Kunst ist nicht zum Konsumieren da und sollte es jemals geschehen, dass man einen Abend von Boris Charmatz satt und abgefüllt verlässt, ist aus seiner Perspektive sicher etwas schief gelaufen. Der französische Choreograf und derzeitige Liebling großer europäischer Festivals lässt sein Publikum gern darben – zum Beispiel nach so etwas wie Tanz als Bewegung im Raum. Fast nichts davon in "manger".
Stattdessen bleiben seine 14 Tänzer, nachdem sie sich aus den Reihen der Zuschauer erhoben haben und auf die Bühne gegangen sind, fixiert an einem Platz – sie sind weniger Tänzer als Skulpturen des Labels "Musée de la Danse" von Boris Charmatz. Sie stehen in einer willkürlich hingewürfelten Gruppenformation, jeder vereinzelt, aber geeint im Gesang.
Hemmungslos und "für nix fies"
Die Gruppe intoniert Corelli, György Ligeti, auch Popsongs oder Hiphop, und besonders schön: den Prozessions-Satz von Beethovens 7. Symphonie, von Richard Wagner einst als "Apotheose des Tanzes" bezeichnet. Man summt – und isst. Eine Stunde lang futtert das Ensemble essbares Papier – also Oblaten oder Riesen-Hostien in Form von DINA-4-Seiten.
Die so gewissermaßen zu "Folia-Phagen" verwandelten Performer stopfen sich die Seiten komplett in den Mund, knabbern kleine Halbmonde aus den Rändern, reißen gierig Fetzen ab, wie ein Tier das Fleisch aus seiner Beute. Weiße, unbeschriebene Seiten – es handelt sich offenbar um eine Zivilisation "avant la lettre", die zunehmend regrediert. Bald kriecht man auf dem Boden herum, mampft auf dem Bauch liegend wie Babies, pickt Krümel auf wie Hühner, würgt Papierknäuel heraus und nimmt sie wieder in den Mund – hemmungslos und "für nix fies", wie man im Ruhrtriennale-Land sagt.
Genusslos, Nahrung als Notwendigkeit. Essen hat etwas Würdeloses an sich, lautet die maue Erkenntnis des Abends, und nach einem sehr gelungenen Beginn interessiert bald nur noch die Radikalität und Intelligenz der Form. So demonstriert Charmatz in seiner von langsamen Metamorphosen geprägten Tanz-Vesper mit zuckenden Leibern, wie der Nahrungsbrei durch die Gedärme rumpelt, der Bauch sich bläht, der Schließmuskel mit der Hand zugehalten werden muss. Und wie üblich bei Charmatz folgt in seinem Kollektiv jeder Performer auch individuellen Ideen, denn es geht ihm stets um die Synchronisierung widersprüchlicher Zustände.
Körper-Raum-Inszenierungen, die neue Maßstäbe setzen
Essen also zugleich als orgiastisches Gelage, als demütige Eucharistie oder qualvolle Zwangsernährung. Der im Tanz selten zum Einsatz kommende Mund – er ist das metaphorische Zentrum des Abends, symbolisiert er doch die Zwitter-Existenz des Menschen zwischen Ästhetik und Instinkt: Im Mund verquicken sich Klang und Kost. Man singt die Hochkultur und frisst als Triebnatur. Oder verbindet beides im Mampf-Krawall – Protest- oder Fußballfangegröle mit vollgestopften Backen.
Mit seinen uneindeutigen Bildassoziationen, seinen Genregrenzen sprengenden Formaten zählt Choreograf Boris Charmatz zu den favorisierten Künstlern von Ruhrtriennale-Intendant Heiner Goebbels, der allerdings Tanz und Performance ohnehin so viel Beachtung schenkte wie noch kein anderer Festivalleiter vor ihm. Goebbels hat erkannt, dass es keine bessere Sparte gibt, um die besonderen Räume der Ruhrtriennale, die stillgelegten Industrieanlagen, sichtbar zu machen.
Viele der Choreografenstars, darunter Meg Stuart, Anne Teresa De Keersmaeker oder Jan Lauwers sind zwar von Gastspielen vor allem im PACT Zollverein Essen, längst bekannt. Doch das Budget des Festivals eröffnete den Künstlern neue Möglichkeiten. Ortsbezogene Produktionen entstanden, in denen das dämmernde Tageslicht zum Akteur wurde, der Hall der Räume zu Sound-Effekten verhalf oder eben die schiere Größe und Architektur als weltanschauliche Chiffren herhielten. Körper-Raum-Inszenierungen, die für folgende Ruhrtriennale-Editionen neue Maßstäbe gesetzt haben.