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Rüdiger Barth und Hauke Friederichs
"Die Totengräber. Der letzte Winter der Weimarer Republik"

Adolf Hitlers Ernennung zum Reichskanzler war das offizielle Ende der Weimarer Republik. Wie haben die Menschen den Systemwechsel erlebt? Rüdiger Barths und Hauke Friederichs Buch ist eine Erzählung entlang von Zeitdokumenten.

Von Niels Beintker |
    Hintergrund: Für einen NS-Film nachgestellte Szene des Fackelzugs der SA durch das Brandenburger Tor, mit dem die Nationalsozialisten am 30.01.1933 die Machtübernahme feierten (Archivbild vom Sommer 1933). Vordergrund: Buchcover.
    Die beiden Journalisten Rüdiger Barth und Hauke Friederichs schildern die letzten zweieinhalb Monate der Weimarer Republik. (dpa / picture alliance & S.Fischer Verlag)
    Der amerikanische Schriftsteller Christopher Isherwood sollte sich irren. In Berlin habe man eine neue Regierung, schrieb er Ende Januar 1933 an seinen Freund Stephen Spender, "mit Charlie Chaplin und dem Weihnachtsmann im Kabinett". Und der, der die neue Regierung führe, werde sich als Windbeutel erweisen. Isherwood vermutete, dass der neue Reichskanzler die Probleme der maroden Wirtschaft nicht lösen könne. Die wirkliche Tragweite der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler blieb ihm verborgen, wie vielen anderen zeitgenössischen Beobachtern auch, deren Stimmen Rüdiger Barth und Hauke Friederichs in ihrem Buch über das Ende der Weimarer Republik versammeln. Der Aufbau der nationalsozialistischen Diktatur vollzog sich bekanntlich in einem längeren Zeitraum. Der 30. Januar 1933 war allerdings der erste entscheidende Schritt.
    Ein Szenenmosaik aus zeitgenössischen Quellen
    "Es ist schon spät, als Adolf Hitler mit Parteigenossen durch die verschneiten Gärten der Ministerien in der Wilhelmstraße wandert. Gleich werden sie zum Kaiserhof hinübergehen und ins ersehnte Bett fallen. Der neue Kanzler des Deutschen Reiches gönnt sich etwas Ruhe."
    Geschichte und Geschwätzigkeit. Manche Szene im Buch von Rüdiger Barth und Hauke Friederichs klingt unfreiwillig komisch, so auch diese letzte Passage, ganz am Schluss. Das ist eine Folge der besonderen, gewollt dichten Erzählweise. Die beiden Journalisten schildern die letzten zweieinhalb Monate der Weimarer Republik - die Zeit einer tiefen Staatskrise - nach dem Muster einer der neuen und äußerst beliebten Serien. Nach eigener Auskunft wurden sie von "House of Cards" zu dieser Geschichts-Anordnung inspiriert. Das Buch "Die Totengräber" wurde dementsprechend mit einer Vielzahl von Szenen arrangiert, manche von ihnen größer, viele kleiner. Eine Geschichte in vielen Schnitten und Gegenschnitten. Auf diese Weise vermittelt sich allerdings der Eindruck einer großen Dynamik. Und damit auch eine Erfahrung der Zeit. Im Kapitel über den 26. Januar 1933 etwa - in einer Phase, in der Kurt von Schleicher mit dem Plan einer quasidiktatorischen Regierung versuchte, an seiner Kanzlerschaft festzuhalten - heißt es:
    "Ein Wirbel aus Gesprächen, Sondierungen, Täuschungsmanövern. Ein Fieber hat die Wilhelmstraße erfasst. Mittendrin Schleicher. Er trifft sich mit Gewerkschaftsführern, die der SPD nahestehen, versucht, sie noch einmal für seinen Kurs der Verschiebung von Neuwahlen zu gewinnen. Vergeblich. Die Gewerkschaften distanzieren sich. Und nun positionieren sich die Sozialdemokraten in aller Deutlichkeit. Otto Braun, der geschasste Ministerpräsident Preußens, schreibt einen Brief an Schleicher mit der Abschrift an den Reichspräsidenten und nennt dessen Pläne darin 'Aufforderung zum Hochverrat'."
    Der Machtwechsel als "Erzählte Geschichte"
    Das Buch von Rüdiger Barth und Hauke Friederichs steht mit seiner Konstruktion in der Tradition einer 'erzählenden Geschichte'. In Deutschland erfreut sich diese Form der Auseinandersetzung mit historischen Stoffen wachsender Beliebtheit, man denke an ähnliche, wenn auch nicht vergleichbare Buchprojekte von Florian Ilies, Daniel Schönpflug oder Philipp Blom. Barth und Friederichs schreiben vor allem gestützt auf einen Fundus von zeitgenössischen Quellen wie Zeitungsberichten, Tagebüchern und Briefen. Unter anderem das bedeutende, nun endlich umfassend neu editierte und kommentierte Tagebuch von Harry Graf Kessler dient wiederholt als Bezugspunkt - zu Recht, es ist eine großartige Quelle. In den ersten Kapiteln über den Sturz Franz von Papens im November 1932 ist bei Kessler von einem Tag der Freude die Rede. Darstellung und Quellentext verschmelzen - wie so oft - miteinander.
    "Dieser ewig lächelnde, leichtsinnige Dilettant hat in einem halben Jahr mehr Unheil angerichtet als irgendein Kanzler vor ihm. Am schlimmsten ist vielleicht, dass er den Weltkriegshelden Hindenburg bloßgestellt hat. Vor ein paar Monaten hat Kessler geschrieben, Papen sehe aus 'wie ein verbiesterter Ziegenbock, der 'Haltung' anzunehmen versucht, dazu im seidengefütterten schwarzen Sonntagsrock. Eine Figur aus 'Alice im Wunderland'."
    Glücklicherweise beschränken sich Barth und Friederichs in ihrer seriellen Erzählung nicht allein auf die Stimmen und Dokumente derer, an die man - zumal mit Blick auf die letzten Wochen und Monate vor der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler - ohnehin denkt. Auch heute weniger bekannte Beobachter der Zeit kommen zu Wort, darunter die Berliner Journalistin Bella Fromm, ihre amerikanische Kollegin Dorothy Thompson - Autorin des Buches "I saw Hitler" -, die Lyrikerin Mascha Kaléko, ebenso die Botschafter aus den USA und Frankreich. Unter anderem am Beispiel des Tagebuches von Abraham Plotkin, eines amerikanischen Gewerkschaftsfunktionärs, wird die zutiefst prekäre soziale Situation in Deutschland anschaulich. Im Zuge der Weltwirtschaftskrise hatte Plotkin seine Arbeit verloren. Begeistert von Alfred Döblins "Berlin Alexanderplatz" fuhr er nach Berlin, um die im Roman geschilderten Lebenswelten selbst in Augenschein zu nehmen.
    "Er begegnet einer jungen Frau, die Bonbons verkauft. Sie kann nicht älter als fünfundzwanzig sein, sie ist blond und hager, ihr Gesicht verkniffen, und für die Jahreszeit sind ihre Kleider viel zu dünn. Plotkin geht weiter, kann aber ihr Gesicht nicht vergessen. Er hat den Ausdruck schrecklichen Hungers in diesem Gesicht gesehen. Jäh dreht er sich um, geht zu ihr zurück und kauft für zehn Pfennige Bonbons."
    Der Leser muss selbst Schlüsse ziehen
    Der Preis einer derart vielstimmigen und dem unmittelbaren Erleben der Zeit folgenden Erzählweise liegt in einer fehlenden analytischen Tiefenschärfe. Rüdiger Barth und Hauke Friederichs entwickeln in ihrer Darstellung keine leitenden Thesen. Diese Aufgabe geben sie an ihre Leser weiter, die auf 400 Seiten Beobachter einer kurzen, ungeheuer dramatischen und folgenschweren Epoche werden. Dass es in den Wochen und Monaten, die schließlich zur Bildung der Regierung Hitler/Papen führten, immer wieder politische Handlungsspielräume gab, ist keine neue Erkenntnis. Es hätten auch andere Entscheidungen getroffen werden können. In der erzählerischen Darstellung des Buches "Die Totengräber" wird das einmal mehr deutlich.
    Rüdiger Barth und Hauke Friederichs: "Die Totengräber. Der letzte Winter der Weimarer Republik",
    S. Fischer Verlag, 411 Seiten, 24 Euro.

    Anmerkung der Redaktion: Der Name eines der Autoren, Hauke Friederichs, war in der ursprünglichen Version falsch geschrieben. Wir haben dies korrigiert, die Audio-Fassung jedoch beibehalten.