Archiv

Rückblick und Ausblick 2019
Mehr Dialog und mehr Gelassenheit

Kurz vor Ende denken Monika Grütters, Bénédicte Savoy, Olaf Nicolai und Wolfgang Ullrich über ihr persönliches Kulturjahr 2019 nach: über Entdeckungen und Begegnungen und über den anderen Blick auf die Welt, den Kunst, Theater, Literatur und Musik immer wieder möglich machen.

Von Stefan Koldehoff |
Berlin: Die Skulptur "Athena unterrichtet den Jungen im Waffengebrauch" ist auf der Schlossbrücke vor der Kulisse der Kuppel des Humbold-Forums im Berliner Schloß zu sehen.
Baustelle Kultur: die Kuppel des Berliner Stadtschlossses - noch ohne Kreuz (ZB/Soeren Stache)
Nicht auf ein Kulturjahr 2019, sondern auf vier ganz individuelle Kulturjahre blickt "Kultur heute" am letzten Abend des Jahres zurück – gemeinsam mit vier Menschen, die beschrieben haben, wie sie die nun bald zurückliegenden 365 Tage erlebt haben. Welche Entdeckungen haben sie gemacht, was gesehen, gehört, gelesen? Welchen Menschen sind sie begegnet, und was haben sie von ihnen erfahren? Hat die Kultur in diesem Jahr ihren Blick auf die Welt verändert? Und was führt von 2019 nach 2020 hinüber: Gedanken, Wünsche, Hoffnungen?
Monika Grütters, Bénédicte Savoy, Wolfgang Ullrich und Olaf Nicolai könnten – müssen aber nicht – auch jeweils für ein großes Kulturthema des Jahres stehen: Für die endlich begonnene Auseinandersetzung mit der Kolonialzeit zum Beispiel. Für die Frage, ob sich – Stichwort: Nolde-Debatte, Handke-Nobelpreis, Neue Rechte, … – Künstlerinnen, Künstler und ihre Werke voneinander trennen lassen. Für die Überlegung, ob und wie der Blick eines einzelnen Künstlers – in diesem Fall tatsächlich ein Mann – auf die Welt die Gesellschaft noch verändern kann. Oder für die großen, zentralen Projekte, die die kulturelle Identität der Bundesrepublik auf Jahrzehnte hinaus bestimmen werden.
So unterschiedlich wie ihre Aufgaben und Positionen waren auch ihre Erlebnisse und Erfahrungen im Kulturjahr 2019:
Monika Grütters
Kulturstaatsministerin Monika Grütters posiert in ihrem Büro im Bundeskanzleramt.
Kulturstaatsministerin Monika Grütters in ihrem Büro im Bundeskanzleramt. (Picture Alliance / dpa / Bernd von Jutrczenka)
Monika Grütters ist als Staatsministerin für Kultur und Medien im Bundeskanzleramt seit sechs Jahren nicht nur für große Projekte wie das "Humboldt Forum", das "Museum der Moderne" oder das geplante "Deutsche Fotozentrum" verantwortlich, in dem das visuelle Kulturerbe dieses Landes gesichert werden soll. Die CDU-Politikerin fördert mit ihrem stetig wachsenden Etat auch Filmprojekte und Buchhandlungen - in enger Abstimmung mit den Bundesländern, bei denen in vielen kulturellen Fragen die Hauptzuständigkeit liegt. Bleibt da noch Zeit für eigene Kulturinteressen? Darf die oberste Kulturrepräsentantin dieses Landes auch mal "Buh!" rufen oder in der Pause gehen? Und muss Monika Grütters die gleichen Rücksichten wie die Kanzlerin im Fall Nolde nehmen, wenn sie über die Kunstwerke in ihrem eigenen Amtszimmer nachdenkt?
Wolfgang Ullrich
Philosoph und Kunstwissenschaftler Wolfgang Ullrich beim 4. phil.COLOGNE am 22.05.2016 in Köln.
Philosoph und Kunstwissenschaftler Wolfgang Ullrich (dpa / Horst Galuschka)
Der Kulturwissenschaftler und Soziologe Wolfgang Ullrich ist seit vielen Jahren einer der profiliertesten Köpfe, wenn es darum geht, herauszufinden, was Kultur mit den Menschen anstellt. Wie eng verzahnt immer wieder Theater, Museen, Kulturzentren mit Politik und Gesellschaft sind. Wie sich im einen das andere widerspiegelt – ganz gleich, ob das gewollt ist oder nicht. Ob sich Werk und Mensch voneinander trennen lassen. Wolfgang Ullrichs Kulturanalysen – in Kolumnen, Büchern, Vorträgen – rufen immer wieder das hervor, was gute Debattenbeiträge ausmacht: Zustimmung und Widerspruch.
Bénédicte Savoy
Bénédicte Savoy blickt freundlich in Richtung des Betrachters.
Die Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy. (Thilo Rückeis / tagesspiegel / imago-images)
Was gesamtgesellschaftlich die "Fridays for Future"-Bewegung geschafft hat, ist im Bereich der Kultur der Bewegung "Dekolonisiert Euch!" gelungen: Es gibt ein neues Bewusstsein für den Umgang mit Kulturgütern aus der Kolonialzeit – und damit auch für die Entstehung vieler Museen und Sammlungen in Deutschland und in Europa: Sie entstanden in der Zeit der kolonialen Zwangsherrschaft und besitzen und zeigen zum Teil bis heute auch, was anderen Völkern geraubt oder abgepresst wurde – einschließlich so genannter "Human remains", also menschlicher Körperteile. Für die Konsequenzen, die daraus gezogen werden müssen, steht zurzeit kaum jemand so überzeugend und kompetent wie die französische Kunsthistorikerin Bénédicte Savoy, Professorin an der TU Berlin. Zusammen mit dem senegalesischen Soziologen Felwine Sarr hat sie dem französischen Staatspräsidenten konkrete Vorschläge dazu gemacht – auf Macrons Bitte hin. Was ist daraus geworden - in Europa, aber auch in Deutschland?
Olaf Nicolai
Olaf Nicolai im Oktober 2017 bei den Donaueschinger Musiktagen
Olaf Nicolai im Oktober 2017 bei den Donaueschinger Musiktagen (dpa / picture alliance / Patrick Seeger)
Olaf Nicolai ist kein lauter Künstler: keiner, der mit bunten Farben oder poppigen Plastiken auf sich aufmerksam machen müsste. Keiner, für dessen Werke auf den internationalen Messen und Auktionen Rekordpreise gezahlt werden – weil sie sich nur allzu oft dem Markt bewusst entziehen. Seine Bezugsgrößen sind die Literatur und die Geschichte, die Politik und die Philospophie – und manchmal auch nur der flüchtige Augenblick: als er zum Beispiel bei der Venedig-Biennale 2015 auf dem Dach des deutschen Pavillons Bumerangs werfen ließ, die immer nur für einen ganz kurzen Moment sichtbar wurden. Nicht wegen seiner Verkäufe ist Olaf Nicolai einer der bedeutendsten deutschen Künstler der Gegenwart, sondern weil er an der Grenze zwischen Wissenschaft, Konstruktion und Ästhetik immer wieder entscheidende Fragen an diese Gegenwart stellt.