Stefan Heinlein: Während die SPD im Wahlkampf spätestens seit gestern das Thema Rente ganz mit nach vorne auf die Agenda nimmt, sieht die Union derzeit keinen Handlungsbedarf. Alles im Lot, weitere Rentenreformen sind nicht notwendig - so bisher die lapidare Aussage der Kanzlerin. Diese Zuversicht könnte sich nun jedoch als wenig haltbar erweisen, denn heute präsentiert die Bertelsmann-Stiftung eine neue Studie zur Altersarmut. Weit mehr alte Menschen, als bislang angenommen, sind in Zukunft von Armut bedroht - so das Ergebnis.
Heute Morgen habe ich mit dem Rentenexperten und ehemaligen Wirtschaftsweisen Bert Rürup gesprochen und ihn gefragt, ob die Politik versagt hat.
Bert Rürup: Ach, ob die Politik versagt hat, das kann man nicht sagen. Aber auf jeden Fall muss sie was tun. Die Altersarmut wird in der Tat steigen und die dort genannten Zahlen erscheinen mir relativ realistisch. Aber wir müssen wissen, worüber wir reden: Reden wir über Altersarmut oder über Armutsgefährdung? Altersarmut heißt: Man ist auf die staatliche Fürsorge angewiesen, Grundsicherung im Alter. Das sind heute gut drei Prozent der Menschen im Rentenalter.
Oder man misst das an der Armutsgefährdung, das hat die Bertelsmann-Stiftung gemacht: Da verdient man weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens. Das ist ein volatiles Maß, nämlich dieses mittlere Einkommen kann beispielsweise schwanken. Wenn für die Reichen die Steuern gesenkt werden, dann steigt dieses mittlere Einkommen und es steigt auch die Altersarmut so gemessen, ohne dass Sie für die Leute was geändert haben. Aber trotzdem: Die Zahlen sind relativ realistisch.
Politik muss an den Bedingungen des Arbeitsmarktes ansetzen
Heinlein: Herr Rürup, wer wenig arbeitet und wenig verdient, hat im Alter wenig Rente. Ist das eine überraschende Erkenntnis, die jetzt die Bertelsmann-Stiftung veröffentlicht?
Rürup: Nein, das ist eine Banalität. Nur es kommt natürlich hinzu, dass im Zuge der Digitalisierung die Ursachen, die zu diesen durchbrochenen Erwerbsbiografien und so weiter geführt haben, diese Risiken eher verstärken als abschwächen, und deswegen muss die Politik, wenn sie denn reagieren will, an zwei Enden reagieren.
Heinlein: Können Sie das erklären? Was hat die Digitalisierung zu tun mit Altersarmut?
Rürup: Ja, möglicherweise kommt es zu einer weiteren Destandardisierung der Erwerbsverhältnisse, nämlich Digitalisierung bedeutet ja, dass Arbeit die lokale Bindung verliert, und das kann zu einer Entbetrieblichung der Arbeit führen und dass man viel mehr Tätigkeiten auf einer freiberuflichen Basis macht - da gibt es ja schon auch Zahlen zu - und die würden ganz aus unserem Rentensystem rausfallen. Das heißt, eine Politik, die Altersarmut verhindern will, muss einmal vorausschauend an den Bedingungen des Arbeitsmarktes ansetzen, beispielsweise dass die Langzeitarbeitslosigkeit nicht steigt, und sie muss natürlich im Rentensystem darauf reagieren. Man muss beide Sachen parallel machen.
Mehr Armutsvermeidung, weniger Statussicherung
Heinlein: Stimmt der Hauptvorwurf der Studie, Herr Rürup, wenn ich Sie jetzt richtig verstehe, die Politik hat beim Thema Rente noch nicht ausreichend reagiert auf diese neue Arbeitswelt, auf diese Digitalisierung?
Rürup: Bislang hat sie noch nicht reagiert. Man will ja jetzt einziehen. Alle Selbstständigen, so sie noch nicht wie die Freiberufler in einem obligatorischen System abgesichert sind, sollen in die gesetzliche Rentenversicherung rein. Das ist richtig, weil damit bislang nicht abgedeckte Schutzbedürfnisse befriedigt werden. Das ist eine sehr richtige Sache und die zweite richtige Sache ist im Prinzip auch diese Solidarrente. Das heißt, wenn jemand 30 oder 40 Jahre sich im Erwerbsleben bemüht hat, nicht auf die Fürsorge angewiesen zu sein, kann es nicht sein, dass er im Alter auf die Fürsorge angewiesen ist. Deswegen müssen wir auch die Koordinaten unseres Rentensystems etwas mehr in Richtung, oder vielleicht sogar deutlich mehr Armutsvermeidung schieben und weniger, sagen wir mal, die Statussicherung in den Vordergrund stellen, wie es bei uns seit 1957 gemacht wird.
Heinlein: Stichwort Solidarrente. Das ist ein Konzept, das jetzt die Sozialdemokraten auflegen in ihrem Wahlprogramm ...
Rürup: … hatte Frau von der Leyen übrigens auch schon. Da hieß das Lebensleistungsrente. Ist im Prinzip das Gleiche.
Jeder Fünfte in 20 Jahren armutsgefährdet
Heinlein: Herr Rürup, Sie selber haben lange Rot-Grün beraten in Sachen Rentenreform, haben Konzepte entworfen. Haben Sie sich selber etwas vorzuwerfen, dass Sie nicht rechtzeitig reagiert haben auf diese veränderte Arbeitswelt, auf diese prekären Arbeitsverhältnisse?
Rürup: Also, ich habe bereits im Jahre 2008 auf diese Probleme hingewiesen. Das ist jetzt nur mal für die Kleiderordnung.
Heinlein: Aber man hat nicht auf Sie gehört.
Rürup: Was heißt, man hat nicht gehört. Man hatte da vielleicht andere Probleme. Aber schauen Sie: Gegenwärtig - also jeder Betroffene ist natürlich im Einzelfall schon für sich schlimm. Aber es ist auch nicht so, dass sich die Altersarmut bei uns gegenwärtig ölfleckartig ausbreitet, nämlich gegenwärtig sind etwa 16 Prozent in diesem Sinne altersarm, dass sie ein Einkommen haben, was unter dem mittleren Einkommen ist. In 20 Jahren werden es 20 Prozent sein.
Heinlein: Das ist jeder Fünfte!
Rürup: Das ist eine Zunahme, ja. Von 16 auf 20 Prozent ist eine merkliche Zunahme. Da wird man noch was machen müssen und machen können. Wir sehen das Problem. Man hätte natürlich eher daran denken müssen. Aber es ist natürlich das Problem: Das Rentenniveau hat ja für uns einen hohen symbolischen Wert. Aber eine Erhöhung des Rentenniveaus nützt diesen Betroffenen faktisch gar nichts. Gegenwärtig ist bei uns die Rentenpolitik stark auf eine Wiederanhebung oder eine Stabilisierung des Rentenniveaus fixiert, aber genau auf diese Problemgruppen eigentlich nicht. Darauf ist in der Tat die Solidarrente die richtige Antwort.
"Armutsvermeidung ist Aufgabe des staatlichen Systems"
Heinlein: Was hätten denn diese 16 oder künftig dann 20 Prozent der Arbeitnehmerschaft tun können, um Altersarmut zu verhindern? Denn das sind ja meistens prekär Beschäftigte, die wenig verdienen und sich gar nicht leisten können, dann während ihres Arbeitslebens Geld zurückzulegen für das Alter.
Rürup: Das ist richtig. Deswegen glaube ich, die private, kapitalgedeckte Altersvorsorge, sei es die Privatrente oder die betriebliche, ist meines Erachtens nicht dafür da, um Armut zu vermeiden. Armutsvermeidung ist meines Erachtens Aufgabe des staatlichen Systems, dies umso mehr, als die private und die betriebliche Vorsorge freiwillig ist. Ich glaube, hier sollte man das eigentlich nicht vermischen. Die private Vorsorge oder auch die betriebliche ist dazu da, um den Lebensstandard zu sichern. Das heißt, dass man in etwa eine Rente bekommt, die es erlaubt, den Lebensstandard der letzten Erwerbsjahre abzubilden. Armutsvermeidung ist meines Erachtens genuin eine Aufgabe des staatlichen Systems.
Schnell handeln für die Generation der Baby-Boomer
Heinlein: Sehen Sie Anzeichen oder haben Sie Hoffnung, dass man diese drohende Altersarmut, dass jeder Fünfte künftig ab 2030, ab 2036 in Armut leben wird, noch verhindern kann?
Rürup: Armutsgefährdet!
Heinlein: Kann man das aktuell noch verhindern im Jahr 2017?
Rürup: Ja, man kann es natürlich aktuell verhindern. Wir haben ja noch 20 Jahre Zeit. Und hier diese Studie, so wie ich sie verstanden habe, bezieht sich ja auf die Personen, die dann in die Rente gehen werden. Das heißt, das sind dann alle, die über 67 Jahre sind, und da hat man in der Tat noch einige Zeit. Aber man muss doch anfangen, schnell anfangen.
Heinlein: Aber die Baby-Boomer - das ist ja diese Generation, die ab 2030 in Rente geht -, die muss sich durchaus Gedanken machen, wie es weitergeht, wenn sie 65 und älter sind?
Rürup: Ja. Die Baby-Boomer - das sind die, die jetzt ab 2020 in Rente gehen. Das ist richtig. Aber die haben ja auch noch die guten Bedingungen des Arbeitsmarktes mitgenommen, wo die Arbeit standardisiert war, wo das normale Arbeitsverhältnis die Regel war. Dass wir jetzt, sagen wir mal, eine Auflösung dieser traditionellen Vorstellungen haben, das ist ja eigentlich eine etwas neuere Zeit. Man kann sagen, die späten Baby-Boomer haben ein Problem.
Aber wir haben noch einige Zeit und deswegen ist es wichtig, dass solche Studien herauskommen, und es ist wichtig, klarzumachen, dass es nicht eine eindimensionale Strategie sein muss. Man muss beides machen, man muss wie gesagt beides machen. Man muss an den Bedingungen etwas drehen, damit die Voraussetzungen, damit man da reinfällt, geringer werden. Aber man muss auch das gesetzliche System armutsfester machen.
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