Max Fechner:

Rezensiert von Karl Wilhelm Fricke | 03.11.2003
    Nun, die Einigung war vollzogen. Dann fuhren wir in den Westen. (...) wir haben in unzähligen Versammlungen in Westdeutschland, Konferenzen, Funktionärsitzungen gemeinsam gesprochen und genau so wie hier, wo wir in der ersten gemeinsamen Funktionärversammlung gesprochen haben für die Vereinigung (...) haben wir nicht nur großen Beifall, sondern große Zustimmung gefunden...) In vielen großen Kundgebungen, Versammlungen und Funktionärkonferenzen, in denen wir sprachen, fanden wir immer wieder (...) eine begeisterte Zustimmung zur Vereinigung der beiden Arbeiterparteien (...)

    Ulbricht, mit sächselnder Fistelstimme unverkennbar, bekräftigte Fechners Reminiszenz:

    Für mich ist es selbst eine große Freude, dass ich heute zwanzig Jahre nach der Vereinigung wiederum mit Max Fechner zusammen auf der Tribüne stehe. Wir haben hier im Friedrichstadtpalast zusammen auf der Bühne gestanden und gesprochen, in Neukölln – kannst’ Dich noch entsinnen, ja? – (Fechner: "Eine große Versammlung...) In Neukölln, vor der Feldherrnhalle in München haben wir zusammen gesprochen,, ja? Also wir haben schon (...)" (Fechner: "In Nürnberg") – "Jawohl" – "Damals haben wir uns bemüht, auch in Westdeutschland wenigstens die Zusammenarbeit der Kommunistischen und der Sozialdemo-kratischen Partei zu erreichen. Aber warum ist das nicht gelungen? Hauptsächlich infolge des Eingriffs der amerikanischen Besatzungs-macht. Nu, wir selber haben ja sofort, als wir über die Grenze kamen, mit ihr Bekanntschaft gemacht. Wir wurden zunächst einmal vom amerikanischen Geheimdienst verhaftet und haben auf diese Weise also einige Studien über Demokratie machen können (...)

    Nach kurzer Zeit durften sie immerhin weiterfahren zu ihren Versamm-lungen. Im Friedrichstadtpalast kam Fechner noch einmal kurz zu Wort und beschwor etwas unbeholfen die Schlussfolgerungen aus der gemeinsamen Verfolgung von Kommunisten und Sozialdemokraten unter dem Hakenkreuz – nämlich:

    ,,,die getrennt marschierenden Parteien, die getrennt geschlagen wurden, nun zu vereinen, um den Kampf der Arbeiterbewegung weiter zu entwickeln bis zu dem Staat, den wir nun haben und den Du leitest .

    Und Ulbricht, selbstgefällig, an Fechner gewandt:

    Hast du dir damals vorstellen können, dass wir in so verhältnismäßig kurzer Zeit von zwanzig Jahren zum umfassenden Aufbau des Sozialismus kommen?

    Das alles ist nun Geschichte. Der DDR-Sozialismus endete im Desaster. In seinem Buch "Lieber Genosse Max" – als Titel wird die Anrede in einem Brief verwandt – zeichnet Rudi Beckert "Aufstieg und Fall des ersten Justizministers der DDR Max Fechner" nach. Die Episode im Friedrichstadtpalast schildert er ausführlich gleich im ersten Kapitel. Sein Kommentar:

    Die Inszenierung war nicht ohne Ironie. Zwei Personen, deren politische Karriere und persönliche Eigenschaften unterschiedlicher kaum sein konnten, demonstrierten vor aller Augen, dass sie sich ausgesöhnt hatten. Wann und unter welchen Umständen es zwischen ihnen zum Bruch gekommen war, blieb im Dunkeln.

    Die Umstände blieben im Dunkeln, so lange die SED in der DDR das Informations- und Meinungsmonopol innehatte.

    Fechner selbst hat sich Zeit seines Lebens - er starb 1973 im Alter von 81 Jahren – nie öffentlich dazu geäußert. In seiner Biographie spiegelt sich ein Schicksal voller Brüche und Widersprüche, wie es so nur unter der Diktatur der SED denkbar war. Zugleich illustriert es die seelenlose Kaltherzigkeit, mit der sich in Ungnade gefallene Genossen seitens der Herrschenden in der DDR ausgesetzt sahen. Fechners Tragik: Er war, erst Täter und danach Opfer des Ulbricht-Regimes.

    Beckert problematisiert das alles in seiner materialreich fundierten und akribisch recherchierten Studie. Die Fragen, die ihn zu seinem Buch motiviert haben, formuliert er so:

    Fechners Werdegang von einem relativ unbedeutenden Berliner sozialdemokratischen Kommunalpolitiker der Weimarer Republik zum führenden Staats- und Parteifunktionär im Osten Deutschlands reflektiert bedeutsame geschichtliche Ereignisse... Wie kam es, dass Fechner, der Mitbegründer der SED und erste Justizminister der DDR, das politische Strafrecht des Arbeiter-und-Bauern-Staates am eigenen Leib erfahren musste? Wieso hat er dennoch beharrlich seine Partei und deren System verteidigt?

    Das sind tatsächlich die Kernfragen. Fechner, der in der Zeit des Nationalsozialismus zweimal sogar vorübergehend in politische Haft geriet, weil er der SPD die Treue hielt, er dachte und handelte auf seine Weise konsequent, als er sich 1945 für den Zusammenschluss von Kommunisten und Sozialdemokraten zu einer Einheitspartei engagierte. Schließlich wurde er als stellvertretender Vorsitzender der SED gewählt. 1949 avancierte er zum DDR-Justizminister. Obschon in diesem Amt intellektuell und fachlich überfordert, gab er sich absolut linientreu und forcierte wesentlich die politische Instrumentalisierung der Justiz im Staat der SED. Zum Beispiel propagierte Fechner am 2. Oktober 1952 in der Volkskammer, dem Schein-Parlament in Ost-Berlin, rückhaltlos die Zerschlagung der traditionellen Gerichtsverfassung:

    Die in letzter Zeit vor dem Obersten Gericht und den Gerichten in der Deutschen Demokratischen Republik stattgefundenen Prozesse gegen Agenten, Saboteure und andere Verbrecher haben gezeigt, dass die Justiz zu einem bedeutenden Instrument zur Stützung unseres friedlichen Aufbaues entwickelt werden muss.

    Fechners jäher Sturz, eine mittelbare Folge des Aufstands vom 17. Juni 1953, war von Ulbricht gewollt.

    In einem Zeitungsinterview, das der Justizminister selber inspiriert hatte, war er für Straffreiheit von Streikenden eingetreten. Selbst Mitglieder von Streikleitungen sollten straffrei bleiben, wenn sie keine Verbrechen im Sinne des Strafrechts verübt hatten. Das Interview löste Verwirrung unter Richtern und Staatsanwälten aus, die in der DDR mit der Strafverfolgung von Juni-Aufständischen befasst waren. Am 14. Juli wurde Fechner, wie Beckert im einzelnen darlegt, vor das Politbüro der SED zitiert, wo er Rede und Antwort stehen sollte. Unglücklicherweise erschien er, der kurzfristig geladen war und von einer Geburtstagsfeier kam, vor dem Rat der Partei-Götter in merklich angetrunkenem Zustand. Die Spitze der SED beschloss Fechners Amtsenthebung und seine Festnahme, die die Staatssicherheit in der Nacht zum 15. Juli vornahm. Sein weiterer Weg führte ihn in die totale Isolation einer überlangen Untersuchungshaft im Stasi-Zentralgefängnis Berlin-Hohenschönhausen. Am 24. Mai 1955 verurteilte ihn der 1. Strafsenat des Obersten Gericht in eintägiger Hauptverhandlung zu acht Jahren Zuchthaus.

    Neben Artikel 6 der DDR-Verfassung und Kontrollrats-Direktive Nr. 38, die bei staatsfeindlichen Delikten damals herangezogen wurden, wandten die Obersten Richter in ihrem Urteil auch § 175 des Strafgesetzbuches an: Um ihn moralisch zu diskriminieren, wurden Fechner - offenkundig unbegründet - homosexuelle Beziehungen zu Abhängigen angelastet. Es war ein skandalöses Unrechtsurteil.

    Nach Begnadigung wurde Max Fechner am 24. April 1956 aus dem Zuchthaus Brandenburg-Görden entlassen. Zwei Jahre später erhielt er seine Mitgliedschaft in der SED zurück und trat, als wäre nichts geschehen, in der DDR-Öffentlichkeit fortan als verdienter Partei-Veteran auf. Sein Gastspiel im Friedrichstadtpalast setzte dazu eine gespenstische Pointe.

    Rudi Beckert, der bis 1989 als Oberrichter am Obersten DDR-Gericht tätig war, hat sorgfältig gearbeitet. Seine politische Wertung ist eindeutig, aber zurückhaltend und, was Max Fechner anbelangt, zuweilen fast verständnisvoll. In seinem gut lesbaren Buch macht er ein Stück DDR-Justizgeschichte exemplarisch. Indem er auch Fechners Rolle in der Weimarer Republik und seine politische Verfolgung unter dem nationalsozialistischen Zwangsregime abhandelt, leistet er einen beachtenswerten Beitrag zur doppelten Diktaturgeschichte im Deutschland des 20. Jahrhunderts.

    Karl Wilhelm Fricke über: Rudi Beckert: Lieber Genosse Max. Aufstieg und Fall des ersten Justizministers der DDR Max Fechner. Erschienen ist der 347 Seiten starke Band zum Preis von 42 Euro im Berliner Wissenschafts-Verlag.