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Rückblick auf das Kulturjahr 2020
Alles nur Corona?

Schließungen, Existenznöte und Bühnenverbot – die Pandemie hat die Kulturszene hart getroffen. Vier Kulturschaffende erzählen, wie sie das Jahr 2020 erlebt haben: ein Kulturpolitiker, eine Dirigentin, ein Filmfestivalintendant und die neue Präsidentin des Goethe-Instituts.

Von Maja Ellmenreich |
Dortmund, 14.11.2020: Das wegen der Coronakrise geschlossene Theater Dortmund erleuchtet in roten Farben. Damit schließt es sich dem Aktionsbündnis alarmstuferot an, das auf die Not der Spielstäten hinweist.
Alarmstufe Rot - Das Theater Dortmund macht sichtbar, wie es den Spielstätten in Corona-Zeiten geht (imago images / Friedrich Stark)
Alles nur Corona? Diese Frage steht über dem Rückblick auf das Kulturjahr 2020. Was die Pandemie verändert hat, was sich aber sonst auch getan hat in den zurückliegenden zwölf Monaten - dazu Gespräche mit vier Kulturmenschen, die allesamt in diesem Jahr Neues erfahren haben:

Carsten Brosda (SPD), Hamburgs Kultursenator, erscheint bei der Premiere der Show «Paradiso» auf dem Roten Teppich. Mit der Show «Paradiso» öffnet mit dem Schmidts Tivoli auf der Reeperbahn das erste Hamburger Theater nach knapp viermonatiger Corona-Pause.
Carsten Brosda
Hamburgs Kultursenator Carsten Brosda (SPD) hat ein neues Ehrenamt: Er ist seit November 2020 Präsident des Deutschen Bühnenvereins, dem Arbeitgeberverband der deutschen Orchester und Theater. Er wird also in Zukunft noch mehr kommunizieren, noch mehr vermitteln müssen. Im Corona-Jahr 2020 hat er als Kulturpolitiker "eine enorme Beschleunigung an Kommunikationsnotwendigkeiten" beobachtet: "Ich habe noch nie so viel in meinem beruflichen Leben mit anderen Menschen geredet."
In Hinblick auf die staatlichen Finanzhilfen für die Kultur mache es ihn glücklich, dass es gelungen sei, Kultur in ihrer Eigenständigkeit zu erkennen. Doch die Einschränkungen für die Kultur seien nicht nur etwas, was die Künstlerinnen und Künstler gespürt hätten; auch den Rezipientinnen und Rezipienten fehle eine Dimension des Alltags. Kultur werde, so Brosda, künftig eine wesentliche Rolle bei der gesellschaftlichen Aufarbeitung der Pandemie spielen: "Wenn wir es gut machen, dann nutzen wir die Chance, ein paar Lerneffekte mitzunehmen aus diesem Jahr und Konsequenzen zu ziehen und festzustellen, dass wir sehr wohl Handeln verändern können, wenn wir es denn müssen."
Im Frühsommer hat Carsten Brosda eine Bereitschaft in der Gesellschaft beobachtet, sich ganz grundsätzliche Fragen zu stellen. "Und mit den Lockerungen haben wir dann schon wieder gemerkt, wie sehr wir als Menschen dann doch in der Gegenwart leben, die wir gerade haben."
Für das neue Jahr wünscht sich der SPD-Politiker, "dass wir es als Gesellschaft lernen, besser zuzuhören. (…) Die Fähigkeit, dem anderen zuzuhören, die Fähigkeit, darauf einzugehen, die Fähigkeit, sich wechselseitig zu unterstellen, dass der andere auch Recht haben könnte – das halte ich als die wesentliche Voraussetzung dafür, dass wir in einer offenen, aufgeklärten Gesellschaft tatsächlich das an Vernunft finden, was zwischen uns liegt und nicht jeder für sich schon gepachtet haben muss."
Zuhören als Voraussetzung für eine offene Gesellschaft - Carsten Brosda im Gespräch

Dirigentin Joana Mallwitz bei der Aufzeichnung der WDR-Talkshow Kölner Treff in Köln, 24.01.2020 
Joana Mallwitz
Die Dirigentin Joana Mallwitz, Generalmusikdirektorin am Staatstheater Nürnberg, hat in diesem Sommer ihr Debüt bei den Salzburger Festspielen feiern können - trotz Corona. Sie dirigierte die Wiener Philharmoniker bei der Premiere von Mozarts "Così fan tutte": "Ich war in einer ganz, ganz privilegierten Position, dass wir das in Salzburg überhaupt machen und ganz normal proben durften - im kleinen Rahmen zwar und unter hohen Sicherheitsvorkehrungen. Das war ein ganz großes Glück und eine Befreiung von den Monaten vorher."
Sorgen bereitet Joana Mallwitz die gegenwärtige Situation freier Musikerinnen und Musiker. "Da hoffe ich, dass man, indem man auch im Rückblick noch mehr hilft, dass wir die nicht verlieren in dieser langen Krise." Für den ganzen Kulturbetrieb würde es schlimm werden, wenn sie nicht wiederkämen.
Joana Mallwitz, die 2019 von Musikkritikern der Zeitschrift "Opernwelt" zur "Dirigentin des Jahres" gekürt worden ist, versteht das Internet nicht als vollwertigen Ersatz für den Konzertsaal: "Ein Stream hat gar nicht viel damit zu tun, was live passiert. Ich bin mir sicher, jeder, der mal einen Live-Moment erlebt hat, der wird ihn immer wieder suchen. Aber wer das noch nicht kennt, diesem Menschen kann man durch einen Stream nicht erklären, was ein Live-Konzert bedeutet, eine Oper, ein Sinfoniekonzert. Es hat damit nichts zu tun. Es ist eher eine Art Dokumentation." Ein Konzert einfach in ein Stream-Konzert zu übersetzen, das sei für die Staatsphilharmonie Nürnberg keine Option gewesen: "Wir haben uns überlegt: Wie können wir das Publikum wieder neugierig machen auf Live-Konzerte?" Daraufhin habe man ein eigenes Online-Format entwickelt.
Die Begegnung mit dem Publikum im Konzertsaal ist für Joana Mallwitz mit einem gewaltigen Energieaustausch verbunden: "Der Moment, wo man heraustritt auf die Bühne, alle begrüßt und diese Energie in sich aufsaugt und damit den ersten Ton beginnt - das geht einfach nur, wenn man da eng zusammen hockt mit allen Musikern auf der Bühne und mit dem ganzen gefüllten Saal voller Publikum. Das ist auch etwas Zauberhaftes, was durch nichts zu ersetzen ist. Und das hat enorm gefehlt in diesem Jahr."
Viele Menschen in einem Raum! Dirigentin Joana Mallwitz im Gespräch

Christoph Terhechte
Als neuer Intendant von DOK Leipzig konnte Christoph Terhechte im Oktober 2020 die Gäste dieses großen Festivals für Dokumentar- und Animationsfilm nicht auf die übliche Weise begrüßen. Sein erster DOK Leipzig-Jahrgang geht nämlich als erster Hybrid-Jahrgang in die Festivalgeschichte ein: mit "echtem" Publikum vor Ort; aber der Großteil der 63. DOK Leipzig-Ausgabe fand im Netz statt. "Dabei haben wir natürlich viel gelernt, merken auch, welche Fehler wir gemacht haben, was wir alles hätten gestalten können, um noch sichtbarer zu sein und noch mehr Teilhabe zu ermöglichen", sagte Terhechte im Dlf. Die Festivalerfahrungen des Jahres 2020 könnten auch hilfreich für die Zukunft sein, denn Festivals seien nicht unbedingt vorbildliche Umweltveranstaltungen, so Terhechte: "Wir sollten versuchen, das Festivalerlebnis nachhaltiger und intensiver zu gestalten."
Die Pandemie deutet der langjährige Leiter des Internationalen Forums des Jungen Films der Berlinale als Katalysator des Kinosterbens. "Wir sollten daran arbeiten, dass Kino Unterstützung bekommt wie auch Museen und Theater. Es ist nicht einzusehen für mich, dass Kino in Deutschland ausschließlich als Unterhaltung gezählt wird (…), während die bildende Kunst und das Theater, die Oper als Hochkultur gelten und entsprechend auch finanziert werden."
Für 2021 wünscht sich Christoph Terhechte, der zuletzt das Internationale Filmfestival Marrakesch geleitet hat, volle Kinos. "Die Konzentration, die man hat, die Aufmerksamkeit und auch dieses Erspüren, was die Menschen um einen herum mitnehmen von dem Film, gehört doch ganz groß zur Qualität des Kinos."
Kinokiller Corona? Gespräch mit Christoph Terhechte von DOK Leipzig

Ein Porträt der neuen Präsidentin des Goethe-Instituts, Carola Lentz.
Carola Lentz
Seit Mitte November ist die Ethnologin Carola Lentz Präsidentin des Goethe-Instituts. Die Corona-Pandemie verhindert vorerst, dass sie vielen der 157 Institute in aller Welt einen persönlichen Besuch abstattet. Doch die digitalen Formate, so Lentz, hätten die Netzwerke enorm erweitert und ermöglichten ganz neue Formen der Partizipation. "Vieles davon wird uns auch nach der Pandemie begleiten und die Perspektiven und Kommunikationskanäle bereichern."
Carola Lentz beobachtet allerdings nicht nur Vorteile: "Wir sehen auch, dass autoritäre Regime den Digitalisierungsschub als Chance zu enger Kontrolle nutzen. Und dann werden zivilgesellschaftliche Akteure besonders hart getroffen, auch künstlerische Akteure durchaus." Das Goethe-Institut könne in solchen Fällen einen "physischen Schutzraum" bieten.
Als Ethnologin, die bis 2019 eine Professur für Ethnologie und Afrikastudien an der Johannes-Gutenberg-Universität in Mainz innehatte, sieht Carola Lentz in den zahlreichen Denkmalstürzen des zurückliegenden Jahres eine "spannende aber auch schwierige Debatte". Sie liest daraus Fragen ab: "Wie gehen wir mit Geschichte um? Welche Erinnerungen brauchen wir, um zukunftsfähig zu sein? - Denn darum geht es eigentlich: Zukunftsfähigkeit."
Das Humboldt Forum werde die aktuelle Dekolonisierungsdebatte noch mal neu anfeuern, prognostiziert Carola Lentz. "Objekte, die in Unrechtskontexten erworben werden und für die Ansprüche erhoben werden, müssen zurückgegeben werden. Zugleich sollte das aber eine Aktion sein, die Verbindungen stiftet und nicht Verbindungen beendet. (…) Es ist keineswegs so, dass es von Herkunftsgesellschaften um die reine Rückgabe geht. Oft werden auch Formen der Kooperation angestrebt: Austausch von Museumspersonal, Hospitationen, Ausbildungsinitiativen und vieles mehr."
Dekolonisierung und internationale Kulturarbeit - Carola Lentz im Gespräch