Das Audimax der Universität Bochum sieht von außen und von ferne aus wie eine abgeranzte Blumenvase. Von innen aber ist das ein beeindruckendes, hohes, rundum lebensfreundlich in orange bestuhltes Oval, das demokratische Begegnung und Mitsprache unter Gleichen verspricht. Der ideale Ort für diese Kreation zur Eröffnung der Ruhrtriennale, die ein Parlament braucht. Denn im Jahr 2145 findet hier eine Gedenkfeier anlässlich des Endes des Holocaust vor 200 Jahren statt. Ein "Kaiser von Hohenzollern-Europa" und ein paar Parlamentarier finden sich ein, übrig gebliebene Elite-Europäer, die die repräsentative Demokratie als Unterhaltungsabteilung der asiatischen Zone pflegen. Sie feiern die vollständige Trennung von der Unterschicht und moderne Formen von Internierung, Kontrolle und Entsorgung als zivilisatorischen Fortschritt und verkünden stolz:
"Vor genau drei Wochen ist der Rassismus als bedeutende, derzeit nicht aktualisierte europäische Eigenschaft zum UNESCO-Weltkulturerbe erklärt worden."
Was dann anhebt, ist ein Marthaler-Abend, wie wir ihn kennen - nur viel düsterer. Für dieses "Gedenk-Konzert" hat Uli Fussenegger Musik von Komponisten wie Pavel Haas, Jósef Koffler, Szymon Laks oder Viktor Ullman bearbeitet, die in Theresienstadt interniert waren und im Konzentrationslager oder während der Vernichtungszüge nach Osten umgebracht wurden.
Biologistisches und AfD-Dada
Diese Musik bildet den unheimlichen Echoraum für Texte, die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verschränken. Die Grazer FPÖ-Abgeordnete Susanne Winter sondert Biologistisches im Dialog mit einem farbigen Intellektuellen ab, der das Konstrukt "Neger" erklärt. Wir hören Zitate von Identitären, den ungarischen Staatspräsidenten Victor Orbán, aber auch Karl Lueger, den Bürgermeister von Wien, aus dem Jahr 1897:
"Der Herr Abgeordnete Popper hat behauptet, der Antisemitismus wird zugrunde gehen. Gewiss, meine Herren, wird er einmal zugrunde gehen, aber erst dann, wenn der letzte Jude zugrunde gegangen sein wird."
Szenisch ist das dezent gemacht, mit Chorstellen und leisen Positionswechseln, die Stimmung immer nachdenklich mit Ausnahme vielleicht beim ultradoofen Heimatschlager oder beim AfD-Dada.
Beklemmender Liederabend
Unter allen Versuchen, der verzerrten Fratze des Rechtsnationalismus, Antisemitismus und Rassismus der Gegenwart mit Kunst zu begegnen, ist das ganz sicher der bisher musikalischste. Marthalers Truppe singt wie immer betörend. Es gibt auch kleine choreographische Momente, die Humor stiften; das Verstörende überwiegt aber. Wenn die Sängerinnen und Sänger in sandfarbener Einheitskluft zu Luigi Nonos "Erinnere dich, was sie dir in Auschwitz angetan haben" - einer unfassbar deutlichen Übersetzung von Schmerz in Laute und Töne - pantomimisch den Mund öffnen wie in Munchs "Der Schrei", wirkt das wie eine Mahnung und Anklage zugleich.
So wie die Musik im Stück als Kunst den größten Zivilisationsbruch der neueren Geschichte repräsentiert, bleibt am Ende also nur die Hoffnung, dass die Kunst alles übersteht? Nach dem Erlöschen und dem Ersterben noch des letzten Liedes - brillant vielstimmig und beklemmend schön vorgetragen, die Arie "Wer bis an das Ende beharrt" aus Felix Mendelssohn Bartholdys "Elias" - verlässt man dieses Schreckens-Parlament der Zukunft erschöpft und verstört. Vielleicht auch, weil der Abend zu lang geraten ist. Wenn sich derzeit aber Theatermacher von Bochum bis Salzburg und von Hamburg bis Wien am Rechtsruck und der Humanitätsverweigerung vieler Gesellschaften in Europa abarbeiten, ist das das eigentlich verstörende Zeichen. Sagen wir niemals, wir hätten es nicht gewusst!