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Ruhrfestspiele Recklinghausen
Geschwisterstreit im Schatten des Krieges

Bernard-Marie Koltès galt als Wunderknabe der französischen Dramatik. Mit "Rückkehr in die Wüste" bringt der italienische Regisseur Roberto Giulli nun Koltès vorletztes Drama auf die Bretter der Ruhrfestspiele: eine gut gelaunte, grimmig sarkastische Farce im Schatten des Algerien-Konflikts.

Von Andreas Wilink |
    Nicht die Glocken der Kathedrale von Metz läuten, sondern der Muezzin ruft zum Gebet. Roberto Ciulli spielt so den Widerspruch weiter, dass das katholische Frankreich die Wüste sei, wo doch Mathilde Serpenoise nach 15 Jahren gerade eben heimkehrt aus der Geröllsteppe Algeriens.
    Wüstenboden bedeckt die Bühne, die Gralf-Edzard Habben aufgeschüttet hat im Kleinen Theater des Festspielhauses Recklinghausen. Ein Raum, so sehr innen wie außen. Knöchelhoch liegt der Sand, ein Mäuerchen ist gezogen, mehr Haus gibt es nicht; ein paar Requisiten stehen herum. Und dann streckt sich noch bäuchlings ein dunkler Lockenkopf aus. Das will nicht klar und konkret sein, aber Metz, der Geburtsort von Bernard-Marie Koltès, ist es doch.
    Seltsam genug, dass Ciulli, der Gastarbeiter aus Italien und sesshaft geworden in Mülheim an der Ruhr, bisher nie ein Stück von Koltès inszeniert hat. Wo doch im Blick seines Theaters an der Ruhr, geschärft bei Gastspielen in 40 Ländern, nie westlich abendländische Vorherrschaft lag. Und wo doch auch Koltès ein passionierter Reisender gewesen ist, der Afrikas und Südamerikas magische Bilder speicherte.
    Wunderknabe und früh verstorbener Leibautor seines Freundes Patrice Chéreau, schrieb Koltès mit "Rückkehr in die Wüste" sein vorletztes Drama: eine gut gelaunte, grimmig sarkastische Farce im Schatten des Algerien-Konflikts.
    Einträchtig im Hass verbunden
    Ein einträchtig in Hass verbundenes Geschwisterpaar befehdet sich, während rundum – wie es der "Spiegel"1988 nannte – "ein philosophischer Slapstick auf die klägliche Revolte der Jugend und die Vendetta der Alten" abläuft.
    Nach ihrem Exil in der sich alsbald befreienden Kolonie kehrt Mathilde, einst vertrieben durch die Denunziation ihres Bruders, sie sei ein Liebchen der deutschen Besatzer gewesen, mit ihren zwei erwachsenen Kindern ins Elternhaus zurück, das dieser Bruder Adrien bewohnt und besetzt hält. Erbschafts-Zank und ideologischer Kampf entzündet sich, geschürt mit den Brandsätzen gemeinen Fremdenhasses und befeuert durch magisch-mythische Anteile. Sie machen es sich bequem in ihrem kleinen Stückchen Hölle.
    "Du hast dem Krieg entgehen wollen und bist verständlicherweise in das Haus zurückgekommen, in dem deine Wurzeln sind: An hast du gutgetan. Bald ist der Krieg vorüber, und bald kannst du zurück nach Algerien, zurück in die schöne algerische Sonne."
    "Ich will keinem Krieg entgehen; im Gegenteil, ich bringe ihn hierher, in diese gute alte Stadt, in der ich ein paar offene Rechnungen zu begleichen habe.
    Und wenn ich so lange gebraucht habe, bis ich gekommen bin, um diese Rechnungen hier zu begleichen, dann deswegen, weil allzu viel Unglück mich mild gestimmt hatte; aber nach fünfzehn Jahren ohne Unglück sind mir die Erinnerungen wieder eingefallen und das Gesicht meiner Feinde."
    Mathilde, gespielt von Petra von der Beek, wirft sich in Pose für den High Noon. Sie gibt nicht klein bei. Die Kriegerin, Rächerin, "Araberin" Serpenoise tritt ladylike ihren Gegnern entgegen.
    Bruderherz Adrien, der müde Provinzler, Chauvi und Nationalist, ist bei Steffen Reuber ein Gernegroß, Napoleon von Metz, aber als Wüterich so wenig ernst zu nehmen wie in seiner inzestuösen Begehrlichkeit der Schwester gegenüber. Der übergeschnappte Kleinbürger, den kannibalische Anwandlungen überkommen, der seinen mediokren Sohn Mathieu zureitet, der sich in eine Kissenschlacht wirft, könnte sich als Possenreißer aus einem Schwank von Feydeau verlaufen haben.
    Die verstiegene Generation der Tochter und Söhne kann es mit den beiden Monstern nicht aufnehmen. Albert Bork verkleidet Mathieu zum lachhaften Bub in Strickjacke, in dem schon der künftige Greis verwest. Sein Cousin Edouard wird bei Marco Leibnitz zum seltsamen Stadtindianer. Fatima, die rabenschwarze Zwillinge zur Welt bringt und sie Romulus und Remus nennt, als würde eine neue Weltmacht etabliert, zeigt Simone Thoma als eine mit der Gerte spielende Traumverlorene.
    "J'attendrai", das berühmte Chanson, wird eingespielt. Warten worauf? Auf Veränderung? Den bösen Blick auf die französische Provinz und auf ihre den einstigen revolutionären "terreur" banalisierenden Repräsentanten bricht Koltès durch Komik.
    Mühsames Finale
    Ciulli, der in seinen besten Arbeiten zugleich Zauberer und Entzauberer ist, sucht die ihm eigene Form dafür, stilisiert und ziseliert künstlich, legt die Monologe an wie eine musikalische Conférence mit Mikrofon und Tanztee-Melodien. Er und sein Team haben alles begriffen, aber es entwickelt sich doch nur versteifte Atmosphäre, so sehr auch auf Fluidum gesetzt wird. Das Match in 17 Runden bzw. Szenen kämpft sich etwas mühsam zum Finale.
    Wenn Mathilde am Ende für Adrien die Schnürsenkel seiner Schuhe knotet, bindet Ciulli mit dieser Geste zärtlicher Zuneigung das Un-Paar aneinander. Sie gehen fort, gemeinsam. Adrien wuchtet seinen Koffer, als nähme er eine Hades-Last huckepack. So ziehen Mathilde und er von dannen, verschwindend als Schattenrisse. Eine größere Strafe als ihr Zusammensein gibt es nicht. Allah und dem Christengott ein Wohlgefallen.