Seit den 1960er-Jahren verlieren die Kirchen stetig Mitglieder. Heute gehören gerade noch 62 Prozent der Deutschen der evangelischen oder der katholischen Kirche an und jedes Jahr treten erneut Hundertausende aus. Dieser Befund passt gut zur sogenannten Säkularisierungsthese. Sie gründet auf Annahmen, die die Modernisierungstheoretiker schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts machten.
"Allen voran Max Weber, der damals der Meinung war, dass im Zuge der Modernisierung Religion einfach verschwinden wird."
Susanne Schröter ist Ethnologie-Professorin im Exzellenzcluster "Herausbildung Normativer Ordnungen" der Goethe-Universität Frankfurt.
"Religion war der Bereich des Nichtwissens, des Aberglaubens, der Spekulation. Und durch Wissenschaft, durch Rationalisierung, Individualisierung war man der Meinung, würde sich das Problem sozusagen erledigen und man würde dann in eine vernunftgesteuerte, sonnige Zukunft gehen. Und Modernisierung hieß in dieser evolutionären Logik, das überwindet man alles und dann geht es den Menschen besser, weil sie eben nicht mehr gefesselt sind an diesen Irrglauben."
Die Moderne beseitigt die Religion. Dieser Glaubenssatz war lange ein Kernbestand sozialwissenschaftlicher Theorie. Ganz so ist es freilich nie gekommen. Tatsächlich sei Säkularisation zwar ein Merkmal moderner demokratischer Staaten, sagt Professor Hartmut Zinser. Er ist Religionsforscher an der Freien Universität Berlin.
"Die säkulare Gesellschaft hat sich insoweit durchgesetzt, als sie sagen, der öffentliche Bereich, da tritt Religion in ihrer Bedeutung ganz klar und hart zurück."
Moderne Gesellschaften trennen Staat und Kirche
Das bedeute aber nicht, dass die Religion verschwinde. Sondern lediglich, dass moderne Gesellschaften Staat und Kirche trennen.
"Im privaten Reich – und das ist auch eine Realisierung der säkularen Gesellschaft – kann jeder machen was er will. Denn zur säkularen Gesellschaft gehört eben auch die Religionsfreiheit, als eine der grundlegenden bürgerlichen Freiheiten, das gehört zum säkularen Staat!"
Und genau diese Freiheit nutzten eben auch viele, sagt Hartmut Zinser. Wer im säkularen Staat die Kirche verlässt, betritt nicht automatisch säkulares Terrain und lebt von nun an areligiös. Vielmehr eröffnet gerade der säkulare Staat vielfältige religiöse Möglichkeiten.
"Jeder kann machen, was er will, jeder kann aus der Kirche austreten, jeder kann sich sozusagen die Religion raussuchen, die er will. Oder er kann vormittags – wie in Japan Anhänger des Shinto sein, mittags heiratet man christlich und sterben buddhistisch. Also alles das ist heute möglich, der markentreue Wechselreligiöse, das kann man vielfältig beobachten. Richtig Säkulare sind sehr selten."
Der Wechselreligiöse ist westeuropäischer Spezialfall
Die Moderne hat den Glauben an Gott nicht durch den Glauben an die Wissenschaft ersetzt und schon gar nicht die Menschen zu durch und durch rationalen Individuen gemacht. Allerdings ist der von Hartmut Zinser beschriebenen Wechselreligiöse eher der westeuropäische Spezialfall und nicht allgemeingültig. Susanne Schröter:
"Westeuropa – und Deutschland gehört ja dazu – hat einen Sonderweg beschritten. Bei uns sind Individualisierung und Entkirchlichung tatsächlich ein empirisch zu beobachtendes Phänomen. Nicht in allen Staaten gleichermaßen, aber in Deutschland kann man es definitiv nachweisen. Religion ist stärker etwas Individuelles geworden."
In anderen Teilen der Welt sieht das anders aus. Ab dem Ende der 1970er Jahre registrierten Beobachter verschiedene Ereignisse, die auf ein Revival der Religionen auch in der politischen und in der öffentlichen Sphäre hindeuteten. Allen voran die islamischen Revolution im Iran.
"Niemand hat das erwartet, dass tatsächlich dort ein religiöser Staat entsteht. Und dieser Staat hatte auf die islamische Welt eine wahnsinnige Signalwirkung. Man könnte sagen, das ist der Beginn gewesen einer neuen Revitalisierung des Islams."
Religion bestimmt das Zusammenleben mit
Auch unter diesem Eindruck schrieb 1994 der Religionssoziologe José Casanova sein Buch „Public Religions in the Modern World". Es gilt heute als Auftakt für einen Widerspruch gegen die linear gedachte Säkularisierungsthese. Casanova behauptet, dass Religion seit den 1980er Jahren wieder an Bedeutung gewinne. Und zwar nicht für einzelne Personen, sondern für die öffentlich-politische Ebene mancher Staaten. Religion ist damit eine Kraft, die das Zusammenleben mitbestimmt und das wahrscheinlich auch in Zukunft tun wird. Casanova hat dabei nicht nur den Islam im Blick. Die Fallstudien in seinem Buch beziehen sich auf christliche Bewegungen.
"Man kann das nicht nur auf den Islam reduzieren. Das wäre einfach falsch, sondern parallel gab es auch im Christentum, gerade im evangelikalen Christentum ähnliche Bewegungen. Wir finden die unter Hindus, der neue Hindunationalismus, wir finden die im Judentum, heute haben wir es sogar unter Buddhisten, was überhaupt niemand erwartet hat. Da haben wir genau diese fundamentalistischen Bewegungen, die hoch politisiert sind."
Seit der Jahrtausendwende sind die Anhänger der Säkularisierungsthese endgültig auf dem Rückzug. Von der „Rückkehr der Religionen" und der „Wiederkehr der Götter ist die Rede, Jürgen Habermas prägte den Begriff des „Post-Säkularismus". Alle diese Formeln tragen allerdings in sich, dass es vor dem religiösen Revival wirklich säkulare Gesellschaften gegeben habe. Susanne Schröter bezweifelt das. Sie weist auf vielfältige Verflechtungen hin, die Kirsche und Staat auch weiterhin sogar in Staat wie Deutschland und Frankreich haben. Zwei Befunde seien aber sicher.
"Der eine ist der, dass wir unserer eigenen Ideologie aufgesessen sind. Dass unsere Gesellschaften als westliche Gesellschaften gar nicht so säkular sind wie wir gerne geglaubt hätten oder immer noch anderen glauben machen wollen. Also, dass das so nicht stimmt, in dieser radikalen Zuspitzung. Und auf der anderen Seite muss man sagen, ganz klar, Religion spielt eine zunehmende Rolle in den meisten Teilen der Welt."