Romeo Castellucci setzte auf die weite Fläche unter den majestätischen und doch gemessen am umbauten Volumen filigranen Stahlbögen des Jahrhundertbauwerks markante Bildsignale und kurze Szenen unterschiedlicher Größenordnung und Intensität. Sie sind womöglich auf Situationen eines drastischen Entweder-Oder bezogen, stellen also so etwas dar wie freie Assoziationen zum Stichwort „neither“. Zunächst setzt sich eine junge Frau mit Kind in Kontrast zu mehreren Tisch-Stuhl-Kombinationen verschiedener Moderichtungen des 20. Jahrhunderts. Ihr kommt das Kind abhanden und sie wird Zeugin einer Versuchsvorführung: Gezeigt wird der Kasten, mit dem es 1935 um Erwin Schrödingers Katze und die Frage von Zusammenhängen der Mikro- und der Makrowelten ging sowie die Frage, ob in der Kiste aufgrund eines zufälligen Zerfalls von Atomen ausgelöste Reaktion sich noch eine lebendige oder bereits eine tote Katze befindet – die Frage ähnelt der, ob das Birnchen im Kühlschrank wirklich ausgeschaltet ist, wenn die Kühlschranktür geschlossen ist. Gewissheit darüber ist nur schwer zu erlangen. Um Entweder/Oder geht es auch bei der von Polizisten gestellten Frage nach dem Verbleib beziehungsweise Versteck des Kindes, bei der Aktion von 20er-Jahre-Gangstern mit der aus Film/TV bekannten schwarzen Limousine und der von vier Ärzten vorgenommenen Autopsie.
Radikal reduzierte Musik
Zu all dem entrollt Morton Feldmans radikal reduzierte Musik, die aus einem orchestral modifizierten langen Ton heraus entlassen wird, den mild matten Widerschein einer einst so radikal gemeinten Moderne. Die Sopranistin Laura Aikin stemmt die einzelnen Silben in den weiten Luft- und Lichtraum, die Duisburger Philharmoniker unter der Leitung von Emilio Pomàrico zelebrieren diskret zurückgenommen hinter einem Gazevorhang von der Seite die einfach anmutenden Klangfiguren. Die treten in scheinbar willkürlicher Abfolge auf und wieder weg, sind unregelmäßig rhythmisiert, können sich überlappen oder auch nicht, sind in hohem Maß durchschossen mit Pausen und von Zeit zu Zeit angereichert durch längere Momenten der Stille. Die schwebenden Harmonien wirken, als wohnten sie im Niemandsland zwischen Wohlklang und Dissonanz. Das alles ist längst nostalgisch besetzt und daher so schön – und vielleicht deshalb auch immer wieder einmal ein bisschen langweilig.
Castellucci aber rüstet ausgiebig Lichtspiel aus den höchsten Höhen der Halle optisch auf: Von der inzwischen den Medizinern wieder aus der Hand genommenen und in Tuch gehüllten Leiche wird durch einen Theatertrick ein Bein separiert und zur Schau gestellt. Und dann schiebt sich eine große Dampflokomotive mitsamt angehängten Güterwaggons in gleichmütiger Ruhe aus der tiefsten Tiefe des Bühnenraums unerbittlich nach vorn. Dem Zermalmtwerden entgehen die Zuschauer in den vorderen Reihen nur dadurch, dass die Tribüne kraft starker Motoren zurückgeschoben wird und gleichsam die Klügere nachgibt. Der schwarze Koloss aber, am Ziel angelangt, lässt mit gewaltigem Zischen Dampf ab. Der ruhige Schreitchor der Bergleute und -knappen trägt das eine Bein des Entweders zum einsamen Mikrofon auf der weiten Fläche vor und entlässt die Zuschauer mit dieser Bildchiffre des fragmentierten Lebens.
Die Ruhrtriennale hat nach „Der Materie“ von Louis Andriessen und Boris Nikitins Kreation „Sänger ohne Schatten“ nun eine dritte Produktion hervorgebracht, die sich – jenseits jedes tieferen Sinngehalts – hören und sehen lassen kann.