"Wir sind im kleinen Chemielabor, unter Anführungsstrichlein. Also hier ist unser Vorbereitungsraum, wo wir unsere Chemikalien haben und einen Teil der Geräte."
Alte, abgewetzte Schulbänke aus Holz, in die mehrere Schülergenerationen Sprüche eingeritzt haben. Vor der Tafel stehen ein Glaskolben mit gelblicher Flüssigkeit und mehrere Reagenzgläser auf dem Lehrerpult: Hier, im Chemielabor des Nikolaus-Lenau-Gymnasiums im westrumänischen Temeswar werden Erinnerungen an den legendären Film "Die Feuerzangenbowle" wach. Daniela Bandur, eine ältere, elegant gekleidete Dame mit kurzen Haaren und Brille, zeigt mit ihrer rechten Hand auf die unbequemen Holzstühle:
"Ich habe es auch den Schülern gesagt: Ihr sitzt gerade vielleicht auf dem Platz von Stefan Hell.“
Dabei reckt Daniela Bandur den Kopf mit dezentem Stolz in die Höhe: Stefan Hell, der auf diesen abgewetzten Schulbänken vor über drei Jahrzehnten Chemie gepaukt hat, bekommt heute den Nobelpreis für Chemie verliehen. Damit ist er in guter Gesellschaft.
"Man kann stolz sein. Das hat sehr große Bedeutung. Wir haben zwei ehemalige Schüler, die den Nobelpreis jetzt tragen. Hertha Müller und Stefan Hell. Ich weiß nicht, wie viele Schulen in der Welt sich damit… Ich weiß nicht, wie viele Schulen es sind.“
Vor Freude ringt Daniela Bandur nach Worten, während eine Kollegin mit dem Unterricht beginnt. Sowohl die Literatur-Nobelpreisträgerin Herta Müller als auch der Chemienobelpreisträger Stefan Hell sind ehemalige Schüler des Lenau-Gymnasiums Temeswar, besuchten dort in einer Zeit den Unterricht, als in Rumänien noch der kommunistische Diktator Nicolae Ceausescu das Sagen hatte.
Trotz aller Gleichschaltungsbemühungen blieben die Schulen der rumäniendeutschen Minderheit erhalten. Und nicht nur das: In den Klassenräumen herrschte ein Hauch von liberalem Denken, das damals möglicherweise auch die späteren Nobelpreisträger Müller und Hell geprägt hat.
Die Gedanken sind frei - zu einer sozialistischen Zeit
Ein hoher Raum mit Torbogenfenster; auf den alten Schreibtischen liegen Stapel von Akten und Schulheften. Helene Wolff, Anfang 50, bittet mit einer einladenden Geste zu einer Sitzgruppe. Die Rektorin des Lenau-Gymnasiums war in den 70er Jahren selbst Schülerin – und erinnert sich trotz aller Entbehrungen der damaligen Zeit gerne daran zurück.
"Eines unserer beliebten Lieder unter den Schülern war: 'Die Gedanken sind frei…'. Zu der Zeit, zu einer sozialistischen Zeit – das war schon anders. Das sagt schon auch etwas aus über den Geist, der sich an dieser Schule entwickelt hat. Wodurch sich in der Zeit die Lenau-Schule ausgezeichnet hat, war, dass in der Zeit nicht eine sehr intensive politische Erziehung stattgefunden hat."
Bildung statt Indoktrination - dieser liberale Geist habe die Grundlagen gelegt für selbständiges Denken bei vielen Tausend Absolventen.
"Mit Leuten von den Hochschulen sprechend, habe ich erfahren, dass man Lenau-Schüler schon von den anderen unterscheiden kann. Sie haben Fragen zu stellen. Sie denken mit. Und man kann sie gleich von den anderen Studenten erkennen dadurch. Ja, ich denke, es ist schon wichtig, dass man sich nicht alles gefallen lässt und nicht alles unverdaut übernimmt."
Große Pause im Lenau-Gymnasium: Hunderte von Schülerinnen und Schüler strömen durch die lichten, hohen Gänge hinab in den kleinen Innenhof des Schulgebäudes mit neoklassizistischer Fassade, an der zum Teil die Farbe abblättert. Bauarbeiter sind überall mit Pinsel und Zementkelle zugange, um Schäden auszubessern. An einer Mauer lehnt die Zwölftklässlerin Bea Popovici: offene Haare, dezent geschminktes Gesicht – für sie ist die Nobelpreis-Vergabe an Stefan Hell ein Freudentag:
"Also ich fühle mich sehr stolz an so einer Schule. Wir sind, glaube ich, die einzige Schule auf der Welt, die zwei Nobelpreisträger hat."
Bea Popovic zeigt auf die Wand gegenüber dem Klassenzimmer: Dort hängen zahlreiche Klassenfotos der zurückliegenden Abitur-Jahrgänge. Viele davon haben später Karriere gemacht, wie Stefan Hell und Herta Müller:
"Hier wird Wert gelegt auf den interaktiven Unterricht. Und ich glaube, das bringt den Schüler zum Denken. Und das bringt viel für die Zukunft. Soviel ich weiß, gibt es das nur in wenigen Schulen, weil viele rumänische Lehrer ansonsten nur Wert legen auf Lernen, also nicht mit den Schülern aktiv zu sein, nur Lernen und auswendig sagen…"
Paul Muntean, ein drahtiger Kerl mit einem verschmitzten Lächeln auf den Lippen, nickt zustimmend. Der Oberstufenschüler ist selbstbewusst – auch das ist eine Eigenschaft, die die deutschsprachige Schule im Westen Rumäniens vermittelt.
"Ich glaube, jeder von uns kann so einen Nobelpreis gewinnen. Also wenn ich sehr viel studieren werde, in 20 Jahren vielleicht….“
Zwei Nobelpreisträger aus einer Schule in Rumänien – das lässt auf mehr hoffen, so meinen viele, und schreiben ihr Kind auf die lange Warteliste zur Aufnahme am Lenau-Gymnasium Temeswar.
Es könnte ja der oder die nächste sein, die die begehrte Auszeichnung bekommt.