Maja Ellmenreich: Der Schauspieler Alexander Moissi, Harald Juhnke, Alexander von Humboldt, der Fälscher Konstantin Simonides und zu guter Letzt Karl May. So unterschiedlich diese Persönlichkeiten und besagte Spuren auch gewesen sind, so haben die fünf doch eins gemein: Der Kulturjournalist Rüdiger Schaper, Leiter das Feuilletons des "Tagesspiegel", hat jedem von ihnen eine Biografie gewidmet. Was muss eine Persönlichkeit mitbringen, damit Ihr Interesse als Biograf geweckt ist? Wann beißen Sie an?
Rüdiger Schaper: Das begann mit Harald Juhnke damals, und das ist unterschiedlich, anders als die anderen Persönlichkeiten, die Sie erwähnen. Er hat mich damals einfach gefragt, als Juhnkes Karriere wohl schon über den Zenit war oder gerade mal so darauf, ob ich denn ein Buch machen möchte. Das war mein erstes, und da habe ich wahrscheinlich gemerkt, wie faszinierend es ist, sich mit dem Leben eines anderen Menschen zu beschäftigen.
"Man steht ja mitten in der eigenen Zeit"
Ellmenreich: Ist das bei jemandem wie Harald Juhnke, dem einzigen, dem Sie selbst die Hand gegeben haben, ist es da leichter gewesen, irgendwie greifbarer, über ihn zu schreiben als über jemanden, den man nie persönlich getroffen haben kann?
Schaper: Ich glaube, es ist schwerer, wenn man einen Menschen erlebt hat, und ich habe den Juhnke damals ja häufiger erlebt bei unterschiedlichen Gelegenheiten, das ist schwerer. Man hat eine andere Art von Hemmung, eine andere Art von Kontakt. Man steht ja mitten in der eigenen Zeit, und es ist, ich sage mal, scheinbar einfacher, sich mit einer Zeit zu beschäftigen, einer Persönlichkeit, einem Menschen, die schon lange zurückliegen.
Vermessenheit gehört dazu
Ellmenreich: Was wollen Sie? Wollen Sie sich erinnern, beziehungsweise wollen Sie überhaupt erinnern, also dem Vergessen entreißen, oder wollen Sie womöglich vielmehr jemanden näher kennenlernen? Was ist Ihr Antrieb?
Schaper: Das gehört dazu, was Sie beschreiben. Bei Karl May war es aber, muss ich sagen, eine Anfrage von meinem Verlag. Da traf das zusammen mit einer Kindheitsfaszination, aus der Jugendzeit. Karl May habe ich gelesen, die Filme haben mich total begeistert damals. Und als ich begann, mich ein bisschen damit zu beschäftigen, habe ich gedacht, man kann diesen Menschen Karl May anders einschätzen, man kann ihn neu betrachten.
Das ist, glaube ich, der wichtigste Antrieb, jedenfalls für mich, wenn man biografisch arbeitet, etwas, was bekannt ist oder scheinbar bekannt ist, jemanden einfach noch mal neu zu bewerten und natürlich auch auf neue Erkenntnisse zu hoffen und neue Forschungsergebnisse. Ich glaube, jede Zeit braucht auch bei Persönlichkeiten von einer gewissen Bedeutung und Größe eine neue Bewertung.
"Karl May hat gelitten unter seinem Erfolg"
Ellmenreich: Wie kommen Sie aber auf so eine neue Bewertung? Denn Sie können sich ja auch in so einem Fall wie Karl May immer nur Erinnerungen aus zweiter Hand eigentlich bedienen. Also, die Erinnerungen, auf die Sie zurückgreifen, sind ja schon in der Welt.
Schaper: Das ist richtig. Aber man staunt immer, wie wenig diese Dinge letztlich dann doch in der Welt sind. Bei Karl May ist mir dann sehr schnell aufgefallen, wie er gelitten hat unter seinem Erfolg, und nicht so ganz ernst genommen wurde als Schriftsteller. Das war ein Kampf seines Lebens, als ernsthafter Schriftsteller gesehen zu werden und nicht als Abenteuer-, Jugendschriftsteller irgendwo in einer Schublade zu landen.
Ähnlich war es bei Juhnke. Er wollte immer die großen Rollen spielen, er wollte Shakespeare machen, wollte Molière machen. Einiges davon ist ihm noch gelungen in späten Jahren, anderes nicht. Natürlich sind diese Leute immer selbst beteiligt daran, was sie werden und wie sie geworden sind und gesehen worden sind. Aber das neu zu bewerten, wie ist das eigentlich, was ist eigentlich ein Schriftsteller?
Was macht den Unterschied aus zwischen der sogenannten kanonischen Literatur und einem Bestsellerautor? Oder was macht den Unterschied aus zwischen einem Entertainer und einem Schauspieler, der am Burgtheater spielt? Ist da überarbeitet ein Unterschied? Diese Dinge haben mich sehr beschäftigt. Das hat schon auch viel mit dem zu tun, was ich sonst in der Zeitung mache.
Auf Spurensuche begeben
Ellmenreich: Lassen Sie sich denn unterwegs auch überraschen und schlagen vielleicht noch mal einen ganz anderen Bewertungsweg ein als am Anfang womöglich angenommen?
Schaper: Das ist, glaube ich, die Hoffnung, das ist nicht einfach das Ziel. Man kann es, wie gesagt, nur hoffen, dass man bei einer solchen Beschäftigung, Vorbereitung für ein Buch, eine Biografie, auf Dinge stößt, mit denen man nicht gerechnet hat. Alexander Moissi war wieder ein anderer Fall. Ich hatte irgendwie eine ganz kurze biografische Geschichte über ihn gelesen, ein Buch von Arnold Bronnen, das war eine Seite lang. Da dachte ich, interessant. Jetzt hole ich mir mal aus der Bibliothek ein paar Moissi-Biografien - es gab aber keine.
Ellmenreich: Moissi, der Schauspieler, muss man hinzufügen.
Schaper: Alexander Moissi, ein großer deutscher, österreichischer, albanischer, italienischer, also europäischer Schauspieler, 1935 gestorben, 1879 geboren in Triest. Der erste "Jedermann" übrigens - wir haben ja gerade Festspielsaison in Salzburg -, der allererste, bei Max Reinhardt 1920. Da war ich vollkommen verblüfft, das es eigentlich nichts gibt. Und die ganze Arbeit an dem Moissi-Buch bestand darin, überhaupt etwas zusammenzubringen, das weit verstreut lag. Überhaupt erst mal etwas zusammenzusetzen, das fand ich erstaunlich für einen Schauspieler, der immerhin noch bis ins erste Drittel des 20. Jahrhunderts gelebt hat.
"Myriaden von Sekundärliteratur"
Ellmenreich: Also bei Moissi haben Sie so gut wie gar nichts gefunden. Werfen wir mal einen Blick auf denjenigen, bei dem es an Material, an Biografien nicht mangelt. Ihr jüngstes Buch, dass Anfang des Jahres erschienen ist, das haben Sie Alexander von Humboldt gewidmet. "Der Preuße und die neuen Welten" heißt der Untertitel. Mal abgesehen von den Massen eigener Schriften gibt es eben jede Menge Humboldt-Biografien. Warum haben Sie jetzt gemeint, da noch eine hinzufügen zu müssen? Fehlte Ihnen da ein Aspekt, eine Perspektive, wollten Sie ihn wieder näher kennenlernen, oder welche womöglich vermessene Annahme war da vorhanden?
Schaper: Vermessenheit gehört, glaube ich, schon dazu, sich in so was hineinzustürzen. Vermessenheit - Naivität will ich nicht sagen. Sie haben vollkommen recht, bei Alexander von Humboldt ist es das andere Phänomen - Problem will ich gar nicht sagen. Sie stehen vor Myriaden von Sekundärliteratur, Sie werden erschlagen. Er hat eben auch sehr lange gelebt, er hat ungeheuer viel selbst publiziert, von dem einiges erst in den letzten Jahren in belastbaren Ausgaben überhaupt auf Deutsch erschienen ist. Also auch da gibt es ein Problem.
Das war ganz anders, als wir damals angefangen haben vor vier, fünf Jahren, darüber nachzudenken. Mir war aufgefallen damals, dass dieser Name Humboldt - es gibt ja auch noch einen Bruder, Wilhelm - ständig hier durch die Stadt getragen wird, Berlin, auch wegen des Humboldt-Forums - und überhaupt so auftauchte an verschiedenen Punkten. Und dann habe ich mich selbst mal überprüft. Ich wusste nicht so wahnsinnig viel über ihn, erschreckend wenig, muss ich heute sagen. Und ich habe das dann mit meinen Freunden und Kollegen gespielt, dieses Spiel: Sag doch mal etwas zu Alexander von Humboldt. Und das ist sehr merkwürdig, da wurde ich so misstrauisch, so ein bisschen wie bei Moissi.
Wir kennen den Namen, wir haben hier eine Humboldt-Universität, wir haben ein Humboldt-Forum, das wir bauen, alles Mögliche haben wir, aber wir wissen doch sehr wenig über diese Persönlichkeit. Und dann habe ich mich drauf eingelassen. Ich sage jetzt immer, das war so eine Art Zweitstudium oder Drittstudium oder Abendstudium - das ist ein großes Geschenk, so etwas noch mal zu dürfen und jemanden kennenzulernen, der übrigens, und das ist ein Punkt, den ich, glaube ich, anders mache als die biografische Literatur bisher, ein Mensch, der eben, ich sag mal so, als Mensch nicht richtig vorkommt. Humboldt hat selbst kräftig dafür gesorgt, dass er als Privatmann doch unbekannt, unantastbar bleibt. Er hat viele Dokumente zerstört, er hat sich fast unkenntlich gemacht. Und das war dann schon etwas, was mich sehr anlockte.
Eine Balance zwischen Nähe und Distanz schaffen
Ellmenreich: Humboldt hat Dokumente zerstört. Auf der anderen Seite hat Konstantin Simonides, der Fälscher, eine ganze Reihe von Dokumenten geschaffen und hat damit sozusagen seine Zeitgenossen an der Nase herumgeführt. Im Nachwort zu ihrer Konstantin-Simonides-Biografie schreiben Sie, Sie hätten ihm ein Gesicht und ein Leben geben wollen, das er selbst vor der Welt verborgen habe. Waren Sie da also in diesem Fall in einer gewissen Weise eigenschöpferisch tätig? Haben Sie noch ein bisschen Fiktion dazumischen müssen?
Schaper: Ja, ich glaube, inzwischen kann ich das sagen. Da sind einige kleine Brücken, die ich mir gebaut habe, allerdings anhand des Materials. Ich mache das auch in fast allen Fällen kenntlich – ich sage fast. Man hat mir diese Frage oft gestellt: Du hast doch hier einen halben Roman geschrieben, du hast doch irgendwie selbst erfunden, wenn nicht gefälscht. Und ich sag dann immer, ja, dann sagt mir bitte, wo. Und diese Stellen sind immer die falschen. Also, es ist relativ harmlos, was ich da zusammengefügt habe. Auch da war ein großes privates Forschungsinteresse von mir, und da war es ein bisschen schwieriger, weil das meiste Material eben in Griechenland liegt oder lag. Ich habe dann Übersetzer gebraucht und Hilfe dort. Aber das ist aufregend, das ist wirklich toll. Und da kommen eben Sachen zum Vorschein, mit denen man nicht so rechnet, gar nicht rechnen kann.
"Ein bisschen wie in einer guten Freundschaft"
Ellmenreich: Blicken wir noch mal auf Ihr Schreiben und Ihre Sprache. Die Lebenswege der fünf, über die Sie geschrieben haben, sind ja ganz unterschiedlich. Inwiefern prägt denn der Inhalt, die Person, auch die Zeit, in der diese Person gelebt hat, Ihr Schreiben, Ihre Sprache womöglich?
Schaper: Das ist eine schwierige Frage. Ich glaube, bei Harald Juhnke, aber auch bei Alexander Moissi, bei den Schauspielern, man hat mir das gesagt, ist der Stil manchmal etwas ich will nicht sagen atemlos, aber ich hab da schon vielleicht auch unbewusst versucht, das Getriebene, das Hektische auch in diesen Schauspielerleben, in diesen Tourneetheaterleben in der Sprache abzubilden. Da habe ich mich offenbar ein bisschen übernommen.
Diese wahnsinnigen Tourneepläne, die vor allen Dingen auch Alexander Moissi hatte, ein paar Mal rund um die Welt in nur wenigen Monaten und Jahren, und das ohne Flugzeuge - wichtig ist, glaube ich, auch, dass man zoomt, dass man nahe ran geht und sich dann auch wieder ich will nicht sagen verabschiedet von einer Figur, aber sie laufen lässt und sie dann wieder einzufangen versucht. Das klingt ein bisschen abstrakt, man macht das auch nicht immer bewusst, aber das ist so etwas, wie ich es mir denke und vorstelle, ein bisschen wie in einer guten Freundschaft oder sogar Liebesbeziehung, wo Distanz und Nähe ungeheuer gleich wichtig sind, meine ich. Und nicht die ganze Zeit kleben, und auch nicht die ganze Zeit abwesend sein.
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