Karin Fischer: Mit dem 1968er-Jubiläum wird in Ost und West ganz Unterschiedliches erinnert. Im Westen die Hippie-Bewegung, die Proteste gegen den Vietnamkrieg, kurz die Revolte der Jugend gegen die Vätergeneration; im Osten gab es auch demokratische Aufbrüche, 1968 steht hier aber vor allem für die Niederschlagung des Prager Frühlings. Die Deutsche Gesellschaft e.V. erinnert mit einem Kongress in Berlin zusammen mit der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur an die Zeit. Hartmut Koschyk, den stellvertretenden Vorsitzenden der Deutschen Gesellschaft habe ich vor der Sendung gefragt, was für ihn maßgeblich in Bezug auf die West- und den Ost-68ern ist.
Hartmut Koschyk: Natürlich war 1968 im Westen eher eine Jugend- und Studentenrevolte, wobei die Tagung heute deutlich gemacht hat, dass man auch die 68er-Bewegung im Westen etwas differenzierter sehen muss. Es gab die Polit-68er, denen es um politische Veränderung, auch um revolutionäres Denken gegangen ist, und es gab die Kultur-68er, denen es um Lebensstil, um Freiheit, um Selbstbestimmung gegangen ist und die dabei auch vielfach eher unpolitisch gewesen sind. Und das '68, das sich mit dem Prager Frühling verbindet, das war der Versuch, den Kommunismus mit einem menschlichen Antlitz zu versehen, ihn zu reformieren. Aber sein Scheitern hat natürlich dann auch dazu geführt, dass man in den Ostblock-Gesellschaften, soweit man oppositionell und in der Dissidenz war, nicht mehr an die Reformierbarkeit des Kommunismus geglaubt hat.
Und trotzdem hat es Berührungen gegeben. Es ist heute sehr interessant berichtet worden über Reisen von Böll, von Dutschke, von anderen Intellektuellen, die zu den Protagonisten der West-68er gehörten, in dieser Zeit nach Prag, und da hat es auch Rückschlüsse gegeben und Verbindungen. Das versucht diese Konferenz auch ein Stück herauszuarbeiten und das war vor zehn Jahren leider noch nicht so möglich. Da hat man entweder Ost-68 oder West-68 gesehen und diese Konferenz unternimmt erfolgreich den Versuch, die Ebenen zusammenzubinden.
"Tragisch", dass Prager Frühling keine Rolle mehr spielt
Fischer: Ganz kurze Nachfrage zu '68 im Osten. Es gibt da ja noch ein paar Wunden zu heilen aus jener Zeit, zum Beispiel die Tatsache, dass die Panzer der DDR die ersten waren, die zur Niederschlagung des Prager Frühlings angerollt sind.* Ist das noch ein blinder Fleck in der Geschichtsschreibung oder ein Trauma, an das man nicht gerne rührt, oder kann das heute auch so festgestellt werden?
Koschyk: Das ist ja für Deutschland und aus der Westsicht alles gut aufgearbeitet. Aber was natürlich auch ein Stück erschreckend ist, dass heute im Jahr 2018 in der Tschechischen Republik durch die Staatsautoritäten der Prager Frühling ja überhaupt keine große Rolle mehr spielt und dass es eine vergleichbare internationale Konferenz dieser Art in Prag in diesem Jahr in diesem Ausmaß vielleicht gar nicht so gibt, und das ist natürlich auch ein Stück tragisch und bedauerlich.
Fischer: "1968, eine weltpolitische Zäsur" ist die Tagung unterschrieben. Welche Ereignisse beflügeln diese These?
Koschyk: Na ja, natürlich hat bei '68-West auch erstmals die sogenannte Dritte Welt in der politischen Diskussion eine Rolle gespielt und die internationale Bedeutung, ich glaube, die können wir auch dadurch ersehen, dass zwar '68 im Osten durch die gewaltsame Niederschlagung des Prager Frühlings gescheitert ist. Aber viele derjenigen, die damals noch an die Reformierbarkeit des Kommunismus, und zwar im gesamten kommunistischen Machtbereich geglaubt haben, sind dann direkt in die sich verstärkende Dissidenz und Opposition der 70er- und 80er-Jahre hineingewachsen, und insofern haben wir gerade auch ein Bild gesehen, wie dann im Zuge der samtenen Revolution neben dem Helden der samtenen Revolution von 1988, Vaclav Havel, der Held des Prager Frühlings, Alexander Dubcek, Seit an Seit stehen konnte, obwohl es klar war, jetzt geht es nicht mehr um die Reformierbarkeit des Kommunismus, sondern es geht um seine Ablösung, um seine Überwindung durch eine Demokratie mit gesicherter Rechtsstaatlichkeit und gesicherten Menschenrechten.
"Wir brauchen eine europäische Bürgergesellschaft"
Fischer: Diese Narrative, über die wir ja auch immer sprechen, wenn wir über Geschichte sprechen, haben ja ein gewisses Beharrungsvermögen. Wenn Sie, wie Sie sagen, die Perspektiven zusammenführen wollen und zum Beispiel morgen auf eine europäische Perspektive auf diese Zeit kommen, wie ist die denn vorstellbar?
Koschyk: Ich glaube, '68 hat in Ost und West gezeigt, dass es damals begann, so etwas wie eine transnationale Öffentlichkeit zu geben. Ich erinnere mich ja selber, wie uns in Deutschland die Bilder von der Niederschlagung des Prager Frühlings erreicht und geprägt haben. Und heute in einem Europa, das sich ja auch wieder in einer Herausforderung befindet, was den Zusammenhalt, was Populismus, was Nationalismus anbelangt, könnte vielleicht so ein wenig das Verbindende in die Zukunft hinein sein, dass wir eine europäische Bürgergesellschaft brauchen, an der wir noch arbeiten müssen, die Nationen übergreifend wirklich das Gemeinsame von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Respekt, Toleranz und Miteinander sieht und Nationalismus, Hass, Fundamentalismus, ob er nun politisch oder religiös gespeist ist, nicht noch einmal in Europa aufkommen lässt.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
[*] Anmerkung der Redaktion: Hier ist der Moderatorin ein Fehler unterlaufen. Konsens der Historiker ist, dass die Führung der DDR den Einmarsch zwar politisch unterstützt hat, dass aber keine Kampfverbände der Nationalen Volksarmee beteiligt waren.