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Rückkehr aus Kriegsgefangenschaft
Viele Heimkehrer kamen traumatisiert zurück

Die meisten deutschen Soldaten, die nach dem Zweiten Weltkrieg aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft zurückkehrten, kamen in Gronenfelde bei Frankfurt/Oder an. Dort nahm vor 75 Jahren das Heimkehrerlager seine Arbeit auf. Die Folgen der Kriegsgefangenschaft sind aber bis heute spürbar – in Familien und der Gesellschaft.

Von Frederik Rother |
"Deutschland grüßt Euch" steht auf einem Schild über dem geöffneten Schlagbaum des Entlassungslagers Gronenfelde bei Frankfurt an der Oder. Die aus russischer Kriegsgefangenschaft entlassenen Heimkehrer treten von hier aus die Reise in ihre Heimatorte an. Aufgenommen am 12. April 1949.
Lager Gronenfelde bei Frankfurt an der Oder: Die aus russischer Kriegsgefangenschaft entlassenen Heimkehrer traten von hier aus die Reise in ihre Heimatorte an. (dpa)
"Wir waren groß geworden im Krieg und haben die ganze Härte des Krieges kennengelernt."
Wolfgang Brockmann wird 1949 aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft entlassen. Als er in seiner Heimatstadt Berlin ankommt, ist er 21 Jahre alt.
"Und jetzt standen wir da. Was wollte ich alles werden, Förster wollte ich werden, Lokführer wollte ich werden, zur Eisenbahn wollte ich gehen. Träume, die man als Kind hatte, ja. In Gefangenschaft habe ich ja gar nicht drüber nachgedacht."
Gottfried Gilbert, ehemaliger Offizier, ist 60 Jahre alt, als er aus sowjetischer Kriegsgefangenschaft kommt. 1953 erreicht er das Dorf, in dem seine Tochter bis heute wohnt:
"Im Dorf, da hat man ihn ganz liebevoll aufgenommen. Also wir haben auch gedacht, so als ehemaliger Nazi, aber da waren ja sowieso so viele Nazis. Es wurde ihm ein brillanter Empfang bereitet, mit Blasmusik und Bürgermeister und Fresskorb."

Circa drei Millionen deutsche Soldaten in sowjetischer Gefangenschaft

Gebrochene Biografien, Rückkehrer, die empfangen werden wie Helden, andere, die nie wieder heimisch werden – die Rückkehr deutscher Soldaten aus sowjetischer Gefangenschaft ist Ende der 1940er-, Anfang 1950er-Jahre Alltag in Nachkriegsdeutschland. Auch der Mitteldeutsche Rundfunk berichtet darüber:
"Und jetzt fährt der Zug in die große Halle des Leipziger Hauptbahnhofes ein. Geschmückt ist der Zug, auf den Trittbrettern stehen sie, die Gesichter beugen sich vor."
Zum Ende des Zweiten Weltkrieges waren etwa zweieinhalb bis drei Millionen deutsche Soldaten in sowjetischer Gefangenschaft. Die ersten von ihnen wurden in den Nachkriegsmonaten entlassen. Der Strom der Rückkehrer nahm aber stetig zu, zentrale Aufnahmestellen wurden gebraucht. Eine wichtige Rolle spielte dabei das Aufnahmelager Gronenfelde bei Frankfurt/Oder, in dem am 27. Juli 1946 – also vor 75 Jahren – die ersten Heimkehrer eintrafen. In den folgenden vier Jahren erreichte mehr als eine Million ehemaliger Soldaten dieses Lager. Auch Wolfgang Brockmann und Gottfried Gilbert kamen über Frankfurt/Oder nach Deutschland. Mit der Rückkehr endete das schwierige Kapitel Kriegsgefangenschaft, das oft mit Strapazen begonnen hatte.
Deutsche Kriegsgefangene im Lager auf dem Chodynskoje Feld bei Moskau. Undatiert.
Historiker: "Auf die Freude folgte Enttäuschung"
Obwohl die Familien sich über die Rückkehrer freuten, folgte darauf häufig die Enttäuschung, sagte Historiker Harald Jähner. Väter hätten es oft nicht geschafft, sich in die neue Familiensituation einzufügen.
"Nach X-Untersuchungen wurden wir dann in diese Wagen getrieben. 50 Mann oder wie viel wir da drin waren. Bis plötzlich einer sagte: Ha, Leute, wo kann man denn hier scheißen? Dann entdeckten wir ein kleines Loch, ein kleines lächerliches Loch im Boden und wussten, also da sollen 50 Mann raufgehen."
Wolfgang Brockmann, inzwischen 94 Jahre alt, lebt noch immer in Berlin. Den Krieg erlebte er als Jugendlicher, Anfang 1944 wurde er eingezogen, er war Flakhelfer und bei der Marineinfanterie. An seinem 18. Geburtstag, fünf Tage vor Kriegsende, geriet er nicht weit von Wittenberge an der Elbe in sowjetische Kriegsgefangenschaft. Mit dem Zug wurde er nach Karelien gebracht, in den kargen Norden der Sowjetunion, nahe der Grenze zu Finnland. Baracken, Stacheldrahtzäune, Wachtürme – so sah das Arbeitslager aus. Er musste vor allem in den umliegenden Waldgebieten arbeiten.
"Und da haben wir eine Strecke gebaut, um dort später Gleise für die Kleinbahn zu legen, auf der die Stämme dann, die später im Winter gefällt wurden, raustransportiert werden konnten. Im Winter dann mussten wir bei Kälte von bis zu 30 Grad, mussten raus in den tiefen, tiefen Schnee und sollten Bäume fällen.".

Sowjetunion setzte die Kriegsgefangenen strategisch ein

Die meisten Kriegsgefangenen bauten Wohnungen, Straßen und Zugstrecken, arbeiteten in Minen, in der Schwerindustrie, der Landwirtschaft. Denn die Sowjetunion hatte im Krieg sehr gelitten, bis zu 27 Millionen Soldaten und Zivilisten kamen ums Leben, das Land war stark zerstört. Die Sowjetunion setzte die Kriegsgefangenen strategisch ein, sagt Andreas Hilger, stellvertretender Direktor des Deutschen Historischen Instituts in Moskau:
"Im Kern war das Ziel sicherlich der Wiederaufbau der daniederliegenden sowjetischen Wirtschaft. Das Ganze wurde dann propagandistisch auch als Wiedergutmachung dargestellt, also als moralische Verpflichtung auch der Gefangenen, den Schaden wieder gut zu machen."
Der Alltag im Lager war vor allem geprägt von Hunger. Hinzu kamen Krankheiten, schlechte Hygienebedingungen, bittere Kälte im Winter. Etwa eine Million der deutschen Kriegsgefangenen überlebte diese Lager und die jahrelange Internierung nicht. Das Kriegsgefangenen-System war nicht auf Dauer ausgelegt, sagt Andreas Hilger. Auch in der sowjetischen Führung herrschte der grundlegende Konsens, dass die deutschen Soldaten früher oder später entlassen werden sollten.
"Zunächst hat man die Schwachen, Kranken und Arbeitsunfähigen ausgewählt. Also hier spielte dann die Überlegung eine Rolle, dass man hier nicht Gefangene verwahren will, die sowieso nichts mehr für die Arbeit nutzen. Das waren die ersten großen Wellen, 1945, 1946 gerade."
Bis 1950 wurden die meisten deutschen Kriegsgefangenen entlassen. Die letzten von ihnen kamen erst 1955 frei, nach der berühmten Moskau-Reise von Bundeskanzler Konrad Adenauer. Wolfgang Brockmann trat im Frühjahr 1949 die Heimreise an. Über Polen fuhr er mit dem Zug nach Frankfurt/Oder. Dann weiter nach Ost-Berlin.
Ein historisches Farbfoto zeigt die Trümmer zweier Panzer an der Böschung eines Kanals
Vor 80 Jahren - Deutscher Überfall auf Sowjetunion
Nach dem Beginn des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941, rechneten Adolf Hitler und die Wehrmacht-Führung mit einem Feldzug von höchstens zwei Monaten. Eine grandiose Fehlspekulation: Der Nimbus der Unbesiegbarkeit der Wehrmacht war bald gebrochen.
"Das war ja wie ein Volksfest als wir ankamen. Und als ich dann die Treppen runter ging, da stand meine Mutter. Und als ich sie dann im Arm hatte, war die Stunde null. Ich habe sie nach endloser Zeit wiedergesehen."
Szenen, die sich in diesen Jahren in ganz Deutschland oft ereigneten. Auch der Mitteldeutsche Rundfunk berichtete über diese Heimkehrer-Momente:
"Eine Familie ist wiedervereint. Und immer mehr werden sich wiederfinden und so nach und nach werden all die tiefen Wunden heilen, die sich unser Volk in furchtbarer Verblendung selbst geschlagen hat. Es wird gesunden. Auf allen Gebieten spüren wir den Aufbauwillen."
"Das war natürlich ein sehr stark verändertes Land, ein zerstörtes Land aufgrund des alliierten Bombenkrieges."

Konzept des psychischen Traumas war in den 50ern praktisch nicht bekannt

Frank Biess, Geschichtsprofessor an der Universität im kalifornischen San Diego und Experte für die deutsche Nachkriegsgeschichte. Der Einstieg in das neue Leben war für viele Kriegsrückkehrer Ende der 40er-, Anfang der 50er-Jahre eine Herausforderung. Beispiel BRD: Beruflich konnten sie in den Wirtschaftswunderjahren zwar oft Fuß fassen und der Staat unterstützte sie auch finanziell. Die Folgen des Krieges und der Gefangenschaft aber machten es vielen schwer, den Leistungsanforderungen der Wiederaufbau-Gesellschaften zu entsprechen. Viele Rückkehrer hatten körperliche und psychische Probleme. Das Verständnis für die Männer war zu dieser Zeit dennoch begrenzt.
Deutsche Kriegsgefangene des Zweiten Weltkrieges in Rußland 
Viele Rückkehrer wurden mit ihren Erfahrungen aus der russischen Kriegsgefangenschaft allein gelassen (picture-alliance / dpa )
"Dieses Konzept eines psychischen Traumas war ja in der Bundesrepublik der 50er-Jahre praktisch nicht bekannt. Zu dieser Zeit herrschte eben die Vorstellung in Deutschland und auch in anderen Ländern, dass es zwar psychische Folgen von Krieg und Gefangenschaft gibt, dass die aber bei gesunden Menschen nach einer gewissen Zeit wieder abklingen."
Dementsprechend wurden viele Rückkehrer mit ihren Erfahrungen allein gelassen, sagt Biess. In der Bundesrepublik wurden die Heimkehrer in den 50er-Jahren vor allem als Opfer des Krieges, als Opfer Hitlers und des Kommunismus gesehen. Frank Biess nennt ein Beispiel:
"Der Verband der Heimkehrer hat eine Ausstellung zu Kriegsgefangenschaft in den 50er-Jahren organisiert, und das Ausstellungsplakat zeigte einen Mann mit glattrasiertem Schädel hinter Stacheldraht. Und wenn man das heute sieht, denkt man sofort, dass es sich um einen Gefangenen in einem Konzentrationslager handelt, wahrscheinlich um ein jüdisches Opfer des Nationalsozialismus. Es war aber ein deutscher Kriegsgefangener in der Sowjetunion, und diese Ähnlichkeit, glaube ich, war durchaus beabsichtigt, weil es genau darum ging, im Grunde so eine moralische Balance herzustellen zwischen den Opfern der Deutschen und den deutschen Opfern."
Das Rundfunkorchester Günter Fuhlisch spielt in der Sendung "Zum Tanztee", Deutschland 1950er-Jahre
Buchautor Harald Jähner - "Die 50er-Jahre waren wesentlich lebendiger, kritischer"
Die Nachkriegsjahre in der Bundesrepublik waren eine bleierne Zeit? Nein, eigentlich seien sie viel konfliktreicher gewesen als heute kolportiert, sagte der Publizist Harald Jähner im Dlf. Viele Menschen hätten versucht ihren "inneren Nazi" loszuwerden, das aber ihren Kindern gegenüber nicht zugegeben.
Etwas anders war der Blick auf die Kriegsgefangenen in der DDR. In der DDR ließen sich tausende ehemalige Kriegsgefangene nieder, oft, weil sie dort früher gelebt hatten. Frank Biess:
"In der DDR gab es eben diese Vorstellung: Ja, das waren Soldaten der faschistischen Wehrmacht, aber in der Kriegsgefangenschaft wurden sie politisch umerzogen und kamen praktisch zurück als Antifaschisten."
Geläutert, um den neuen sozialistischen Staat mit aufzubauen – so die offizielle Sichtweise. Die Folge: In der DDR konnte nicht offen und kritisch über die Jahre in den sowjetischen Arbeitslagern gesprochen werden, erinnert sich auch Wolfgang Brockmann:
"In der Öffentlichkeit auf irgendwelchen Versammlungen konnte ich natürlich darüber gar nichts sagen."
Langfristige psychische Folgen hätte er nicht davongetragen, sagt er heute. Traumabewältigung war damals kein Thema. Das ist inzwischen anders. Die psychischen Nachwirkungen des Krieges und der Kriegsgefangenschaft sind fester Bestandteil der Traumaforschung geworden. Besonders im Fokus: Die Nachkommen der Betroffenen, die sogenannten Kriegskinder und Kriegsenkel. Eines dieser Kriegskinder ist Ulla Malterer, geboren 1941. Ulla Malterers Vater Gottfried Gilbert geriet kurz vor Kriegsende in sowjetische Gefangenschaft. Acht Jahre verbrachte er im Lager im Ural – das berührt sie bis heute:
"Da ich mich in den letzten Tagen jetzt wieder damit befasst habe, ist mir klar geworden, was die Männer mitmachen mussten. Zum Beispiel bei Ruhr in Grabeskälte zu den Latrinen jedes Mal. Dann Wanzen. Das muss eine furchtbare Plage gewesen sein. Dann hat er mal ein Nierenstein geboren, ohne jeden ärztlichen Beistand. Das müssen irre Schmerzen gewesen sein. Ja, und immer wieder der Hunger."

"Dieser Ton der Sirenen in der Kriegszeit"

Das Fehlen des Vaters hat den Nachkriegsalltag von Ulla Malterer, ihrer Schwester und der Mutter geprägt. Noch immer beschäftigen sie die schwierigen Nachkriegsjahre, die detaillierten Schilderungen der Gefangenschaft:
"Ja, dass es doch eine arme Kindheit war, da leide ich rückblickend schon auch unter dem Bewusst werden, was meine arme Mutter da leisten musste, uns da irgendwie durchzubringen. Also viel Mitleid mit meiner Mutter auch. Dort der Vater in der Gefangenschaft unter den schrecklichen Verhältnissen und wir hier ohne Vater, ohne Ernährer, arm."
Mit Essen und Lebensmitteln geht sie noch immer sparsam um, sagt sie. Und dann gibt es noch diese dunkle Kriegserinnerung:
"Dieser Ton der Sirenen in der Kriegszeit, der unterschwellig immer da war, als große Beunruhigung und Gefahr. Und wenn jetzt irgendwie die monatliche Sirene kommt, das mag ich gar nicht hören. Da steckt irgendetwas tief drin."
Matthias Lohre posiert für ein Pressefoto.
Matthias Lohre über Kriegsenkel - Vererbte Seelennot
Traumatische Kriegserlebnisse werden von Generation zu Generation weitergegeben. Über die Belastungen, die die Kriegsenkel tragen müssen, hat der Journalist Matthias Lohre ein Buch geschrieben. Für ihn ist die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit eines der größten Erben des Zweiten Weltkrieges.
Angela Moré ist Professorin für Sozialpsychologie an der Universität Hannover und forscht zur transgenerationalen Weitergabe von Schuld und Traumata. Sie erzählt, dass im Krieg oft die Sirenen heulten. Familien harrten dann unter Todesangst im Luftschutzbunker aus. Solche Erfahrungen könnten Kinder aufnehmen – selbst wenn sie wie Ulla Malterer im Krieg noch klein sind. Und:
"Das geht so weit, dass zum Beispiel Kinder, die selbst nie Krieg erlebt haben, berichten, dass sie in Träumen manchmal Bilder haben, wo Bomben neben ihnen niederprasseln, wo Häuser über ihnen zusammenstürzen."
Dass traumatische Kriegserlebnisse an die Nachkommen vererbt werden können, ist in der Psychologie seit Jahrzehnten Thema. Mitte der 1960er rückten erstmals die Kinder von Holocaust-Überlebenden in den Fokus. Später dann auch die Kinder aus NS-Täterfamilien.
"Das Phänomen ist, dass wir in der sogenannten ersten Generation ein schweres Trauma vorfinden. Also Bedrohung, Misshandlungen bis hin zu Todesbedrohung. Und wenn das dann auch noch über einen längeren Zeitraum der Fall ist, also sei es bei einer jungen Frau mit sexuellem Missbrauch, sei es bei jemandem, der in einem Konzentrationslager oder in Folter ist, oder eben auch in Kriegsgefangenschaft, und das führt dann zu extremen Traumatisierungen, die zu lang anhaltenden psychischen Beeinträchtigungen führen."

Viele Möglichkeiten, wie sich das Trauma der Eltern zeigt

Mit der Folge, "dass diese Menschen in ihrer emotionalen Reaktion, in ihrem Feedback gegenüber einem Kind sich nicht so verhalten wie ein psychisch stabiler, gesunder Mensch."
Einige Beispiele aus der Nachkriegszeit: Die Mutter lässt keinen Körperkontakt ihrer Kinder zu, weil sie im KZ sexuell misshandelt wurde, die Eltern können Freude nicht aushalten, erziehen mit Drill, Schlägen und Gewalt, weil sie das selbst so kennen oder weil sie durch die NS-Zeit geprägt sind. Oder sie werden eben panisch, wenn die Sirenen losgehen. Angela Moré:
"Und das Kind ist dann dem hilflos ausgeliefert und kann dadurch selbst wiederum eine Traumatisierung erleben."
Deutsche Kriegsgefangene stehen zur Essensausgabe im Lager auf dem Chodynskoje Feld bei Moskau an. Undatiert.
Deutsche Kriegsgefangene stehen zur Essensausgabe im Lager auf dem Chodynskoje Feld bei Moskau an. Undatiert. (picture-alliance / dpa | Tass)
Viele Nachkommen, also Kinder und Enkel von NS-Tätern oder NS-Opfern, berichten über Depressionen, Antriebslosigkeit, Minderwertigkeitsgefühle. Sie entwickeln Essstörungen, weil ihre Eltern oder Großeltern im KZ oder in Kriegsgefangenschaft hungern mussten, oder sie werden, wenn sie mit Gewalt aufgewachsen sind, selbst gewalttätig. Es gibt viele Möglichkeiten, wie sich das Trauma der Eltern zeigt, und auch nicht jedes Kind erleidet selbst ein Trauma – aber aus wissenschaftlicher Sicht gibt es klare Zusammenhänge. Seit einigen Jahren wird darüber auch mehr in der Öffentlichkeit gesprochen. Dutzende Bücher sind auf dem Markt, die sich mit den Kriegsnachkommen und ihren Leiden befassen. Betroffene vernetzen sich und gründen Vereine. Und viele wenden sich an den Suchdienst des Deutschen Roten Kreuzes.
2. Weltkrieg / Russlandfeldzug 1941/42: Deutscher Überraschungsangriff auf die UdSSR am 22. Juni 1941 (Unternehmen Barbarossa). Kradschützenspitze der Wehrmacht passiert die russische Grenze. Foto (Moosdorf), Juni 1941. |
Klarheit ja, Erlösung nein - Was es bedeutet, einen NS-Täter in der Familie zu haben
Täter, Mitläufer, Zuschauer: Immer mehr Enkel wollen wissen, welche Rolle ihre Großeltern im Nationalsozialismus eingenommen haben. Kämpften ihre Eltern noch mit Loyalitätskonflikten, können sie freier fragen. Eine Chance für die Gesellschaft – auch um dem erstarkenden Rechtsextremismus zu begegnen.
"Mein Name ist Dorota Dziwoki und ich leite seit 20 Jahren die Suchdienstleitstelle im DRK-Generalsekretariat in Berlin."
Der Suchdienst ist seit Jahrzehnten wichtige Anlaufstelle, um Schicksale von vermissten Weltkriegssoldaten und Kriegsgefangenen aufzuklären. Heute wenden sich meist Kinder und Enkel der Kriegsteilnehmer an das DRK, die mehr über das Leben und Sterben ihrer Angehörigen wissen wollen. Ein Schwerpunkt der Arbeit: Kriegsgefangene in der ehemaligen Sowjetunion. Dorota Dziwoki erklärt, was nach einer Anfrage passiert:
"Wir prüfen dann in unseren Datenbanken, ob wir in den sowjetischen Beständen Unterlagen über den Kriegsgefangenen finden. Wenn ja, kann das zum Beispiel eine Kopie der Personalakte des Vaters des anfragenden Angehörigen sein."

Interesse an Familiengeschichte zur Zeit des Zweiten Weltkrieges ungebrochen hoch

In dieser Personalakte stehen viele Informationen drin:
"Darüber, in welchen Kriegsgefangenenlagern der Vater gelebt hat, an welchen Krankheiten er vielleicht gelitten hat, wo er letztendlich verstorben ist. Und vielleicht gibt es auch in dieser Personalakte Hinweise darauf, wo der Vater bestattet wurde."
Das Suchdienst-Team greift dabei vor allem auf sowjetische Daten- und Archivbestände zurück, die in den 90er Jahren von Russland erworben wurden. Die sowjetische Militär- und Gefängnisbürokratie hat die meisten deutschen Kriegsgefangenen registriert. Das Interesse an der eigenen Familiengeschichte zur Zeit des Zweiten Weltkrieges ist immer noch hoch. Dziwoki und ihr Team erreichten allein im vergangenen Jahr rund 10.000 Anfragen zu Schicksalen des Zweiten Weltkrieges, etwa 20 Prozent davon konnten sie erfolgreich aufklären.
"Es sind sehr bewegende Momente für die Angehörigen. Und diese Informationen nach so vielen Jahren zu erhalten, das ist sehr bewegend und es hat auch erlösende Momente, weil die Ungewissheit über das Schicksal ihrer Vermissten damit beendet ist."
Über den Suchdienst konnten seit den 1990er-Jahren mehr als 200.000 Vermissten-Schicksale mit Bezug zur Sowjetunion aufgeklärt werden. Aber: Zum Leid der deutschen Soldaten gehört auch das Leid der sowjetischen Soldaten. Und hier sieht es nicht so gut aus: Ein Großteil der Schicksale von den etwa fünf Millionen sowjetischen Kriegsgefangenen in Deutschland ist noch immer unbekannt. Ein russisch-deutsches Gemeinschaftsprojekt, gefördert von beiden Regierungen, will Licht ins Dunkel bringen und arbeitet diese Geschichte wissenschaftlich auf. Das Projekt wurde 2016 ins Leben gerufen.