Autobiographien und Lebenserinnerungen werden in der Regel interessant durch das, was sie weglassen. Wenn diejenigen, die ihre Erinnerungen aufschreiben, sich dessen bewusst sind, kann etwas Großes daraus werden. Dass jemand alles erzählt und eben nichts weglässt, ist noch seltener und kann, wie es etwa bei Peter Kurzeck war, zur eigenen Kunstform werden. Was bewusst, verschämt oder – beschienen von der Sonne des eigenen Ichs – wohlgemut nicht erzählt wird, sind die Ängste und Verletzungen, Lügen, Missgunst und Eifersucht, die Fehler, die man vielleicht sogar eingesehen hat und bereut.
Der in das Köln der Kriegsjahre geborene Rudolf Rach war nach seinem Studium der Theaterwissenschaft und nach der abgebrochenen Universitätskarriere lange Zeit Leiter des Suhrkamp Theaterverlags. Zwischenzeitlich arbeitete er am Theater in Essen und der nun vorliegende erste Band seiner Lebenserinnerungen endet 1986, als Rach bei Suhrkamp kündigt, um in Paris den Theaterverlag L’Arche Editeur zu übernehmen. 2010 und 2016 erschienen von Rach zwei sehr autobiografisch eingefärbte Romane. Und nun die halbe, mitunter sehr unterhaltsame Lebensreise.
Vorausgesetzt, es stimmt
Begegnungen und Anekdoten hat Rach mehr als genug zu bieten. Für die Leerstellen, die sich ebenso zahlreich ergeben, stellt er sich gleich zu Beginn eine Art Blankoscheck aus, indem er eine Erinnerung zitiert, die der Maler Jasper Johns in einem Interview erzählt hat.
"Er, der allen Erinnerungen so misstrauisch gegenüber war. Der immer sagte: vorausgesetzt, es stimmt. Dabei spielt das kaum eine Rolle, weil auch etwas, was man nur für wahr hält, wichtig sein kann."
Das ist anfangs, als es um die unmittelbare Nachkriegszeit geht oder um das Erleben des Vaters, der aus dem Krieg heimkehrt, noch sehr wirkungsvoll. Überhaupt sind diese Abschnitte, in denen Rach immer wieder auch aus der Chronologie ausbricht, die besten des Buches. Die Floskeln, mit denen er komplexe Zusammenhänge oft wegbügelt, finden sich auch hier schon, werden aber gebrochen, wenn etwa die Erinnerung an die Mutter in die Gegenwart des Erzählens hineinragt und im Gespräch mit einem Freund ein lebenslanger Vorwurf gegenüber der mittlerweile verstorbenen Mutter endlich der Trauer weichen kann. Der junge Rach wurde von einem Lkw überrollt und blieb unverletzt.
Der lebenslange Vorwurf
Die Mutter konnte sich gerade noch retten, hatte ihren Jungen aber auf der Straße liegen lassen. Der Schock wurde zum Vorwurf und erst im Alter kann sein Freund ihm klar machen, wie ungerecht er gegenüber der Mutter war.
"Unsere Vorwürfe gehen an den Erstbesten. Zusammenhänge interessieren nicht, wenn wir überkochen wie ein Milchtopf."
Hier gibt es Nahaufnahmen aus der Unseld-Zeit des Suhrkamp-Verlags, Anekdoten zur Geschäftstüchtigkeit und Vertragsscheu von Franz Xaver Kroetz, Thomas Bernhard oder Pina Bausch. Wir erfahren, was Martin Walser unter einer Mutprobe versteht, dass Peter Weiss insgeheim ein Frauenheld war wie Max Frisch. Und Frisch habe seinen diesbezüglichen "Erfolg" wiederum seinem Erfolg als Autor zu verdanken, obwohl er eigentlich so furchtbar mürrisch ist. Einar Schleef entpuppt sich als nerviger Mitbewohner, Samuel Beckett wie zu erwarten als ebenso klug wie distanziert.
Wahrheit und blasse Schuld
Nach über hundert solcher Kapitel bleibt zugleich eine merkwürdig schemenhafte Erzählerfigur zurück. Rach erinnert sich gern. Er lebt von diesen Begegnungen mit Samuel Beckett oder Rainer Werner Fassbinder(*). Er lebt von dem titelgebenden "Alles war möglich". Doch wenn man danach fragt, was er damit angefangen hat, was Rach selbst damit für ein Mensch geworden ist, verschwinden die anfangs gezeichneten Bruchlinien. Frauen werden zu Konturen, der Sohn eine blasse Schuld.
Es bleibt jemand, dem es immer wieder gelungen ist, Probleme zu lösen, die in der Zusammenarbeit mit berühmten Künstlern aufgetreten sind. Vor Komplexitäten der Kunst, vor allem des Theaters aber duckt er sich weg und lässt die Leser mit Oberflächlichkeiten stehen gibt seiner Abneigung gegen alle Formexperimente nach.
Rudolf Rach ist sich, das wird gerade in den Erinnerungen an seine frühen Jahre deutlich, dieser Schwierigkeiten durchaus bewusst, etwa wenn er – frisch verheiratet, seine Frau hat gerade ihr erstes Kind verloren – seine Lebenssituation in Antonionis Film "La Notte" widergespiegelt sieht.
"Alles, was die eigene Person betrifft, begreift man erst nach einem gewissen Abstand, wenn man der Wahrheit ins Gesicht schauen kann oder man dazu gezwungen wird."
Anekdoten und Reflexionen
Die Begegnungen mit so vielen starken Persönlichkeiten – zu allermeist sind es Männer – haben Spuren hinterlassen. Rach ahnt, dass ihm etwas Wesentliches abhandengekommen ist. Der Größenwahn, der auch aus diesem "Alles war möglich" spricht, ist immer gepaart mit einer Sucht nach Neuem. Alt werden heißt dann nur noch, dass man nicht so richtig mitbekommt, wann daraus das Immergleiche geworden ist.
Aus dieser latenten Naivität mach Rudolf Rach auch keinen Hehl, etwa wenn er von seltenen Misserfolgen berichtet. Sich selbst attestiert er, dass aus der Naivität im Lauf der Zeit ein Staunen geworden sei, dessen Ursachen er lange nicht begriffen hat. Für den zweiten Band der Erinnerungen, die dann Rachs Pariser Zeit in den Blick nehmen, wäre zu hoffen, dass den rastlosen Anekdoten einige Reflexionen folgen sowie ein auch in stilistischen Dingen genaueres Lektorat.
Rudolf Rach: "Alles war möglich. '39 bis '86"
Verlag der Buchhandlung Klaus Bittner, Köln. 294 Seiten, 22 Euro.
Verlag der Buchhandlung Klaus Bittner, Köln. 294 Seiten, 22 Euro.
(*) Hier der Vorname Fassbinders korrigiert