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Ruhrtriennale: Nikita Dhawan über postkoloniales Denken
Europäer verraten die Aufklärung

Die Eröffnungsrede der Ruhrtriennale 2018 stand im Zeichen des Postkolonialismus. So auch die darauf folgende Inszenierung von William Kentridge. Die indische Politikwissenschaftlerin Nikita Dhawan macht die Relevanz des Themas mit einer einfachen Frage deutlich: "Gibt es jemanden im Saal, der keine Baumwolle trägt?"

Von Karin Fischer |
    Ein Kind hält ein Schild mit einer gemalten Möhre über dem Text "Moehrenstraße" hoch, anlässlich des Umbenennungsfestes von Mohrenstraße zu Anton W Amo Strasse
    Antikolonialistischer Protest: Die "Mohren"straße wird zur Moehrenstraße (imago/IPON)
    Wenn der deutsche Philosoph Jürgen Habermas über die Werte der Europäischen Aufklärung spricht, geht er gern bis auf Immanuel Kant zurück und erwähnt die europäischen Salons und Kaffeehäuser. In ihnen debattierten - natürlich ausschließlich - Männer die maßgeblichen ethischen Fragen der damaligen Zeit: Die Gewaltexzesse während der Französischen Revolution, zum Beispiel, wie etwa: Rechtfertigt das Ergebnis wirklich die Mittel?
    Nikita Dhawan fragt dagegen: Woher kam der Kaffee?, woher der Zucker und der Tabak? Das ist auch ihre Antwort auf die Frage, warum postkoloniale Theorie und Kritik, also das Nachdenken über unser Verhältnis zum Kolonialismus und dessen Folgen, überhaupt wichtig sind:
    "Baumwolle, Kartoffeln, Schokolade sind alles postkoloniale Produkte, die auch heute noch unter superausbeuterischen Bedingungen produziert werden, vor allem im globalen Süden."
    Europa, sagen Kolonialismuskritiker wie Frantz Fanon, sei buchstäblich von den Kolonien erschaffen. Weil die Infrastruktur, die die europäische Aufklärung angetrieben und erst ermöglichte, aus den Kolonien kam. Die indische Politikwissenschaftlerin Dhawan hält aber keine Geschichtsstunde, wenn sie feststellt:
    "Die Europäer verraten die Aufklärung, indem sie sie in den Kolonien predigen, aber ihren Werten selbst nicht folgen."
    Die Welt im Ungleichgewicht
    Ihre Gegenwartsanalyse zielt auf die Fragen, die sich heute stellen, angesichts von Donald Trumps Abschottungspolitik, des nationalistisch eingefärbten Brexits oder der europäischen Debatte über den Umgang mit Flüchtlingen aus dem Mittelmeerraum: Was verbirgt sich wirklich hinter dem behaupteten Kosmopolitismus des Westens? Denn natürlich sitzen wir nicht alle im selben Boot! Wie kann verhindert werden, dass feministische Anliegen in rassistische Argumente verkehrt werden, wie nach der Silvesternacht in Köln zu beobachten war? Oder, noch schizophrener: Wie können die Werte der Aufklärung, die Menschenrechte, der Rechtsstaat, die Unantastbarkeit der Würde des Menschen, überhaupt verbreitet werden, ohne damit die Kategorie Ungleichheit unausweichlich zu zementieren? Und nicht zuletzt: Was bedeutet westliches Mit-Leid mit Blick auf sterbende Kinder? Wie findet "De-Kolonisierung" in den Köpfen statt? Oder in der Kunst?
    "Wenn Kunst in kapitalistische und neokolonialistische Strukturen eingebunden ist: Muss sie dann auch de-kolonisiert werden? Muss die Kunstwelt selbst infrage gestellt werden?"
    Dhawans Vortrag war ein Parforceritt durch die europäische Geistesgeschichte und die postkoloniale Theorie, bis hin zur Analyse von Protestkulturen, die sich heute - wie nicht nur Pegida zeigt - eben auch gegen die Errungenschaften der Aufklärung wenden können.
    Das ethische Dilemma der Aufklärung
    Aber wie kann man das Erbe der Aufklärung dann doch noch fruchtbar machen, unter einer postkolonialen Perspektive? Die Antwort ist eher eine Hoffnung, die die Aufklärung mit der Wirkung von Pharmazeutika vergleicht. Gut möglich also, dass was als Gift wirkt, auch Medizin sein könnte. Für Dhawan, die Germanistik und Philosophie in Frankfurt studiert hat, setzt das allerdings eins voraus:
    "Wenn ich eines gelernt habe aus der deutschen Tradition der Aufklärung, dann, das ethische Dilemma ernst zu nehmen. Das darin besteht, dass wir vom Erbe der Aufklärung sprechen und uns in einer postkolonialen Welt befinden."
    Deren Kritik kein Schwarz-weiß-Denken mehr zulässt, wie Nikita Dhawan äußerst anschaulich macht. Und auch dies: Die europäische Aufklärung hat ein 'Herz der Finsternis' - in das Europa selbst noch längst nicht vorgedrungen ist. Wie schmerzhaft diese Reise sein kann, hat dann William Kentridge gezeigt. Mit diesem Eröffnungsabend ist die Ruhrtriennale auf der Höhe der theoretischen und künstlerischen Diskurse der Zeit angekommen.