Christoph Heinemann: "Jetzt ist Schulz", behauptet die Marketingabteilung der SPD. Martin Schulz hat dafür gesorgt, dass von zermürbenden Umfragen verhärmte Sozialdemokraten wieder Frühlingsgefühle entwickeln. Kribbeln im Bauch statt Würgereiz beim Blick aufs Kanzleramt. Am Sonntag wollen Sozialdemokraten den ehemaligen Präsidenten des Europäischen Parlaments zu ihrem Vorsitzenden wählen. Jemand hat behauptet, dies sei neben dem Papst das schönste Amt der Welt, wobei wir hoffen wollen, dass Franziskus unter seinen Glaubensbrüdern im Vatikan weniger zu leiden hat als Sigmar Gabriel unter den Genossinnen und Genossen.
Kanzlerkandidat wird Martin Schulz außerdem. Grund für einen Blick auf Amt und Aufgabe mit dem sozialdemokratischen Urgestein Rudolf Dreßler, ehemaliger Sozial-Staatssekretär und viele Jahre lang der Sozialexperte der SPD-Bundestagsfraktion. Guten Morgen!
Kann Martin Schulz über Wasser gehen?
Rudolf Dreßler: Guten Morgen!
Heinemann: Herr Dreßler, kann Martin Schulz über Wasser gehen?
Dreßler: Es sieht fast so aus, als ob er das könnte. Niemand hat einen solchen Ruck innerhalb der Bundesrepublik in der gesellschaftspolitischen Entwicklung und bei der Bevölkerung und in der Mitgliedschaft der SPD sich vorstellen können. Aber er hat das geschafft, was vorher keine Entsprechung hatte. Es gibt einen solchen Vorgang in den letzten Jahrzehnten in der zweiten deutschen Republik nicht. Also ist die These, der geht über Wasser, jedenfalls eine Formel, die den Sachverhalt trifft.
Heinemann: Wie erklären Sie sich diesen Ruck?
Dreßler: Der ist kaum erklärbar, weil ja ein solcher Ruck nur dann entstehen kann, wenn die Gesellschaft mitmacht. Und Tatsache war, dass sie sich vorher abgewendet hatte, zurückgegangen ist, weggegangen ist von den Vorstellungen der SPD, von ihrer, wie ich das damals formuliert habe, neoliberalen Attitüde, die ja auch viel mehr war als eine Attitüde, sondern die zu Gesetzgeber-Aktivitäten Anlass gab und dann letztlich Gesetze produzierte, die dieses Abwenden bewirkten. Er hat fast im Augenblick nur mit Rhetorik diesen Sachverhalt umgedreht, und das lässt natürlich eine Partei insgesamt, die so viele Jahre unter ihrer eigenen Politik hat leiden müssen, dies setzt eine solche Partei dann auch partiell in Euphorie.
"Das zündet im Augenblick"
Heinemann: Womit wir nahtlos bei der Agenda 2010 wären. Martin Schulz hat ja nicht nur Rhetorik benutzt; er hat angekündigt, er wollte das Arbeitslosengeld I zu einem Qualifizierungs-ALG ausbauen. Fachleute warnen, das könnte zu einer gigantischen Frühverrentungswelle führen. Brauchen wir die?
Dreßler: Das ist natürlich trotzdem im Augenblick nur Rhetorik, weil er A die Mehrheiten nicht hat und B die Bundestagswahl noch Monate voraus nicht planbar ist, wie das denn ausgehen wird.
Heinemann: Aber Programm ist Programm, und das hat er angekündigt.
Dreßler: Das ist Programm und das zündet im Augenblick. Das ist ja der entscheidende Punkt. Und dass die Kritik kommt, aus den gleichen Kanälen wie immer, wenn es gesellschaftspolitisch mehr Gerechtigkeit geben soll, das ist nicht nur nichts Neues, sondern das ist geradezu das Fanal, dass der Schulz den Punkt getroffen hat. Solange sich die, die aus den Löchern kommen jetzt, nicht gemeldet haben, war die SPD de facto auf ihrer Linie.
"Wir brauchen natürlich keine Frühverrentungswelle"
Heinemann: Herr Dreßler, ganz kurz. Ein Kanal heißt Franz Müntefering, wie die "Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung" berichtete, ein Kritiker.
Dreßler: Ja, gut! Aber da muss Müntefering mit fertig werden. Wissen Sie, ich habe in meinen nun 48 Jahren Mitgliedschaft in der SPD ungefähr 30 Jahre zur Mehrheit in der Partei gehört, inhaltlich und auch, was die Stimmung betrifft. Jetzt habe ich nun 15 Jahre lang Kritik üben müssen und habe gelitten in der Partei, und jetzt fängt Müntefering an, wieder zu leiden. Ich finde, das ist eine gerechte Sache.
Heinemann: Aber in der Sache, wenn wir uns das noch mal angucken: Viele warnen wie gesagt vor einer Frühverrentungswelle. Die Frage lautete: Brauchen wir die?
Dreßler: Wir brauchen natürlich keine Frühverrentungswelle. Sie wird auch gar nicht kommen. Das ist ja lediglich …
"Die Vollbeschäftigung auf dem Papier besteht de facto nicht"
Heinemann: Sagen Sie!
Dreßler: Das sage ich, weil es war immer dasselbe: Wenn mehr Gerechtigkeit in der Politik, in der Sozialpolitik passieren sollte, dann haben alle Leute das Kommen des Weltuntergangs prophezeit, und das ist alles nicht passiert und das wird auch in diesem Falle nicht passieren.
Heinemann: In Deutschland herrscht fast Vollbeschäftigung. Ist das nicht die größtmögliche Gerechtigkeit?
Dreßler: Nein, das ist überhaupt keine Gerechtigkeit, weil diese Vollbeschäftigung auf dem Papier de facto nicht besteht. Wissen Sie, wenn ich zehn Arbeitsstellen mit 40 Stunden habe und mache daraus 20 a 20 Stunden, dann plaudert genau diese Ecke, die jetzt diese Kritik an Schulz oder seinen Absichten übt, dann plaudert diese Ecke davon, die Vollbeschäftigung oder die Verdoppelung der Arbeitsplätze sei erreicht. Dass in Wahrheit in der Verdoppelung nur die Hälfte der Einkommen liegt, die zum Teil überhaupt nicht mehr zum Leben genügt, so dass man dann zwei Stellen haben muss, oder vielleicht sogar manche, wie wir wissen aus den Statistiken, noch eine dritte Stelle, das wird verschwiegen.
Heinemann: Herr Dreßler, zu Beginn der Agenda 2010 stand die Fragestellung: Was ist besser, eine schlecht bezahlte Beschäftigung, vielleicht mit der Hoffnung auf einen besseren Job eines Tages, aber auf jeden Fall mit einem strukturierten Arbeitstag, oder eben Arbeitslosigkeit? – Wie beantworten Sie die Frage?
Dreßler: Wenn Sie von einem strukturierten Arbeitstag sprechen, dann stimmt dieser Sachverhalt. Das ist ein großes Problem bei Langzeitarbeitslosigkeit, was natürlich die Politik kennt. Insoweit ist diese Frage nicht einfach zu verneinen, die Sie gestellt haben. Aber Tatsache ist auch, dass es keine Lösung sein kann, Menschen von 40 Arbeitsstunden zu 20 und damit zur Hälfte ihrer Einkommen zu bringen und dann so zu tun, als ob die Probleme alle gelöst seien.
"Ich freue mich, wenn der Neoliberalismus auf der Reservebank Platz nimmt"
Heinemann: Der Basar ist jetzt eröffnet. Die Linke möchte die Agenda 2010 komplett kassieren. Die Grünen bemängeln, dass die Bezieher von ALG II bei Martin Schulz außen vor bleiben. Freuen Sie sich auf einen Überbietungswettbewerb?
Dreßler: Ja! Ich freue mich in jedem Fall, wenn der Wettbewerb um bessere gesellschaftspolitische Lösungen die Politik endlich wieder ergreift und der Neoliberalismus jedenfalls lange vorübergehend auf der Reservebank Platz nimmt.
Heinemann: Um den Preis höherer Arbeitslosigkeit?
Dreßler: Das glaube ich nicht. Das ist Gerede! Es wird keine höhere Arbeitslosigkeit deshalb geben, weil Gerechtigkeit in Deutschland wieder eingeführt wird.
Ist die SPD fähig, soziale Einschnitte vorzunehmen?
Heinemann: Ist eine Agenda-traumatisierte SPD überhaupt noch fähig, dort wo es notwendig sein sollte – das kann ja sein – soziale Einschnitte vorzunehmen?
Dreßler: Ich glaube, dass das eines der großen, großen Probleme sein wird, weil die SPD in der Tat, wie Sie es andeuten, gelitten hat. Aber dass da Einschnitte erfolgen müssen, wo es eben nicht gerecht ist, das, glaube ich, kann die SPD sehr wohl leisten, vielleicht sogar besser als andere. Aber darum geht es hier gar nicht. Es geht darum, dass wirklich die Voraussetzung in der Politik für Armut geschafft worden ist, und das muss korrigiert werden.
Heinemann: … sagt Rudolf Dreßler, ehemaliger Sozial-Staatssekretär und der ehemalige Sozialexperte der SPD-Bundestagsfraktion. Danke schön für das Gespräch und auf Wiederhören.
Dreßler: Wiederhören!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.