Gisa Funck: Lieber Herr Safranski, Ihre Biografie beginnt mit der Feststellung, dass man den immer noch etwas rätselhaften Dichter Hölderlin eigentlich nur verstehen könne, wenn man sich auf seinen Begriff des "göttlichen Feuers" einlassen würde. Können Sie diesen Begriff etwas näher umreißen? Was ist mit diesem "göttlichen Feuer" bei Hölderlin gemeint?
Rüdiger Safranski: Naja, das ist eine metaphorische Ausdrucksweise von Hölderlin. Und er meint natürlich schon … na, wir würden sagen "Begeisterung". Eine Begeisterung für das Erhabene, auch das Heilige, das Göttliche. Auf jeden Fall ist damit schon angedeutet, dass Hölderlin-Verstehen doch auch heißt, nicht ganz unempfindlich gegenüber dem Religiösen zu sein.
Funck: Friedrich Hölderlin wurde 1770 im schwäbischen Lauffen als Sohn einer Pfarrerstochter geboren – und er sollte nach dem Willen dieser Mutter ja eigentlich auch protestantischer Pfarrer werden. Und deswegen hat er dann die evangelische Elite-Ausbildung durchlaufen, so will ich’s mal nennen. Also, die Klosterschulen Denkendorf, Maulbronn, dann Studium im Tübinger Stift. Trotzdem geriet er ja schon früh und dann immer stärker in einen inneren Konflikt mit dem christlich-protestantischen Glauben – und er konnte sich auch schon bald gar nicht mehr vorstellen, Pfarrer zu werden. Woran lag das?
"Fühlte sich schon als Kind von Göttern beschützt"
Safranski: Da muss man sich schon auch klarmachen, in welcher Gestalt ihm die christliche Religion da unten in Württemberg in dieser Zeit, in diesem kirchlichen Milieu entgegentrat. Das war eine Religiosität, wo die Religion doch sehr stark auf die Moral reduziert ist. Und dann eben auch diese Dogmen, die im Protestantismus leben. Er war in Sachen Religion viel stärker von Gefühlskomponenten bestimmt. Wenn man ihm glauben kann, und wir können ihm ja hoffentlich glauben, dann hat er schon in der Kindheit eher so einen, man könnte sagen, ein naturreligiöses Grundgefühl gehabt. Dass also an einem schönen Nachmittag und einem blauen Himmel und unter Bäumen, dass ein solches Gefühl von Geborgenheit und Beseeligung bei ihm da ist, dass er eigentlich das Gefühl hat, er ist von Göttern beschützt – oder er ist mit ihnen in Gemeinschaft. Das ist nicht dieser strenge, moralische Christengott. Das ist eher eine Göttlichkeit, die mit den glücklichen Natureindrücken zu tun hat.
Funck: Sie sprechen jetzt auch schon von "Göttern" bei Hölderlin, und ich glaube, das ist ja auch ein wichtiger Faktor. Also, er begeistert sich ja dann auch sehr stark und relativ früh schon für die altgriechische Antike und die Mythen dort. Und ich glaube, diese Götter, diese altgriechischen Götter, die waren ihm eigentlich viel näher als der christliche Gott, oder?
"Die antiken Götter waren ihm näher als der Christengott"
Safranski: Ja, die waren ihm näher. Nur muss man natürlich auch dazu sagen, wir müssen uns oder dürfen uns Hölderlin nicht als einen sehr naiven Menschen vorstellen, der jetzt auf einmal statt an einen christlichen Gott an die griechischen Götter glaubt, ja? Das waren dann doch auch für ihn eher Bilder und Metaphern für ein außerordentlich intensives Gefühl in Bezug auf einerseits Natur, aber auch in Bezug auf, ich will es mal so sagen, gelingende und intensive Augenblicke des Lebens. Hölderlin konnte zum Beispiel sagen, wenn zwei Freunde zusammen sind und wenn es da einen wirklichen Seelenaustausch gibt, dann sagt er einmal in einem Brief: "Da wohnt ein Gott drin!", in dieser Beziehung. Das heißt: Für Hölderlin ist das Göttliche ein Ausdruck für das gesteigerte, intensive Leben, in der Freundschaft, in der Liebe. Auch in der Trauer, auch im Schrecken, im Gewitter. In all diesen besonderen Momenten. Und deswegen war ihm diese griechische Vorstellung, so wie er sich das zurechtgelegt hat, sehr nahe, dass gewissermaßen dafür ein bestimmtes Götterbild zuständig ist, ja? Also, für Aphrodite für die Liebe, und Apoll für die Schönheit …
… und Dionysos für den Exzess?!
Ja, genau. Für die Liebe, aber auch von der sinnlichen Seite, die Exstase. Das sind dann diese Götter, die eigentlich das Bild von gesteigerter Lebenserfahrung und Lebensempfinden sind.
Funck: Man kann sich vorstellen, dass diese Vorstellungen ihres Sohnes seiner Mutter nicht so gut gefallen haben. Ich glaube, sie war sehr strenggläubig, sehr pietistsch ...?
Safranski: Ja, das ist, wenn Sie so wollen, auch das Lebensdrama von Hölderlin. Die Mutter, sie hat doch auch sehr streng darauf geachtet, dass er den von ihr geplanten Lebensgang, dass er den einschlägt. Und der Hölderlin, das wollte er nicht. Weil diese Art von protestantischer Frömmigkeit, das war nicht sein Art, religiös zu sein. Und so kann man sagen, war Hölderlin sein ganzes Leben lang auf der Flucht davor, in so eine Pfarrstelle hineingedrückt zu werden. Und deswegen hat er diese Hauslehrerstellen angetreten; "Hofmeister" nannte man das damals. Also, das ist eine Achse seines Lebens: Die Flucht vor dem Pfarrberuf und stattdessen: Er wollte Dichter sein. Dichter in diesem doch sehr pathetischen Sinne auch. Ich nenne ihn auch "Priester-Dichter" in meinem Buch. Er wollte ein Priester der Poesie sein.
"Immer auf der Flucht vor dem Pfarrberuf"
Funck: Er wollte ein Priester der Poesie sein. Sie schreiben ja auch im Vorwort, sein Leben wäre "sicherlich anders verlaufen", wahrscheinlich weniger tragisch, wenn er es geschafft hätte, sich von seiner Mutter mehr loszusagen und auch von ihren Ansprüchen ... ?
Safranski: Ja, und man muss sagen: Was Hölderlin leider nicht geschafft hat, ist eine Offenheit gegenüber seiner Mutter herzustellen. Er hat auch in religiösen Dingen immer so ein bisschen drum herum geredet und hat versucht, ihr das irgendwie mundgerecht zu machen, ja? Aber auch in anderen Dingen. Er hat ihr auch nie gestanden, seine große Liebe zu Susette Gontard und das alles. Offenheit war in Bezug auf die Mutter nicht. Und so ist es auch nicht zufällig, dass – wenn Hölderlin dann später zusammenbricht und im Tübinger Turm sitzt und nach Hause schreibt an die Mutter – unglaublich förmliche, inhaltslose Briefe da entstehen!
Funck: Ich meine, er hatte unheimlich einflussreiche Freunde während seines Studiums im Tübinger Stift. Da lernt er Hegel und Schelling kennen, die späteren Philosophen des Deutschen Idealismus. Er beschäftigte sich dann ja auch selbst erst mal als junger Mann mit Kant, mit Fichte, also mit Philosophie.
- Ja.
Aber dann widmet er sich irgendwann doch ausschließlich der Poesie. Und ich habe das so verstanden, dass er eigentlich in der Poesie das geeignetere Mittel zur Erkenntnis entdeckt und nicht in der Philosophie. Kann man das so sagen?
Freundschaft mit Schelling und Hegel
Safranski: Ja, das kann man so sagen. Ich spitze es auch zu. Ich sage, er musste sich von einem bestimmten Punkt an, von der Philosophie und von dem philosophischen Denken befreien, um frei zu werden für die Poesie. Man muss sich ja klarmachen: Hölderlin in der Freundschaft mit Hegel und Schelling – der ist ja im Grunde mitten drinnen in dieser Genie-Zeit der Philosophie in Deutschland! Das war ja ein bespielloser Aufbruch. Er war mit dabei bei der Erfindung des Deutschen Idealismus kann man sagen, ja?! Also, Hölderlin ist sowohl in der Außenwahrnehmung als auch für sich selbst ganz in der Philosophie drin. Aber damals diese philosophischen Entwürfe dieser jungen Leute, die zielten im Grunde genommen darauf ab, den ehemaligen Gottesbezug in den traditionellen Religionen umzuformen und in der Selbstentdeckung des Geistes, in sich selbst sozusagen, das Göttliche zu entdecken und als etwas, was man mit seiner Einbildungskraft und seinem Denken hervorbringen kann. Das war ja der ungeheure Anspruch des Idealismus! Den Gott zu denken – und den braucht man dann nicht mehr offenbart zu bekommen. Und das war das selbstbewusste Projekt dieser jungen Leute. Die im übrigen das Gefühl hatten, man geht einer Zeit, wie wir heute sagen würden, der Säkularisierung, der Verweltlichung entgegen. Aber eine Gesellschaft, aber auch jeder Einzelne braucht einen Bezug zur Transzendenz. Sonst gibt es ganz große Probleme, und zwar Probleme der Sinnlosigkeit, der Beziehungslosigkeit ...
... und der Leere, ja.
Und der Leere, ja! Nur waren diese Idealisten der ersten Stunde, waren davon überzeugt, dass diese Transzendenz auf dem Wege des Denkens herzustellen ist. Und davon war Hölderlin am Anfang auch überzeugt, bis es ihm dann richtig klar wurde: Das eigentliche Organ, um das Religiöse in einer lebendigen Weise wieder zu fassen, ist die Poesie. Und die Poesie ist gewissermaßen ein Organ dafür. Für alles das, was über das Gewöhnliche, über die Rationalität hinausgeht.
Funck: Nun hat Hölderlin Hymnen gedichtet, er hat Elegien gedichtet. Er ist ja als Dichter ein Dichter des hohen Tons. Man kann auch sagen: Er scheut das Pathos nicht. Und ich glaube, das evoziert ein bisschen dieses zwiespältige Verhältnis, das viele heute zu Hölderlin haben. Weil man sagt: "Nun ja, das ist sehr pathetisch, es ja manchmal auch sehr national-pathetisch. Also, ich denke an dieses Gedicht "Tod für das Vaterland"...
- Ja.
Können Sie verstehen, dass man das aus heutiger Sicht, dass man solche Gedichte, wo ja dann der Opfertod des Soldaten beschworen wird, dass man das heute auch ideologisch heikel sieht?
Auch Goethe ging Hölderlins Pathos "auf die Nerven"
Safranski: Ja, ich kann natürlich schon verstehen, dass man heute Schwierigkeiten damit hat. Und übrigens: Schon damals! Nicht erst heute, schon damals! Dieser hohe Ton von Hölderlin, einerseits fasziniert der, damals auch schon. Auf der anderen Seite hatte der auch etwas, wo man dachte: "Na, geht’s nicht auch ne Nummer kleiner!" Und übrigens dachte auch Goethe so über Hölderlin. Dem Goethe (lachend) ging der hohe Ton von Hölderlin auch manchmal wirklich auf die Nerven! Und das muss man sich auch eingestehen. Umso mehr wird man dann auch wirklich frei, davon überrascht zu werden, wenn es bei Hölderlin wirklich Passagen gibt, wo man bei diesem hohen Ton und bei diesem hohen Flug auch der Bilder und der Gedanken auf einmal mitgenommen wird. Und ich denke dann: Es doch gut, dass es auch so etwas gibt! Diese Art von hoher Ton ist, wenn er nicht der ausschließliche ist, ist eine unglaubliche Bereicherung. Aber man muss eben auch sagen: Hölderlin ist wirklich auch ein vollkommen Ironie-freier Autor. Er ist ernst. Und das ist natürlich immer nur eine Weile lang schön.
Funck: Lassen Sie uns beim Thema Ernst noch einmal kurz auf sein Leben zurückkommen, weil das ist ja auch ernst und tragisch genug. Sie haben schon angesprochen: Er konnte nicht als Pfarrer arbeiten, musste aber ja Geld verdienen, und er hat dann diverse Hofmeisterstellen angetreten. Das waren so Hauslehrerstellen, wo er also die Kinder von reichen Leuten unterrichtet hat. Was aber vor allem entscheidend ist: Bei einer dieser Familien, beim Bankier Gontard, da lernt er Susette kennen, seine große Lebensliebe, verliebt sich leidenschaftlich in diese Frau, Mutter dreier Kinder. Sie liebt ihn auch zurück. Und trotzdem endet diese große Liebe dann mit Trennung, schließlich mit dem Tod von Susette 1802. Ich habe mich gefragt: Warum haben diese beiden Liebenden eigentlich nie erwogen oder auch versucht, ihre Liebe wirklich zu leben? Also wirklich anzustreben, dann auch gemeinsam durchs Leben zu gehen?
Safranski: Na ja, das ist abgründig, ja. Die Susette lässt manch’ einmal so aufblitzen, dass sie – ja, dass man doch zumindest mal darüber nachdenken könnte, ob man nicht zusammenbleiben könnte, aber das wird sofort wieder verworfen. Das ist auch nur so ein Anklang. Dahinter steht in meinem Verständnis, dass es zum einen wirklich für die damalige Zeit absolut undenkbar war, dass so eine Frau, die da in einem Bankiershaus Mutter von drei Kindern ist, dass die auf einmal dann mit einem Liebhaber durchgeht. Das wäre so unnormal für dieses Milieu gewesen, dass der Gedanke eigentlich nicht aufkam. Bei Hölderlin würde ich noch ‘ne andere Überlegung damit verknüpfen ...
... Er flieht vor ihr?!
Ja, der Hölderlin liebte an der Liebe das Verliebt-Sein. Es ist glaube ich so, dass ihm diese Möglichkeit, diese Beziehung in eine bürgerliche Normalform zu übersetzen, dass die ihm gegenüber seinem Idealbild von der Liebe vollkommen undenkbar erschien. Insofern war er zwar traurig, als das alles zu Ende ist, aber es stimmte dann doch auch wieder für ihn.
"Er war verliebt in die Verliebtheit"
Funck: Er gerät dann immer mehr in eine prekäre Finanzlage. Und er hat ja eigentlich sehr hochrangige Gönner. Also, er kennt Schiller gut, er kennt Goethe. Trotzdem, obwohl er ja auch mehrere Versuche unternimmt, sich als Schriftsteller zu etablieren, alles scheitert letztlich. Warum eigentlich? Es fängt alles grandios an. Schiller unterstützt ihn, er kriegt viel Lob, viel Anerkennung. Seine Gedichte werden veröffentlicht. Also: Warum scheitert diese Literaturkarriere von Friedrich Hölderlin?
Safranski: Weil seine Ansprüche an Literatur eben mehr waren als bloß Literatur. Es ist sehr interessant. Der Hölderlin versuchte ja auch einmal, eine Zeitschrift zu begründen. Er schreibt ja auch einen Roman ...
–.... "Hyperion".
"Hyperion", ja. Er will eigentlich auch einen Versuch machen, ein ganz normaler Schriftsteller zu sein. Also auch mit dem Blick darauf, auch vielleicht davon endlich leben zu können. Aber da kommt ihm in die Quere, dass er noch viel höhere Ansprüche an die Literatur hat als bloß Literatur. Nämlich: Dichtung. Und nämlich, näher hin, ist das sogar eine religiöse Dimension für ihn. Darüber haben wir gesprochen. Und deswegen bewegt er sich da nicht so virtuos in diesem Literaten-Milieu, obwohl der Schiller ihm ja auch hilft. Aber deswegen hat er da gewissermaßen so eine Unbeholfenheit. Weil er da nicht genügend geerdet ist.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Rüdiger Safranski: "Hölderlin. Komm! ins Offene, Freund!". Biographie
Carl Hanser Verlag, München. 336 Seiten, 28 Euro.
Carl Hanser Verlag, München. 336 Seiten, 28 Euro.