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Rücktritt von Boris Jelzin

Lange: Guten Morgen, Herr Steiner.

    Steiner: Guten Morgen, Herr Lange.

    Lange: Herr Steiner, hatten Sie Hinweise auf einen bevorstehenden Rücktritt von Boris Jelzin?

    Steiner: Nein, das hatten wir nicht. Wir sind auch überrascht worden. Aber ohne Zweifel war dieser Schritt ein wohlüberlegter Schritt, der genau in die Planung von Boris Jelzin passte und sozusagen einen Endpunkt darauf setzte, dass er sich ja im Grunde genommen bis zum Schluss treu geblieben ist, nämlich Rußland aus der sowjetischen Vergangenheit zu führen zu etwas Neuem auf den Weg zur Demokratie, und ich glaube, das war auch Sinn dieser letzten Entscheidung in seinem Amt.

    Lange: Aber so ein Szenario, dass Jelzin den Wahlerfolg der Kreml-Partei nutzen könnte, um die Präsidentennachfolge in seinem Sinne zu regeln, das war ja nicht völlig utopisch.

    Steiner: Nein, das war es nicht. Es gab auch Hinweise darauf, dass Jelzin vorzeitig zurücktreten könnte. Eine ganze Reihe von gewichtigen Politikern haben uns auf diese Möglichkeit hingewiesen. Das es dann letztlich so kam und auch so rasch kam und zu diesem Zeitpunkt kam, hat uns - ganz ehrlich gesagt - alle doch überrascht.

    Lange: Die deutsch-russischen Beziehungen waren ja lange Zeit geprägt durch die persönliche Freundschaft zwischen dem früheren Bundeskanzler Helmut Kohl und Boris Jelzin. Nun ist der deutsche Partner schon seit über einem Jahr ein anderer. Was hat sich seither in den deutsch-russischen Beziehungen geändert?

    Steiner: Also ich glaube, die persönlichen Beziehungen sind nach wie vor wichtig, und ich hoffe eigentlich auch darauf, dass der Bundeskanzler, der ja auch Putin noch am 31.12.1999 eine persönliche Grußbotschaft geschickt hat und es dort auch zum Ausdruck gebracht hat, dass auf eine gute und persönliche Zusammenarbeit gebaut werden kann. Aber darüber hinaus ist natürlich die persönliche Beziehung nicht alles. Es kommt auf breite gesellschaftliche Beziehungen an. Das hat die neue Bundesregierung seit ihrem Amtsantritt auch so gehalten, mit guten Gründen, wie sich jetzt herausstellt.

    Lange: Sie haben es selbst gerade angedeutet. Diese deutsche Russlandpolitik hat ja immer ein bisschen darunter gelitten, dass sie - zumindest, was die öffentliche Wahrnehmung anging - auf einzelne Politiker wie Gorbatschow und Jelzin fixiert war. Ist die jetzige Russlandpolitik tatsächlich schon breiter fundiert?

    Steiner: Ja, sie ist es. Wir dürfen dabei auch nicht nur an die Beziehungen der Regierungen denken. Wichtig sind natürlich auch die intensiven Beziehungen in der Wirtschaft, die kulturellen Beziehungen, aber auch die sozialen Beziehungen und die wissenschaftlichen Beziehungen. Was die politischen Beziehungen angeht, müssen wir eben sehen, dass Rußland eine sehr heterogene Landschaft - auch eine heterogene Parteienlandschaft - ist . Und es ist wichtig, sich hier nicht nur auf Beziehungen an der Spitze zu konzentrieren. Man muss in der Tat auch Beziehungen zu den anderen Parteien halten. Hier gibt es ja durchaus demokratisch eindrucksvolle Führungspersönlichkeiten.

    Lange: Was kann Wladimir Putin zu Wege bringen, was Boris Jelzin nicht geschafft hat?

    Steiner: Also, so ein Wechsel hat ja auch immer die Chance eines Neuanfangs und so eine Situation erleichtert es auch. Und ich glaube, Putin ist sich sehr wohl bewusst, dass er nun drängende Probleme angehen muss in diesem Jahr. Das sind einmal die internen Probleme, nämlich die Rechtsstaatlichkeit weiter zu verankern, Rechtssicherheit für Investoren zu geben, aber auch die Haushaltssanierung, die vom IWF gefordert ist, aber dann ganz insbesondere auch das dränge außenpolitische Problem, nämlich des Tschetschenien-Konfikts. Rußland ist hier auf dem Weg in eine Sackgasse. Dieses Problem kann nicht militärisch bewältigt werden. Das haben wir ja auch immer sehr deutlich zum Ausdruck gebracht und deswegen ist es im Interesse Russlands selbst. Wir sagen das auch aus Freundschaft zu Rußland im Interesse Russlands selbst, diesen Krieg so rasch wie möglich zu beenden.

    Lange: Aber wenn die Bundesregierung die Frage der Menschenrechte zur entscheidenden Meßlatte ihrer Ostpolitik macht, dann darf das, was in Tschetschenien passiert doch nicht ohne Konsequenzen bleiben. Für einen Putin gibt es doch noch weniger Entschuldigungen als für einen kranken Jelzin, der vielleicht nicht ganz auf der Höhe war.

    Steiner: Ich glaube, es gibt für Politiken, die auf falsche Methoden setzen, nie Entschuldigungen. Es geht auch nicht darum, jetzt Entschuldigungen zu finden. Ich glaube, Sie können der Bundesregierung nicht vorwerfen, dass sie etwa weniger deutlich als andere Regierungen die Dinge beim Namen genannt hat. Der Bundeskanzler war sehr klar und sehr unmissverständlich in der Bewertung des Vorgehens in Tschetschenien und wird es auch weiterhin sein. Und so lange dieser Konflikt anhält, fällt natürlich ein Schatten auf die ansonsten sehr elementaren Beziehungen zwischen Deutschland, zwischen der europäischen Union und Rußland.

    Lange: Haben sich denn mit dem Amtswechsel in Moskau die Chancen für eine politische Lösung verbessert?

    Steiner: Wie bereits gesagt, ist mit einem Amtswechsel, mit einer solchen neuen Situation immer die Chance auch eines Kurswechsels verbunden, und wir hoffen sehr darauf, dass Putin diese Chance ergreift. Andernfalls wird es immer schwieriger werden, dieses Problem zu lösen, denn es reicht ja nicht, einen militärischen Sieg zu erreichen. Man muss ja auch immer fragen ‚was dann, was danach'. Und das Problem lässt sich eben nicht militärisch lösen. Und wir hoffen doch darauf, dass die Führung in Rußland - gerade nachdem der Wahlkampf nun zu Ende gegangen ist - hier mit kühler Überlegtheit und auch orientiert an den gemeinsamen Wertvorstellungen hier zu einer Lösung findet.

    Lange: Dabei steht ein neuer Wahlkampf ins Haus. Sind die Präsidentschaftswahlen aus Ihrer Sicht schon gelaufen?

    Steiner: Nein, die sind noch nicht gelaufen. Man muss sich hüten, bei längerfristigen Angelegenheiten deren Ergebnis schon vorwegzunehmen, aber es ist ohne Zweifel so, dass Putin sehr gute Chancen hat dieses Rennen zu machen.

    Lange: Herr Steiner, zu Weilen hatte man den Eindruck, dass sich Boris Jelzin bei politischen Entscheidungen auch von Gefühlen mitreißen ließ. Wird die russische Politik unter Putin nüchterner?

    Steiner: Das hängt doch immer sehr von der psychologischen Situation der einzelnen Persönlichkeit ab. Sicherlich macht Putin den Eindruck eines sehr genau überlegenden, rational entscheidenden Führers. Und man wird damit rechnen können, dass auch dieses rationale Kalkül dem weiteren Verhalten zu Grunde gelegt werden wird.

    Lange: Michael Steiner war das, Leiter der Abteilung für auswärtige Beziehungen im Kanzleramt. Ich danke Ihnen sehr herzlich für das Gespräch und auf Wiederhören.

    Steiner: Ich danke Ihnen.