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Ruf nach besseren Ganztagsschulen
"Pädagogische Potenziale heben"

40 Prozent aller Schüler in Deutschland gehen auf Ganztagsschulen: Da galt lange Masse statt Klasse. Jetzt müssten die Schulen fit für das 21. Jahrhundert gemacht werden, sagte Dirk Zorn, Bildungsexperte und Projektleiter der Bertelsmann Stiftung, im DLF. Gerade Ganztagsschulen würden für eine Qualitätsoffensive den geeigneten organisatorischen Rahmen bieten.

Dirk Zorn im Gespräch mit Mike Herbstreuth |
    Schüler lernen im Englisch-Unterricht an einer Realschule in Niedersachsen.
    Die Bertelsmann-Sitftung empfiehlt Öffnungszeiten von acht Stunden an fünf Tagen für den Rahmen. Gefüllt wird dieser mit zusätzlicher individueller Förderung. (picture alliance / dpa / Julian Stratenschulte)
    Mike Herbstreuth: Was sich momentan in Deutschland Ganztagsschule nennt, das ist zu einem großen Teil eigentlich gar nicht Ganztag, und auch eine angemessene individuelle Förderung gibt es dort nur selten. Das ist der Schluss, zu dem eine neue Studie kommt, die mehrere Stiftungen zusammen durchgeführt haben. Die Bertelsmann Stiftung, die Robert Bosch Stiftung, die Stiftung Mercator und die Vodafone Stiftung Deutschland haben Ganztagsschulen in ganz Deutschland untersucht und da jede Menge Verbesserungspotenzial festgestellt. Darüber spreche ich jetzt mit dem Bildungsexperten und Projektleiter der Bertelsmann Stiftung, Dirk Zorn. Herr Zorn, wo hapert es denn am meisten an den deutschen Ganztagsschulen?
    Dirk Zorn: Zunächst einmal, der quantitative Ausbau der Ganztagsschulen, der in den letzten 15 Jahren in allen Bundesländern erfolgt ist, war zunächst ein durchschlagender Erfolg. 2002 haben weniger als 10 Prozent aller Schüler eine Ganztagsschule besucht, inzwischen sind es fast 40 Prozent. Inzwischen machen zwei Drittel aller deutschen Schulen Ganztagsangebote.
    "Nicht mehr Masse, sondern Klasse"
    Herbstreuth: Also das ist ja erst mal eigentlich positiv, oder?
    Zorn: Das ist positiv. Wir haben eine kritische Masse erreicht, wenn Sie so wollen, jetzt muss es aber nicht mehr um Masse gehen, sondern um Klasse. Ein genauerer Blick zeigt nämlich, dass es die deutsche Ganztagsschule im Bundesländervergleich überhaupt nicht gibt. Unter dem Begriff Ganztagsschule verbergen sich ganz unterschiedliche Modelle und Spielarten von offenen, teilgebundenen, voll gebundenen Ganztagsschulen, manchmal mit vier Stunden zusätzlich zum Unterricht, manchmal sind es mehr als 20 Stunden. Die Ganztagsschule gibt es nicht, und darum muss es jetzt genau gehen: das, was sich hinter Ganztagsschule verbirgt, mit pädagogischem Gehalt und einem pädagogischen Konzept zu verbinden.
    Herbstreuth: Also würden Sie das auch gerne vereinheitlichen, dass man genau weiß, bei Ganztagsschule, wenn was so heißt, dann ist da auch was Bestimmtes drin enthalten.
    Zorn: Überall wo Ganztagsschule draufsteht, sollte auch Ganztagsschule drin sein. Das schließt nicht aus, dass Länder und auch Kommunen spezifisch auf die Bedürfnisse ihrer Schülerschaft und die Wünsche der Eltern vor Ort eingehen können, das von uns vorgeschlagene Konzept sieht genau das vor. Wichtig ist aber, dass die Kultusministerkonferenz, die hier zuständig ist, analog zu der Definition, die sie Anfang der 2000er-Jahre entwickelt hatte, wo es um wenige formale Organisationsmerkmale von Ganztagsschulen ging, nun eine erweiterte Definition entwickelt, wo die Kultusministerkonferenz festlegt, was pädagogisch mit Ganztagsschule erreicht werden soll und was dazu auch an Rahmenbedingungen erforderlich ist, die in allen Bundesländern gewährleistet sein müssen.
    Herbstreuth: Was sind denn das für Rahmenbedingungen, die da gewährleistet sein müssen?
    Zorn: Wir haben in der Studie, die wir gemeinsam mit drei anderen Stiftungen durchgeführt haben, Schulleitungen befragt, weil uns wichtig war, das Praxiswissen, das gute und engagierte Schulen schon heute entwickelt haben – denn es gibt ja Schulen, die gute Ganztagsschulen sind und die auch von Stiftungen mit Preisen ausgezeichnet werden –, dieses Praxiswissen zu erforschen, zu systematisieren und politisch wirksam zu machen. Die Schulen, die wir befragt haben, sagen, dass es vor allem darum geht, dass Schulen mehr Zeit brauchen, um die Potenziale, die pädagogischen Potenziale des Ganztags zu heben. Dazu kommen mehr und vor allem verlässlich gewährte Ressourcen seitens der Länder und genügend Zeit, um Schulentwicklung als Daueraufgabe betreiben zu können.
    "Acht Stunden an fünf Tagen die Woche"
    Herbstreuth: Was sind denn da so ein paar Ihrer ganz konkreten Hauptempfehlungen, was braucht eine Ganztagsschule?
    Zorn: Eine Ganztagsschule braucht verlässliche Öffnungszeiten. Wir empfehlen eine Öffnungszeit der Schule von acht Stunden an fünf Tagen die Woche. Das heißt nicht, dass Schüler die ganze Zeit auch in der Schule verbringen müssen – wir fordern also keine 40-Stunden-Woche für Schüler, um das ganz klar zu sagen –, aber Eltern können wissen, dass ihre Kinder theoretisch verlässlich betreut und gut aufgehoben sind in der Schule für diese acht Stunden an fünf Tagen in der Woche. Hinter dieser Zeit verbergen sich Kernzeiten, in denen alle Schüler wirklich dann verbindlich gemeinsam in der Schule sind, und Angebotszeiten, an denen man an freiwilligen Angeboten teilnehmen kann oder auch nicht. Anders als die gängige Definition von Ganztagsschule, die nur gebundene oder freiwillige Teilnahme der Schüler kennt, ist unser Konzept sehr viel flexibler. Das kann zum Beispiel je nach Alter der Schüler angepasst werden, weil man zum Beispiel weiß – das berichten uns Schulleitungen –, dass ältere Jugendliche dann häufig andere Interessen haben und stärker in Vereinen engagiert sind und nicht mehr so viel Zeit in der Schule verbringen wollen. Aber gerade in der Grundschule und in den ersten Jahren der weiterführenden Schule besteht hier viel Potenzial für zusätzliche individuelle Förderung und auch für das Lernen in Projektzusammenhängen außerhalb des Unterrichts.
    Ort für Herausforderungen
    Herbstreuth: Längere Öffnungszeiten, mehr Betreuung und auch bessere finanzielle Ausstattung, da könnte man jetzt argumentieren, dass man mit mehr finanziellen Mitteln und mehr Personal so ziemlich alles verbessern kann. Nur ist die Frage, woher soll das Geld dafür kommen?
    Zorn: Das ist eine Aufgabe, die Politik beantworten muss. Unser Eindruck ist, das Thema Ganztagsschule ist ein Querschnittsthema, das ganz viele andere drängende Aufgaben und Herausforderungen in der Bildungspolitik mit adressiert – denken Sie an die Themen Inklusion, Integration oder auch die Digitalisierung, die immer größeren Stellenwert im pädagogischen Alltag haben soll und haben wird. Ganztagsschule ist der aus unserer Sicht geeignete organisatorische Rahmen, um auf diese Dinge reagieren zu können, um Schulen robust und fit für das 21. Jahrhundert zu machen. Deswegen sind es hier eigentlich keine zusätzlich ausgegebenen Mittel, sondern jeden Euro, den man investiert in adäquate Ressourcenausstattung von Ganztagsschulen, jeder Euro hilft, um auch diesen anderen pädagogischen Herausforderungen besser gerecht werden zu können.
    Herbstreuth: Glaubt Dirk Zorn, Bildungsexperte bei der Bertelsmann Stiftung, die gerade in Zusammenarbeit mit drei anderen Stiftungen eine Studie über das Verbesserungspotenzial von deutschen Ganztagsschulen veröffentlicht hat.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.